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Ungarn
Demokratie auf Abwegen

Was ist seit der Verabschiedung des umstrittenen Notstandgesetzes in Ungarn passiert?
Viktor Orbán
© picture alliance / AA

Das vom ungarischen Parlament am 30. März verabschiedete „Coronavirus-Gesetz“ ermöglicht dem Ministerpräsidenten Viktor Orbán unbegrenzt per Dekret zu regieren und setzt Wahlen und Volksabstimmungen aus. Mit der Verabschiedung des Notstandsgesetzes hatte sich das von Orbáns rechtskonservativer Fidesz-Partei kontrollierte Parlament selbst entmachtet und damit die Demontage der Demokratie weiter vorangetrieben. Der Abbau von Grundfreiheiten in Ungarn ist an allen Fronten zu beobachten. Eine Chronik der Ereignisse.

Am 31. März legte die ungarische Regierung dem Parlament einen Gesetzentwurf vor, der es unter anderem Transgender-Personen unmöglich machen würde, das bei der Geburt eingetragene Geschlecht später legal zu ändern. Menschenrechtsaktivisten befürchten, dass der Gesetzesentwurf die Diskriminierung und Intoleranz gegenüber Transgender-Personen erhöhen wird. Viele Transgender-Personen würden versuchen, das Land zu verlassen, während diejenigen, die diese Möglichkeit nicht haben, täglichen Demütigungen ausgesetzt seien. Am 19. Mai hat das Parlament mit 134 Ja-Stimmen, 56 Gegenstimmen und 4 Enthaltungen das Gesetz beschlossen. Das Gesetz muss noch vom Staatspräsidenten János Áder, einem engen Verbündeten von Orbán, unterzeichnet werden.

Am 8. April legte die Regierung einen Gesetzesentwurf vor, durch den Dokumente im Zusammenhang mit dem Ausbau der Bahnstrecke zwischen Budapest und Belgrad für zehn Jahre als „geheim“ eingestuft werden - angeblich um die nationalen Interessen zu schützen. Das Eisenbahnprojekt soll hauptsächlich von China im Rahmen der Initiative „Neue Seidenstraße“ umgesetzt und finanziert werden, die ein Handelsnetzwerk zwischen Asien, Afrika und Europa spannen soll. Die Kosten für die Verbindung Budapest-Belgrad belaufen sich auf zwei Milliarden Euro, was die teuerste Eisenbahninvestition in der Geschichte Ungarns ist. Die ungarische Seite des Projekts wird von einem ungarisch-chinesischem Konsortium ausgeführt, zu dem auch die Holdinggesellschaft Opus Global gehört, die von Lőrinc Mészáros, einem engen Freund des ungarischen Premierministers Viktor Orbán, kontrolliert wird. Der Gesetzesentwurf wurde am 19. Mai verabschiedet.

Am 5. Mai blockierte das Parlament, in dem die Regierungspartei Fidesz eine Zweidrittelmehrheit besitzt, die Ratifizierung des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Inmitten eines beunruhigenden weltweiten Anstiegs der Berichte über häusliche Gewalt im Zuge der in der Corona-Krise verhängten Ausgangssperren lehnte Ungarn die Ratifizierung der sogenannten Istanbuler Konvention ab, weil dies "destruktive Geschlechterideologien" und "illegale Einwanderung" fördern könnte.

Am 6. Mai erschien der jüngste Bericht der Nichtregierungsorganisation Freedom House, in dem der Grad an Freiheit und Demokratie in Staaten auf der ganzen Welt untersucht wird. Ungarn wird in dem Bericht als ein "hybrides Regime" eingestuft, das seinen Status als "halbkonsolidierte Demokratie" aufgrund der kontinuierlichen Angriffe von Premierminister Viktor Orbán auf die demokratischen Institutionen des Landes verloren hat. Die Verabschiedung des Notstandsgesetzes, das es der Regierung ermöglicht, per Dekret auf unbestimmte Zeit zu regieren, "hat den undemokratischen Charakter des Orbán-Regimes weiter entlarvt", schrieben die Autoren und fügten hinzu, dass "Ungarn den steilsten Niedergang erfährt, den sie je verfolgt haben."

Auch die Generalsekretärin des Europarates, Marija Pejčinović Burić, äußerte ihre Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen des Notstandsgesetzes: „Ein unbestimmter und unkontrollierter Notstand kann nicht garantieren, dass die Grundprinzipien der Demokratie eingehalten werden, und dass die Maßnahmen, die grundlegende Menschenrechte einschränken, in einem ausgewogenen Verhältnis zu der Bedrohung stehen, die sie bekämpfen sollen". Die Außenminister Dänemarks, Finnlands, Islands, Norwegens und Schwedens schrieben in einem Brief vom 6. Mai, dass sie "die von Burić geäußerten Bedenken teilen". "Auch in einer Notsituation muss die Rechtsstaatlichkeit Vorrang haben", schrieben die Außenminister. Daraufhin bestellte der ungarische Außenminister Péter Szijjártó die akkreditierten Botschafter der nordeuropäischen Staaten am 11. Mai ein. Szijjártó sagte, Ungarn wolle keine „erbärmliche, heuchlerische Bevormundung“ von diesen Ländern.

In derselben Woche wurden die ersten Personen, die im Internet kritische Kommentare zur Regierung von Viktor Orbán veröffentlichten, festgenommen und beschuldigt, „falsche Informationen während einer Pandemie verbreitet zu haben". Dem ungarischen Notstandsgesetz zufolge drohen für die Verbreitung falscher Berichte sowohl über die Pandemie als auch über das Handeln der Regierung bis zu fünf Jahren Haft.

Am Dienstag, dem 12. Mai, wurde ein 64-jähriger Mann im Nordosten Ungarns stundenlang wegen eines im vergangenen Monat auf Facebook veröffentlichten Beitrags festgehalten, in dem er die Notstandsmaßnahmen der Regierung kritisiert hatte.

Am Mittwoch, dem 13. Mai, hat János Csóka-Szűcs, Mitglied der liberalen Momentum-Partei in Südungarn, in einem Social-Media-Post die von der Regierung angeordnete Räumung von Krankenhausbetten für Coronavirus-Infizierte thematisiert. Sein Facebook-Kommentar erschien am Tag der „Autohupen-Proteste“ gegen Krankenhausumstrukturierungen und Missmanagement der Regierung in der Corona-Krise. Csóka-Szűcs schrieb, dass 1.170 Krankenhausbetten in seiner Stadt Gyula geräumt wurden - eine Aussage, die später auch als zutreffend bestätigt wurde. Er wurde vier Stunden lang festgehalten, weil er angeblich "die Bemühungen zur Bekämpfung der Pandemie behindert" habe. Oppositionelle Politiker erklärten ihre Solidarität und demonstrierten für die Bürger, die wegen angeblicher Verbreitung von Falschinformationen festgenommen wurden. Beide Festgenommenen sind wieder in Freiheit. Die Staatsanwaltschaft hat bestätigt, dass sich die Polizei in beiden Fällen geirrt hat. Kanzleramtsminister Gergely Gulyás sagte daraufhin: "In einem Rechtsstaat passieren solche Dinge. Die Behörden machen Fehler. Wenn ein solcher Fehler dazu führt, dass jemand festgenommen wird, kann eine Entschädigung anfallen.“

Am 14. Mai entschied der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), dass die Unterbringung von Asylbewerbern im ungarischen Container-Lager Röszke nahe der serbischen Grenze rechtswidrig ist. Die Richter in Luxemburg befanden, die Bedingungen in dem Lager glichen einer Inhaftierung. Der Fall wurde von ungarischen Richtern in der südlichen Stadt Szeged vor das oberste Gericht der EU gebracht. Die rechtsnationale Regierung kündigte daraufhin an, dem Urteil des EuGH nachzukommen und die umstrittene Transitzonen zu schließen. Gleichzeitig beschuldigte Viktor Orbán den EuGH, Ungarn dazu zu drängen, illegale Migranten in das Land zu lassen. Im Zweifelsfall habe die ungarische Verfassung Vorrang vor dem EuGH-Urteil, sagte der Ministerpräsident. Der strenge Grenzschutz in Ungarn wird aber bleiben. Asylantragstellung wird an den diplomatischen Vertretungen möglich sein.

Am selben Tag debattierte das Europäische Parlament erneut über die Lage der Bürgerrechte in Ungarn, wobei das ungarische „Corona-Gesetz“ im Mittelpunkt stand. Einige Abgeordnete forderten, ein weiteres Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn wegen Verletzung der Grundrechte einschließlich der Meinungsfreiheit einzuleiten. Einige schlugen auch vor, dass die EU-Finanzierung von der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit abhängig gemacht werde. Der Antrag der ungarischen Justizministerin, Judit Varga, Ungarn in der Debatte zu vertreten, wurde abgelehnt. Parlamentspräsident David Sassoli bekräftigte, Premierminister Orbán sei der einzige ungarische Regierungsvertreter, der gemäß der Geschäftsordnung vor der Versammlung sprechen könne. Viktor Orbán entgegnete daraufhin, er sei zu beschäftigt, um an der Debatte zu den Corona-Notstandsgesetzen in Ungarn teilzunehmen. Bei seinem letzen Staatsbesuch in Serbien am 14. Mai teilte Viktor Orbán der Presse mit, dass die ungarische Regierung in Aussicht gestellt habe, ihre Notstandsbefugnisse an das Parlament zurückzugeben. Die Abstimmung über die Aufhebung des Notstandes findet vermutlich erst in der Woche nach Pfingsten statt.

Demokratie auf dem Prüfstand

Da die kritische Auseinandersetzung mit den Regierungsmaßnahmen während der Corona-Krise in Ungarn unterdrückt wird, ist es nun wichtiger denn je über die demokratische Situation in Ungarn zu berichten und diese zu beobachten.

Die EU-Kommissarin für Werte und Transparenz, Věra Jourová, sagte: "Die allgemeinen Ausnahmezustände mit Sonderbefugnissen, die den Regierungen gewährt worden sind, sollten schrittweise abgeschafft oder durch gezieltere und weniger beeinträchtigende Maßnahmen ersetzt werden".

Sie fügte hinzu, der ungarische Fall werfe besondere Bedenken auf und die Europäische Kommission prüfe täglich, ob sie rechtliche Schritte einleiten könne.

Der Vorsitzende der liberalen Renew-Europe-Fraktion im Europäischen Parlament, Dacian Cioloș, fordert: „Die Europäische Kommission sollte einen angemessenen Mechanismus vorschlagen, um sicherzustellen, dass bis zur Wiederherstellung der Demokratie in Ungarn alle EU-Mittel, die den ungarischen Bürgern zugutekommen, direkt von EU-Institutionen verwaltet werden. Sie sollte auch eine spezielle Arbeitsgruppe einrichten, um die demokratische Situation in Ungarn dauerhaft zu bewerten und zu beobachten.“

Der ungarische Fall belegt die Wichtigkeit einer kontinuierlichen Beobachtung und Berichterstattung über Regierungsmaßnahmen und betont auch die Schlüsselrolle von Medien, Kommunikation, Bildung und Zugang zu Informationen in der aktuellen Situation.

 

Toni Skorić ist Projektmanager für Mitteleuropa und die baltischen Länder im Stiftungsbüro in Prag.