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"Der Kontrollverlust verstört die Menschen"

Interview mit Ulrike Ackermann
Populismus, Kontrollverlust

"Der Populismus mag derzeit in einer Art Zwischentief stecken. Das bedeutet jedoch nicht, dass irgendeines der Probleme vom Tisch ist."

© gratisography / Ryan McGuire

Dieser Artikel ist zuerst im liberal-Magazin erschienen. Das Heft können Sie auch online bestellen

Die westlichen Demokratien zeigen sich wehrhafter gegen populistische Strömungen, als vor Kurzem noch zu befürchten stand. Doch mögen die Feinde der Demokratie derzeit auch geschwächt sein, ändert das wenig an den Ursachen der zunehmenden Entfremdung zwischen Bürgern und Politik, warnt die renommierte Soziologin Professor Dr. Ulrike Ackermann, Direktorin des in Heidelberg gegründeten John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung.

Frau Professorin Ackermann, Donald Trump hat verheerende Umfragewerte und agiert immer kopfloser. Theresa May hat sich verzockt. Den Niederlanden blieb Geert Wilders erspart. Europas Shootingstar Emmanuel Macron hat Marine Le Pen verhindert. Und hierzulande demontiert sich die AfD selbst. Ist der weltweite Populismus damit schon wieder am Ende?

Diese Hoffnung muss ich Ihnen nehmen. Der Populismus mag derzeit in einer Art Zwischentief stecken. Das bedeutet jedoch nicht, dass irgendeines der Probleme, das für den globalen Aufstieg der Populisten auch in westlichen Nationen sorgte, vom Tisch ist. Ich mache mir ziemliche Sorgen um den Zustand und die Zukunft der Weltpolitik. Nur ein Beispiel, das zeigt, wie fragil die Lage ist: Trotz des Siegs des liberalen Kandidaten Macron haben 40 Prozent der Franzosen bei der Präsidentschaftswahl radikal links oder rechts gewählt. Macron hat inzwischen eine satte Mehrheit im Parlament gewonnen. Doch das Land ist gespalten. Die alte politische Klasse ist in Frankreich und andernorts abgewählt und abgestraft worden. Etwas Neues entsteht, ein Aufbruch, das ist sehr erfreulich! Nur sollte sich niemand zu früh freuen, dass das jetzt automatisch alles gut wird.

Was macht Sie so nachdenklich?

Der Islamismus bleibt eine Gefahr. Putin wird mit seiner Desinformations- und Destruktionspolitik den Westen weiter zersetzen wollen. Und die Türkei zieht eine ganze Region mit in die Krise. Kurzum: Der Westen bleibt verletzlich und wird immer angreifbarer. Zu den wachsenden außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen kommen die Erosionsprozesse von innen: Donald Trump hat keinerlei Interesse mehr am Zusammenhalt des Westens. Alte Bündnisse und Freundschaften lösen sich auf. All das gefährdet die liberale Weltordnung, wie wir sie kennen und schätzen. Ich vertraue den Checks and Balances in den USA. Dennoch kann Trump die USA massiv erschüttern und nachhaltig schädigen mit seiner egozentrischen, bisweilen schizophrenen Politik. Das Gute an Trump und dem Brexit: Das könnten – langfristig betrachtet – auch heilsame Schocks sein. Denn sie rufen eine Gegenbewegung hervor. Mehr und mehr Menschen wird klar, wie fragil liberale Strukturen und Werte doch sein können. Die Ordnung nach 1945 war eben doch kein Selbstläufer.

Können Sie uns erklären, warum der Populismus wieder salonfähig geworden ist? Gibt es die eine Ursache – die Angst vor Überfremdung, die Furcht vor dem Islam, die Angst vor dem eigenen gesellschaftlichen Abstieg?

Es gibt nicht die eine Ursache für den Aufstieg der Populisten.

Ulrike Ackermann
Ulrike Ackermann, Direktorin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung

Ein ganz wichtiger Punkt in den USA ebenso wie in Europa ist, dass die Kluft zwischen Bevölkerung und Funktionseliten immer größer geworden ist. Das mündet in einen regelrechten Hass gegen „die da oben“, den Populisten aufgreifen und zu ihren Zwecken weiter schüren. Erstaunlich finde ich: Früher kam die Elitenkritik meist von links, heute kommt sie überwiegend von rechts. Viele Rechtspopulisten wollen weniger Markt, mehr Staat und verfolgen ökonomisch nationalsozialistische Ziele. Dazu kommen rechte Positionen in Fragen von Gesellschaft und Familie, etwa die Ablehnung von Homosexuellen.

Welche Rolle spielt das zunehmende Stadt-Land-Gefälle?

Eine große. Die Kluft zwischen Land und Stadt in den westlichen Industriestaaten wird immer größer. Das befördert populistische Tendenzen. Die Eliten rekrutieren sich weitgehend aus den großen Städten, isolieren sich dort und verlieren den Blick für die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen in der „Provinz“ aus den Augen. Denken Sie nur an das Inseldasein Londons im Vergleich zum Rest Großbritanniens. Auch in Spanien, in Italien, Frankreich, Polen und selbst etwas abgeschwächter hier in Deutschland wächst die Kluft zwischen Stadt und Land. Dazu kommt ein Misstrauen gegen die Leitmedien, denen eine zu enge Nähe zu den Eliten vorgeworfen wird.

Der Grundkonflikt lautet also: reiche Städter gegen armes Landvolk?

Das Misstrauen hat nicht allein wirtschaftliche Gründe. Klar gibt es manchen Globalisierungsverlierer. Aber die Menschen auf dem Land und an den Rändern der Städte sind nicht zwingend ärmer. Sie fühlen sich vor allem abgeschnitten, nicht mehr gehört und mit ihren Werten nicht mehr repräsentiert von den Eliten, die sich längst als Kosmopoliten fühlen. Hinter der Anfälligkeit für simple Botschaften verbirgt sich vor allem die Angst, das eigene Leben nicht mehr selbst steuern zu können und permanent mit neuen Herausforderungen konfrontiert zu werden. Es ist die Wahrnehmung des eigenen Kontrollverlusts, der die Menschen verstört. All das kumulierte in Europa im Zuge der Flüchtlingskrise: Da kamen auf einen Schlag Hundertausende Menschen aus einem fremden Kulturkreis. Das überforderte die Menschen – und sichtbar auch die politische Elite.

Und da schlug die Stunde der Populisten?

Genau. Verunsicherte Bürger reagieren auf den Kontrollverlust mit Abwehrhaltung: Sie folgen eingängigen, simplen Botschaften, suchen – um Bob Dylan zu zitieren – „shelter from the storm“, was – dies sei am Rande gesagt – auch erklärt, warum heute immer mehr Bürger in panzergleichen SUVs über Deutschlands Straßen fahren. Wenn ich die Welt nicht mehr verstehe, dann schütze ich mich wenigstens vor ihr. Und mache es mir auf meiner eigenen Scholle schön. Sichtbar wird das auch im Wiederentdecken des Gartens und der Gartenarbeit, die sich im Siegeszug von Magazinen wie Landlust manifestiert.

Wie kann eine liberale Politik aussehen, die den Populisten Einhalt gebietet, die Sorgen und Nöte der Menschen dahinter aber ernst nimmt?

Liberale müssen erkennen, dass es Grenzen der Freiheit gibt. Es gibt eine Gegenreaktion der Angst. Die Leute sind längst nicht mehr sicher, dass es ihren Kindern später mal besser gehen wird. Entwicklungsprozesse lösen auch immer Angst aus. Das müssen Politiker berücksichtigen. Paternalismus wäre der falsche Weg. Politiker, auch Liberale, dürfen nicht nur auf die Ratio pochen, sondern müssen die Sorgen und Nöte der Leute ernst nehmen und die Bevölkerung auch emotional mit auf die gemeinsame gesellschaftliche Reise nehmen. Fortschritt, Aufklärung, der Weg in die Freiheit – all das sind nicht nur rationale Prozesse, sondern sie schließen auch immer ein irrationales Motiv ein. Das haben die politischen Eliten in der Vergangenheit vernachlässigt, auch die Liberalen. Die neue Sehnsucht nach Gemeinschaft ist auch eine Reaktion auf die stärkere Individualisierung und die steigende Freiheit des Einzelnen. Sein Leben eigenverantwortlich selbst in die Hand zu nehmen macht nicht nur glücklich, sondern ist auch anstrengender, als geführt zu werden.

Welcher Kitt hält unsere westlichen Gesellschaften eigentlich noch zusammen? Braucht es vielleicht nicht doch so etwas wie eine „nationale Leitkultur“?

Ich selbst würde den Begriff Leitkultur nicht verwenden, finde die Diskussion, um die es dabei geht, aber richtig und wichtig. Wir müssen eine öffentliche Debatte darüber führen können, was wir wollen und was wir nicht wollen. Ob es etwa richtig ist, dass eine deutsche Richterin ein Kopftuch tragen darf. Wir müssen öffentlich darüber diskutieren können, ob es richtig ist, dass einer deutschen Frau bei einem öffentlichen Empfang hier in unserem Land von einem führenden Vertreter des Islam nicht die Hand gegeben wird. Darüber müssen wir reden und uns als Gesellschaft verständigen. Ich sehe eine große Chance für Liberale in dieser Krise, wenn sie Liberalismus eben nicht nur wirtschaftlich definieren. Persönliche Freiheit und das Recht auf Bildung sind die entscheidenden Antworten auf die immensen Herausforderungen der Gegenwart.

Was kann das Bürgertum selbst für den Fortbestand der Demokratie tun?

Ich empfinde etwa die proeuropäischen Demonstrationen von Pulse of Europe als ein sehr bereicherndes, positives Element. Gut, manche Forderung mag etwas naiv klingen, aber die Grundidee ist doch überzeugend: Da gehen engagierte Bürger für eine gute Sache auf die Straßen und erheben ihre Stimmen. Ich habe mir hier in Frankfurt, wo ja alles begann mit Pulse of Europe, auch einige Demos angeschaut. Auffallend ist, dass da eine ganz bunte Mischung demonstriert, die man sonst so nie sieht oder gesehen hat auf Demonstrationen. Und, glauben Sie mir, ich war in meinem Leben schon auf vielen Demonstrationen. Diese Leute wiederentdecken den öffentlichen Raum – und überlassen ihn zum Glück nicht den Demagogen und Verführern von links und rechts.

Brauchen wir nun mehr oder eher weniger Europa, um die Bevölkerung mit den Eliten wieder zu versöhnen? Der Schrei nach einem europäischen Bundesstaat wird gerade nach dem doppelten Wahlsieg Macrons wieder vernehmbarer.

Das sollten nun alle gelernt haben nach Brexit und Co: Ein „Weiter so“ kann es in Europa nicht geben. Eine weitere Zentralisierung in Europa löst doch die Probleme nicht. Europa muss seine Hausaufgaben machen, vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik, dazu zähle ich auch eine verstärkte militärische Zusammenarbeit der Europäer, denn die US-Amerikaner werden ja immer unsicherere Kantonisten. Das ist für Europa wichtig. Nicht aber die Normierung von Bananen oder Bierbraurezepten. Wir brauchen weder den europäischen Bundesstaat noch eine Weltregierung. Die Diffusion der Macht, weg vom nationalen hin zum supranationalen Parlament im fernen Straßburg, ist doch eine zentrale Ursache für den Bruch zwischen Politikern und Volk.

Brauchen wir mehr direkte Demokratie?

Das löst die Probleme nicht und ist nur Wasser auf die Mühlen der Populisten. Eine direkte Demokratie führt gerade nicht zum Willen des Volkes, das hat John Stuart Mill bereits nachdrücklich herausgearbeitet. Eine repräsentative, parlamentarische Demokratie ist die einzige Möglichkeit, Autokraten zu verhindern. Dazu gehört aber auch, dass das Parlament als Bühne der Debatte wieder gestärkt wird. Politik muss raus aus den Fachausschüssen, den Hinterzimmern, den Talkshows, hinein ins Parlament. Nur noch bei wenigen moralpolitischen Themen wie Sterbehilfe, bei denen ohne Fraktionszwang leidenschaftlich debattiert wird, erleben wir noch Sternstunden des Parlaments.

Der US-Philosophieprofessor Jason Brennan nennt in seinem jüngst erschienenen Buch „Gegen Demokratie“ Wähler „Hobbits“. Er plädiert für eine Epistokratie und will in dieser Herrschaft der Wissenden nur die informierten Bürger wählen lassen. Ein Modell mit Zukunft?

Das wäre Paternalismus und der völlig falsche Weg. All das befördert ja gerade nicht selbstständiges Denken. Der Schlüssel dafür, mehr Menschen mit der Gesellschaft zu versöhnen und sie zu aktiven Staatsbürgern zu machen, liegt einzig und allein im Faktor Bildung, nicht in der wohlmeinenden Bevormundung. Das wäre die Hybris der Elite.

Lügen und Fake News gehören heute zum politischen Tagesgeschäft. Wird der Segen des Internets, der jederzeitige Informationszugang für alle, damit dauerhaft zum Fluch und vielleicht sogar Sargnagel unserer westlichen Demokratie?

Sicherlich ist hier und da ein Knigge-Ratgeber für den fairen Dialog im Internet wünschenswert. Aber ich warne davor, dass der Staat hier aktiv oder gar ein Ministerium für Wahrheit eingerichtet wird. Das sollten die Netzbetreiber und vor allem die Millionen weltoffener Netzteilnehmer selbst regeln. Es gibt ja bereits eine Vielzahl an Initiativen, mit denen Bürger mobil machen gegen Fake News. Diese Selbstreinigungskräfte sind genau das, was wir brauchen. Zugleich wissen wir heute auch, dass das Netz allein kein seligmachendes Mittel ist. Das Internet hat den Bürgern neue Möglichkeiten der Partizipation eröffnet. Aber es hat aus den Bürgern keine besseren Menschen gemacht. Gegen Dummheit hilft das Internet nicht. Dafür braucht es nach wie vor streitbare Demokraten, die ihre Freiheiten verteidigen und neue Freiräume erobern.

Zur Person: Professorin Dr. Ulrike Ackermann ist promovierte Sozialwissenschaftlerin und hat Soziologie, Politik, Neuere Deutsche Philologie und Psychologie in Frankfurt studiert. 2002 gründete und leitete sie das Europäische Forum an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Seit 2004 arbeitete sie als freie Autorin sowie Verfasserin und Moderatorin zahlreicher Rundfunksendungen. 2008 wurde sie zur Professorin auf den Lehrstuhl Politische Wissenschaften mit dem Schwerpunkt Freiheitsforschung und -lehre an der SRH Hochschule in Heidelberg berufen. Seit dem Jahr 2009 leitet sie das von ihr gegründete John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung in Heidelberg.