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Ungarn
Ungarn: Jetzt drohen Konsequenzen

Die Europäische Kommission aktiviert den Rechtsstaatsmechanismus gegen Ungarn
Orban
Victor Orbán, Ministerpräsindent von Ungarn © picture alliance / abaca | Blondet Eliot/ABACA

Die EU kämpft seit Jahren mit dem Problem der Erosion rechtsstaatlicher Normen in einigen ihrer Mitgliedsländer. Der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus erlaubt es der Europäischen Kommission, im Falle von Rechtsstaatlichkeitsverstößen, die die finanziellen Interessen der EU beeinträchtigen oder zu beeinträchtigen drohen, die Zahlungen von EU-Geldern auszusetzen oder Finanzkorrekturen zu unternehmen. Der Mechanismus wurde im Kontext der COVID-19-Pandemie entwickelt, als angemahnt wurde, dass die Mittel aus dem Wiederaufbaufond sowie aus dem mehrjährigen Finanzrahmen nicht Regierungen zugutekommen dürfen, die gegen die rechtsstaatlichen Prinzipien der EU verstoßen.

In Ungarn hatte damals eine Reihe von Gesetzentwürfen und Verfassungsänderungen, die ursächlich nichts mit Corona-Schutzmaßnahmen zu tun hatten und zudem unverhältnismäßig waren, klar die Notwendigkeit eines solchen Rechtsstaatsmechanismus aufgezeigt. Das Instrument der EU zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit umfasst das Justizsystem, den Rahmen für die Korruptionsbekämpfung, Medienpluralismus sowie sonstige institutionelle Fragen im Zusammenhang mit der Gewaltenteilung.

Nach Ansicht von Bürgerrechtsgruppen und internationalen Beobachtern versucht die Regierung von Premier Viktor Orbán, diese Grundpfeiler der Demokratie seit ihrem Amtsantritt im Frühjahr 2010 systematisch zu unterminieren. Die Rechtsstaatlichkeitskonditionalität für den Zugang zu EU-Geldern wurde vom Europäischen Parlament im Dezember 2020 gebilligt, doch ein Gerichtsstreit und politische Erwägungen veranlassten die Kommission, über ein Jahr zu warten, bevor sie letzte Woche den Rechtsstaatsmechanismus formell auslöste.

Kritik an mangelnder Rechtsstaatlichkeit in Ungarn

Ungarn werden systemische Fehler im öffentlichen Auftragswesen, das Versagen der für die Verwaltung und Kontrolle von EU-Geldern zuständigen Behörden sowie die Einschränkungen bei effektiven Ermittlungen und unabhängiger Strafverfolgung vorgeworfen. Laut dem aktuellen Bericht von Transparency International zum Korruptionswahrnehmungsindex, der den wahrgenommenen Grad der Korruption auf einer Skala von 0-100 angibt, wobei 0 für hochgradig korrupt steht, sei dieser in Ungarn auf einen historischen Tiefstand gesunken.

Der Bericht der Europäischen Kommission über die Rechtsstaatlichkeit 2021 zeigt die systemischen Probleme in Ungarn auf, die insbesondere unter dem Vorwand des Schutzes vor der Covid-19-Pandemie gediehen sind. Auch das Zentrum für Korruptionsforschung Budapest (CRCB) gab in seinem im Mai 2020 veröffentlichten Bericht an, dass Geschäftskreise, die bekanntermaßen Freunde des Ministerpräsidenten sind, während der Pandemie mehr öffentliche Gelder eingenommen hätten als jemals zuvor.

Das ungarische Parlament, in dem die rechtsnationale Fidesz-Partei von Premier Viktor Orbán nach den Parlamentswahlen im April 2022 wieder eine Zweidrittelmehrheit hat, hat während des pandemiebedingten Notstands eine Verfassungsänderung verabschiedet, mit der die ungarische Regierung die Definition von öffentlichen Geldern eingrenzte. Es wird befürchtet, dass die neue Definition die Korruptionsbekämpfung im Lande erheblich erschweren könnte, weil die Finanzmittel Staatsnaher Stiftungen der öffentlichen Kontrolle entzogen werden. Regierungskritiker befürchten, dass die Regierung durch diese Stiftungen in der Lage sein werde, öffentliche Gelder an Günstlinge weiterzuleiten, die die Gelder in private umwandeln.

Auch in diesem Jahr hat eine Reihe von ungarischen Nichtregierungsorganisationen einen gemeinsamen Beitrag zum Jahresbericht der Europäischen Kommission über die Rechtsstaatlichkeit vorgelegt. Ihr Bericht bietet einen verständlichen Überblick über die besorgniserregenden Entwicklungen in den vier Bereichen, auf die sich die Kommission konzentriert. In diesem Jahr wird die Europäische Kommission auch Empfehlungen für die einzelnen EU-Mitgliedstaaten formulieren, was die Beteiligung der ungarischen Zivilgesellschaft an diesem Prozess noch wichtiger als bisher macht.

 

Was sind die nächsten Schritte?

Die Europäische Kommission wird nun eine Rechtsgrundlage schaffen, die einen unanfechtbaren Zusammenhang zwischen dem Verstoß gegen das EU-Recht und dem EU-Haushalt herstellt. Es wird erwartet, dass die Kommission dabei einen besonderen Wert auf die Anomalien um die staatlichen Beschaffungen, die Missstände bei der Veräußerung von landwirtschaftlichen Nutzflächen und die mangelhafte Kooperation Ungarns mit dem EU-Betrugsbekämpfungsamt OLAF legen wird.

Falls die Kommission nach dem Kommunikationsaustausch mit Ungarn, der sich voraussichtlich über Monate hinziehen wird, der Meinung ist, dass das Fehlverhalten anhält und der gemeinsame Haushalt weiterhin gefährdet ist, kann sie eine Empfehlung zur Aussetzung von EU-Mitteln aussprechen. Die Empfehlung wird an die Mitgliedstaaten weitergeleitet, die einen Monat Zeit haben werden, sie zu diskutieren und darüber abzustimmen.

Der Rat der EU muss die eventuelle Kürzung oder Zurückhaltung von Haushaltsmitteln mit qualifizierter Mehrheit billigen, d. h. mindestens 15 EU-Länder müssen zustimmen, die mindestens 65 % der Gesamtbevölkerung der EU vertreten. Da der Konditionalitätsmechanismus noch nicht erprobt ist, bleibt noch unklar, über welchen Zeitraum sich die Umsetzung erstrecken wird.

Stark zu Hause, auswärts zunehmend isoliert

Es bleibt abzuwarten, ob die Entscheidung der Europäischen Kommission die Rhetorik der Orbán-Regierung gegen die EU noch weiter verschärfen wird. Eines ist klar: Auch mit diesem Schritt wird Orbán auf der europäischen Bühne zunehmend isoliert. Mit dem Austritt aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament im letzten Jahr hat die Regierungspartei Fidesz ihre bisher sichere Verhandlungsposition in den Entscheidungsprozessen im Europäischen Parlament verloren. Die EVP hat Orbán lange eine Plattform geliefert, um seine Interessen auf der europäischen Bühne voranzutreiben und ihm die Legitimation für seinen Umgang mit EU-Mitteln zu Hause zu verschaffen.

Nachdem Marine Le Pen die Präsidentschaftswahl in Frankreich verloren hat und der bisherige Ministerpräsident Sloweniens, Janez Janša, bei den kürzlich stattgefundenen Parlamentswahlen abgewählt wurde, musste Orbán seine bisherigen Hoffnungen auf eine rechtspopulistische Allianz europäischer Regierungen endgültig aufgeben.

Mit Russlands Krieg in der Ukraine wird die Spaltung zwischen Ungarn und Polen, dem einzigen Land, das Orbán im Europäischen Rat Rückendeckung geben könnte, offensichtlich. Polen hat die russische Aggression auf die Ukraine klar verurteilt und fordert schärfere Strafmaßnahmen gegen das Regime von Wladimir Putin. Auf der anderen Seite übt Orbán im Kontext des Krieges in der Ukraine einen komplizierten Balanceakt zwischen der EU und Russland, da er an einem Vertrag über kostengünstige russische Gaslieferungen festhalten möchte.

Nichtsdestotrotz erreichen die Diskussionen, die über Ungarn auf EU-Ebene geführt werden, die ungarischen Wähler kaum. Die ungarischen öffentlich-rechtlichen Medien, die unter Regierungskontrolle stehen, lenken die Aufmerksamkeit der Wähler von den Rechtsstaatlichkeitsproblemen im Lande ab. Zwar enthüllen investigative Journalisten immer wieder Korruptionsaffären um Orbán-Vertraute und seine Familie, aber auf dem Lande dominieren auf Regierungslinie gebrachte öffentlich-rechtliche und private Medien, was einmal mehr auf die enorme Kluft zwischen Land und Stadt hinweist.

Auf der anderen Seite blieb die vereinigte Opposition in Ungarn mit ihren Wahlkampfbotschaften zu weit von den wirklichen existenziellen Problemen und Bedürfnissen der Menschen auf dem Lande entfernt. Im Interview für die ungarische Wochenzeitung Magyar Hang sagte Anna Donáth, die Vorsitzende der liberalen Momentum-Bewegung, man hätte beim Wahlkampf nicht über die wirklichen Probleme gesprochen, denn die Frage "West gegen Ost" sei nicht das wirkliche Problem der einfachen Menschen. Das Wichtigste im Analyseprozess der Wahlniederlage der Opposition und deren Schlussfolgerungen sei für Donáth, dass jeder in der Opposition seine Anhänger aufrüttelt und die „unglaubliche Apathie“ unter den Ungarinnen und Ungarn beende.  

 

Toni Skorić ist Projektmanager für Mitteleuropa und die baltischen Staaten im Stiftungsbüro in Prag.