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EU-Gipfel
Viktor Orbáns Abwesenheit hinterlässt einen bitteren Beigeschmack

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban spricht mit den Medien, als er zu einem EU-Gipfel im Gebäude des Europäischen Rates in Brüssel eintrifft,

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban spricht mit den Medien, als er zu einem EU-Gipfel im Gebäude des Europäischen Rates in Brüssel eintrifft.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Virginia Mayo

Die Europäische Union nimmt Beitrittsgespräche mit der Ukraine auf, kann sich aber gleichzeitig nicht auf ein Hilfspaket für die Ukraine einigen. Der ungarische Ministerpräsident scheint seine Kolleginnen und Kollegen erfolgreich dazu gedrängt zu haben, die demokratische Seele der Europäischen Union zu verraten. Dabei kann es nicht bleiben.

In der vergangenen Woche haben uns die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine als "historisch" bezeichnete Vereinbarung über die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Ukraine und Moldau vorgelegt. Georgien solle den Status eines EU-Beitrittskandidaten bekommen, teilte der Ratspräsident Michel in Brüssel mit. Die historische Entscheidung, insbesondere ihre politische Bedeutung, ist nicht zu unterschätzen. Sie ist das bisher deutlichste Signal, dass die Aggression Putins gegen die Ukraine völlig kontraproduktiv war. Das allein wäre schon ein Grund zum Feiern, auch wenn wir wissen, dass die Verhandlungen langwierig und schwierig sein werden und dass es keine Erfolgsgarantie gibt.

Leider bleiben bei näherer Betrachtung viele Wenn und Aber.

Im Vorfeld der Sitzung des Europäischen Rates hatte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán angekündigt, sich sowohl gegen die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Ukraine als auch gegen ein 50-Milliarden-Euro-Hilfspaket für die Ukraine auszusprechen, die beide einstimmig beschlossen werden müssen.

Vor dem Treffen gab die Europäische Kommission rund 10 Mrd. Euro für Ungarn frei, die aufgrund der fortwährenden Verstöße Ungarns gegen die Rechtsstaatlichkeit blockiert waren, vermutlich, um die Stimmung Orbáns zu verbessern. Denn die notwendigen Änderungen wurden bisher nur auf dem Papier versprochen und sind noch nicht eingetreten. Die ungarische Oppositions-Europaabgeordnete Katalin Cseh sagte dazu: "Die gründliche Bewertung durch das Europäische Parlament hat eine deutliche Diskrepanz zwischen den vorgeschlagenen Reformen und den von der Kommission gesetzten Super-Meilensteinen im Justizbereich offenbart. Obwohl unter dem Druck der EU einige Fortschritte erzielt wurden, ist es offensichtlich, dass Ungarn derzeit nicht die Mindeststandards der Rechtsstaatlichkeit erfüllt".

Kaffeepause

Die erforderliche Einstimmigkeit zur Eröffnung der Beitrittsgespräche kam nur zustande, weil Viktor Orbán im entscheidenden Moment auf Vorschlag des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz den Sitzungssaal verließ, angeblich um eine Kaffeepause zu nehmen. Er hat also nicht abgestimmt. Orbán deutete später an, dass er in den kommenden Jahren noch genügend Gelegenheiten haben werde, sein Veto gegen den Beitritt der Ukraine einzulegen.

Bei dem 50-Milliarden-Euro-Hilfspaket für die Ukraine gab er jedoch nicht klein bei. Einzig seine Gegenstimme blockierte das Paket. Der Rat wird sich im Januar erneut mit diesem Thema befassen und hofft, Orbán entweder noch über die Dezemberfeiertage zu überzeugen oder mit den übrigen 26 Ländern ein separates Paket zu beschließen. Es stellt sich daher die Frage, ob die Freigabe der 10 Mrd. Euro für Ungarn überhaupt etwas gebracht hat.

Tatsächlich erklärte Orbán, dass er der Freigabe weiterer Gelder für die Ukraine nicht zustimmen wird, solange nicht noch weitere 20 Mrd. Euro an blockierten Geldern für Ungarn freigegeben werden. Diese werden derzeit u. a. wegen der Korruptionsfälle zurückgehalten. Im Europäischen Parlament würde dies allerdings auf großen Widerstand stoßen. Der deutsche liberale Europaabgeordnete Moritz Körner kommentierte: "Wir können Viktor Orbán nicht die Möglichkeit geben, korrupt abgezweigte EU-Gelder zu nutzen, um seinen Oligarchenstaat am Leben zu erhalten. Es wäre sinnvoller gewesen, die Hilfe für die Ukraine ohne Ungarn zu organisieren oder Ungarn im Rahmen des Artikel 7-Verfahrens das Stimmrecht zu entziehen, wie es das Europäische Parlament seit langem fordert".

Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte sagte zwar, dass es "...nicht zur Norm werden würde", Einstimmigkeit durch Kaffeepausen einzelner, ausgewählter Teilnehmer zu erreichen, aber wir wissen, wie schwer es ist, eine einmal eingeführte Praxis abzuschaffen. Wenn die Beschlüsse komplizierter sind, wird dann das betreffende Staatsoberhaupt des blockierenden Landes aufgefordert, eine lange Dusche oder gar ein Bad zu nehmen?

Geteilt

Letzten Endes kann sich Viktor Orbán als moralischer Gewinner dieser Episode betrachten. Selbst Russlands Präsident Putin kann sich damit trösten, dass sich die Europäische Union in dieser entscheidenden Frage gespalten zeigt. Die Nähe Orbáns zu Putin ist schon schlimm genug. Ihr öffentlichkeitswirksamer Händedruck im vergangenen Oktober in Peking hat in vielen europäischen Hauptstädten zu Verärgerung, wenn nicht gar Wut geführt.

Angesichts des fast schon faustischen Dilemmas zwischen der Unterstützung der Freiheit für die Ukraine oder der Wahrung der bürgerlichen Freiheiten im EU-Mitgliedstaat Ungarn entschied sich der Rat für die Unterstützung der Ukraine. Schließlich kämpft die Ukraine nicht nur für sich selbst, sondern für die Freiheit ganz Europas. Man kann jedoch genauso gut argumentieren, dass dies ein falsches Dilemma ist und dass sowohl die Freiheit der Ukraine als auch die bürgerlichen Freiheiten Ungarns hätten geschützt werden müssen. Welche Glaubwürdigkeit bleibt schließlich übrig, wenn die Interessen der EU-Bürger nicht an erster Stelle stehen, und welches Signal geht von ihr an die Länder aus, die derzeit auf einen Beitritt zur Union warten?

Orbáns Erfolg macht eine Strategie der Obstruktion für jeden anderen Mitgliedstaat, der noch eine Rechnung offen hat, sicherlich attraktiver. Es ist daher von größter Bedeutung, dass Orbáns Strategie nicht aufgeht. Am besten wäre es natürlich, die Einstimmigkeit ganz abzuschaffen. Doch da es dafür eine Änderung der europäischen Verträge braucht, ist dies in nächster Zeit unwahrscheinlich. Die von Moritz Körner erwähnte Berufung auf Artikel 7, die letztlich zum Entzug des Stimmrechts eines Landes führen könnte, ist allerdings ohnehin längst überfällig und sollte am besten gestern geschehen.

Und schließlich sollten die restlichen Mitgliedsstaaten Viktor Orbán bei jeder Gelegenheit, bei der er etwas von der EU braucht, das Leben so schwer wie möglich machen und ihr Veto nutzen.  Wie seine politischen Freunde in anderen Ländern, z. B. Marine Le Pen und Geert Wilders, stellt er sich selbst abseits von der üblichen Arbeitsweise und rechtfertigt daher auch eine andere Arbeitsweise auf politischer Ebene. Die EVP/Merkel-Methode des Flickschusterns hat eindeutig nicht funktioniert.

In dem kleinen Drama der vergangenen Woche ging es nicht nur um die Beitrittsgespräche mit der Ukraine, sondern um die Bewahrung der Seele der Europäischen Union als Leuchtturm der Freiheit, der Bürgerrechte und des Rechtsstaates. Deshalb hinterlässt die scheinbar kluge Idee von Bundeskanzler Scholz, Viktor Orbán solle eine Kaffeepause einlegen, einen bitteren Beigeschmack.

Jules Maaten, FNF Regionalbüroleiter Brüssel.