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Pressefreiheit
Tausende demonstrieren für Pressefreiheit in Ungarn

Demonstrationen für Pressefreiheit in Budapest
Demonstrationen für Pressefreiheit in Budapest © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Zsolt Szigetvary

Die Besorgnis bezüglich der Vielfalt der unabhängigen Medien in Ungarn nimmt zu, nachdem sich ein regierungsnaher Unternehmer in die Geschäfte des größten, noch unabhängigen Nachrichtenportals des Landes eingekauft hatte. Seit Wochen warnten die Mitarbeiter des Portals, dass ihre Unabhängigkeit gefährdet ist. Nach der Entlassung des Chefredakteurs reichten mehr als 80 Mitarbeiter ihre Kündigung an. Tausende Ungarn gingen in Budapest auf die Straße und protestierten gegen die Einflussnahme der Regierung auf Medien.

„Index.hu“, Ungarns meistgelesene Nachrichtenwebseite, gilt allgemein als der letzte große, reichenweitenstarke und unabhängige Akteur in den ungarischen Medien. Das liberale Onlineportal erreichte täglich fast eine Million Leser in einem Land mit knapp 10 Millionen Einwohnern und hatte sich den Ruf erarbeitet, unangenehme Fragen zu stellen und Entscheidungsträger öffentlich zur Rechenschaft zu ziehen.

Ende März hat Miklós Vaszily, ein Geschäftsmann, der der Regierungspartei „Fidesz“ und Ministerpräsident Viktor Orbán nahesteht, eine 50-prozentige Beteiligung an einer Firma übernommen, die das Anzeigengeschäft von index.hu abwickelt. Als Orbán-Loyalist war er bereits maßgeblich daran beteiligt, aus der einst unabhängigen Internet-Nachrichtenwebseite Origo.hu, einem Konkurrenten von Index.hu, ein regierungsnahes Sprachrohr zu machen.

Nachdem Szabolcs Dull, Chefredakteur von Index.hu, gegen die geplante Umstrukturierung des Verlags protestierte und das so genannte Unabhängigkeits-Barometer der Webseite von „unabhängig“ auf „gefährdet“ umstellte, wurde er entlassen. Dull wurde vorgeworfen, er habe interne Dokumente an andere Medien geleitet. Mehr als 80 Journalisten und Mitarbeiter von Index.hu traten daraufhin aus Protest zurück. Sie nannten die Entlassung ihres Chefredakteurs einen offenen Versuch, das Medium durch eine Umstrukturierung der Redaktion zu einer regierungsfreundlicheren Berichterstattung zu bringen.

Am Freitag protestierten in Budapest mehrere Tausend Ungarn für die Pressefreiheit und den Fortbestand des Portals Index.hu. Die Solidaritätskundgebung, zu der die liberale Partei „Momentum“ aufgerufen hatte, fing vor dem Sitz der Index.hu-Redaktion an und führte zum Karmelitenkloster auf der Burg, dem Amtssitz von Premier Viktor Orbán.

„Dieser brutale Angriff der ungarischen Regierung auf die Presse wird nicht unbeantwortet bleiben“ erklärte Katalin Cseh, Europaabgeordnete der Partei „Momentum“. „Mit unseren europäischen Verbündeten werden wir unermüdlich daran arbeiten, die Medienfreiheit wiederherzustellen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.“

Systematische Aushöhlung der Pressefreiheit

Die Vorgänge um Index.hu sind ein weiteres Glied in der Kette einer systematischen Strategie: In den vergangenen zehn Jahren haben Gefolgsleute der rechtskonservativen Regierung unter Viktor Orbán nach und nach die Kontrolle über die unabhängigen Medien in Ungarn übernommen.

Im Jahre 2016 wurde „Népszabadság“, die auflagenstärkste überregionale Tageszeitung Ungarns, über Nacht zugesperrt und verkauft. Origo.hu, eines der führenden unabhängigen Nachrichtenmagazine in Ungarn, wurde nach seinem Verkauf durch die ungarische Telekom im Jahre 2015 auf Regierungslinie gebracht. Laut unabhängigen Studien stehen mittlerweile fast 80 Prozent des ungarischen Nachrichtenmarkts mehr oder weniger direkt unter Regierungskontrolle.

Im Jahr 2010, als Orbán die Parlamentswahlen gewann, belegte Ungarn den 23. Platz in der Rangliste der Pressefreiheit, die jährlich von der Nichtregierungsorganisation „Reporter ohne Grenzen“ veröffentlicht wird. Heute steht Ungarn auf Platz 89. „Freedom House“ stufte in diesem Jahr Ungarn vom Status einer „Demokratie“ zu einem „hybriden Regime“ herab.

Orbáns selbsterklärter Sieg

Orbán befindet sich wegen seiner Versuche, das Konzept einer „illiberalen Demokratie“ in Ungarn zu verankern und in die Region zu exportieren, schon seit langem in einem Konflikt mit den Institutionen der Europäischen Union. Das Europaparlament eröffnete im Jahre 2018 ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags gegen Ungarn. Als zentrale Bedenken führte die Volksvertretung die Unabhängigkeit der Justiz, Meinungsfreiheit, Korruption, Rechte von Minderheiten und die Situation von Migranten und Flüchtlingen ins Feld.

Dieser Monat gab Věra Jourová, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission und zugleich Kommissarin für Werte und Transparenz, eine Erklärung zur Unterstützung des Nachrichtenportals Index.hu ab. „Wirtschaftlicher Druck sollte nicht zu politischem Druck werden“, sagte sie und wies auf die finanziellen Engpässe hin, denen Medien während der Corona-Krise ausgesetzt waren. Sie sagte, die Werte, für die Index.hu stand, seien „wesentlich für die Demokratie.“

Beim in der vergangenen Woche stattgefundenen Europäischen Rat zum Corona-Aufbaufonds und dem kommenden Mehrjährigen Finanzrahmen schoben die Staats- und Regierungschefs der EU eine Einigung über einen Rechtstaatsmechanismus zur Bindung der Finanzhilfen an rechtsstaatliche Standards auf. Diese Kompromisslösung wird von politischen Analysten als eine Ermutigung für den bisherigen Kurs des ungarischen Premierministers Orbán ausgelegt.

Nach dem Gipfeltreffen sagte Viktor Orbán, Ungarn und Polen hätten einen „großen Sieg“ gegenüber anderen EU-Ländern errungen, die versuchten, rechtsstaatliche Garantien mit einem neuen Budget und einem neuen Corona-Hilfspaket zu verknüpfen. Die auf dem Gipfel verabschiedete Erklärung enthält einen Passus zur Rechtsstaatlichkeit, der so vage ist, dass er nur schwerlich als eine entschlossene Forderung zur Einhaltung europäischer Werte betrachtet werden kann. Diese vage Formulierung hat eindeutig die falsche Botschaft nach Ungarn gesandt, wie man jetzt sieht. Die Botschaft, die rund um die „feindliche Übernahme“ von Index.hu stärker denn je gesendet werden muss, ist klar: Ein freies Land braucht freie Presse. Und um die ist es in Ungarn leider schlechter bestellt denn je.

Toni Skorić ist Projektmanager für Mitteleuropa und die baltischen Länder im Projektbüro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Prag.