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Russlands unabhängiger Journalismus

Ab dem 1. Dezember 2022 tritt in Russland ein neues Gesetz „über die Kontrolle der Aktivitäten von Personen unter ausländischem Einfluss“ in Kraft. Die russischen Machthaber schaffen damit ein weiteres Unterdrückungsinstrument der eigenen Bürger und Bürgerinnen. Menschen werden so zu Staatsfeinden erklärt – im eigenen Land. Denn dies ist letztendlich der eigentliche Hauptgedanke hinter der Bezeichnung als „ausländische Agenten" von Menschen, die für die Machthaber unbequem und somit unerwünscht sind. Das neue Gesetz ermöglicht es den Strafverfolgungsbehörden, diesen Status absolut willkürlich zu vergeben.

Sie müssen sich fortan gar nicht erst die Mühe machen, erst noch vermeintliche „Verbrechen" der betroffenen Bürgerinnen und Bürger gegen den Staat zu finden und zu beweisen. Bisher mussten Kontakte zu westlichen Personen und Organisationen identifiziert und nachgewiesen sein, um das Bild einer formalen Beweiserhebung aufrecht zu erhalten. Die Zuerkennung des Status eines „ausländischen Agenten" erfolgt nach dem willkürlichen Ermessen eines Beamten oder Geheimdienstmitarbeiters in einem außergerichtlichen Verfahren.

Davor gibt es keinen Schutz, ein Anfechten der Entscheidung ist nicht möglich. Das neue Gesetz erlaubt es den Behörden, ein breites Spektrum diskriminierender Maßnahmen gegen Bürger und Bürgerinnen, die aus der Sicht des Regimes unbequem bzw. unerwünscht sind, anzuwenden. Ihnen werden grundlegende Bürgerrechte entzogen – dazu gehören die Missachtung des Rechts auf Privatsphäre, das Verbot eines legalen öffentlich-bürgerlichen Engagements, das Verbot, ein gewähltes oder öffentliches Amt zu bekleiden. Die Repressalien dieses neuen Gesetzes treffen in erster Linie diejenigen, die sich gegenüber der totalitären Propaganda von Putins Aggressor-Staat kritisch äußern: Journalisten und Journalistinnen, Menschenrechtsaktivisten, Bürgerrechtler und Künstler und Künstlerinnen. 

Das zweite Jahrzehnt der Herrschaft Putins: Einführung und Entwicklung spezifischer repressiver Mediengesetze

Bis Ende 2021 waren fast 100 verschiedene unabhängige NRO und kommerzielle Unternehmen gezwungen, ihre Tätigkeit einzustellen, nachdem sie in das Register der „ausländischen Agenten“ aufgenommen worden waren, darunter eine beträchtliche Anzahl von Redaktionen und Medienprojekten (z. B. VTimes, ein Projekt der Zeitung Wedomosti, das von seinen neuen Eigentümern zensiert wurde, oder Vierter Sektor, ein Zusammenschluss unabhängiger Journalisten im Ural und in Westsibirien).

Zeitgleich lief eine massive Kampagne zur Bestrafung neu ernannter „ausländischer Agenten“ wegen Verstößen gegen die Anforderungen des Agentenstatus. „Allein in der ersten Hälfte des Jahres 2021 verhängten die Gerichte der ersten Instanz Geldstrafen in Höhe von 8,5 Millionen Rubel gegen gemeinnützige Organisationen und ihre Führungskräfte im Zusammenhang mit Verstößen gegen das Gesetz über „ausländische Agenten“. Die Geldstrafen für Verstöße gegen die Kennzeichnung als „ausländischer Agent“ waren massiv: Im Oktober meldete Roskomnadzor 843 solcher Protokolle“, berichteten OVD-Info und das Zentrum zum Schutz der Medienrechte in ihrem gemeinsamen Bericht (Dezember 2021, https://inoteka.io/ino/sozdano-i-ili-rasprostraneno).

Bereits Mitte 2021 war eine Tendenz zur „beruflichen Emigration“ unter den Journalisten zu beobachten, vor allem unter denjenigen, die von der „ausländischen Agenten“- Kampagne betroffen waren: Das Land verließen sowohl diejenigen, die bereits auf der „Feindesliste“ standen, als auch diejenigen, die erkannten, dass ein solcher Status unvermeidlich und nur eine Frage der Zeit war.

Es ist anzumerken, dass die Berufsverbände in dieser Phase versuchten, legalen Widerstand gegen die repressiven staatlichen Angriffe zu organisieren. Mehr als 250.000 Menschen unterzeichneten die Petition für die vollständige Abschaffung des Gesetzes über „ausländische Agenten“, die von 240 Organisationen unterzeichnet wurde, darunter führende russische Medien und Wohlfahrtsverbände sowie die größten Zivil- und Umweltprojekte aus allen Teilen des Landes. Eine Gruppe von Journalisten unter der Leitung von Dmitri Muratow, dem Chefredakteur der „Nowaja Gaseta“, hat ein Paket von Änderungen des Gesetzes über „ausländische Agenten“ in den Medien ausgearbeitet und der Staatsduma offiziell vorgeschlagen; zusätzliche Versionen der Änderungen wurden vom Menschenrechtsrat des Präsidenten und sogar von der offiziellen russischen Journalistengewerkschaft vorgeschlagen. Trotz der formellen Erklärungen des Kremls, dass er zu einem „Dialog“ über dieses Thema bereit ist, blieben alle diese Versuche ergebnislos.

Der öffentliche Standpunkt der russischen Behörden zur Einrichtung von „ausländischen Agenten“ im Land besteht darin, dass dieser Status ausschließlich „informatorische“ Funktionen zu haben scheint: Angeblich bringt die Aufnahme in das Register nichts anderes als die Verpflichtung mit sich, „ehrlich über die Finanzierungsquellen zu berichten“. Abgeordnete und Beamte haben stets argumentiert, dass der Erwerb einer Kennzeichnung als „ausländischer Agent“ die Aktivitäten von NRO und Medien
nicht einschränkt, ihre Schließung nicht erforderlich macht, ihre beruflichen Aktivitäten nicht behindert und nur für die „Transparenz ihrer Arbeit“ notwendig ist.

Allerdings wird jedes Medium, jede Person, die den Status eines ausländischen Agenten erhält, sofort einer Reihe von diskriminierenden Beschränkungen unterworfen, und ihre Aktivitäten werden von einer Reihe von demütigenden und meist sinnlosen, beleidigenden Pflichten begleitet. In Wirklichkeit dient das Gesetz über ausländische Agenten nur dazu, der als Feind anerkannten Person oder einer ganzen Organisation, der der feindliche Status zuerkannt wurde, das Leben zu erschweren und wenn möglich zu zerstören. Es handelt sich um eine bestrafende, quälende Gesetzgebung im eigentlichen Sinne des Wortes: Sie hat keinen anderen Sinn, als ihrem Opfer absichtlich zu schaden.

Eine Person, die als ausländischer Agent gebrandmarkt ist – meistens, wie oben erwähnt, ein Journalist oder Blogger – ist verpflichtet, jede öffentliche Äußerung (nicht nur eine vollständige Veröffentlichung, sondern auch jeden Beitrag in den sozialen Medien, jeden Tweet, Kommentar, jede Antwort, jeden YouTube-Auftritt, jede öffentliche Rede usw.) mit einem speziellen „Haftungsausschluss“ zu versehen, der auf den Status des Autors als ausländischer Agent hinweist. Darüber hinaus ist der ausländische Agent verpflichtet, den staatlichen Behörden regelmäßig umständliche und sinnlose Berichte über seine Einnahmen und Ausgaben vorzulegen, was an sich schon ein demonstrativer Eingriff in das Privatleben einer Person ist, der jegliches Recht auf Privatsphäre und Vertraulichkeit genommen wird. Einzelne ausländische Agenten müssen außerdem eine juristische Person gründen, die wiederum zu einer Agenten-NRO ernannt wird: Diese Pflicht dient lediglich dazu, die Finanzberichterstattung noch zeitaufwändiger und komplizierter zu machen.

Dies sind jedoch nur direkte, formale Mittel zur Durchsetzung und Diskriminierung von „ausländischen Agenten“. Hinzu kommt eine Vielzahl weiterer Umstände. Sie schaden dem „Staatsfeind“ oft noch mehr und erschweren seine berufliche Tätigkeit und seine Teilnahme am öffentlichen Leben erheblich.

In erster Linie geht es um die Rufschädigung, Demütigung und Feindseligkeit, die der Status eines „ausländischen Agenten“ in den Augen eines erheblichen Teils der russischen Gesellschaft mit sich bringt.

Der offizielle Standpunkt, wonach der Status eines ausländischen Agenten „rein technischer“, „informativer“ Natur ist, hindert die gesamte Propagandamaschinerie des russischen Staates keineswegs daran, große Anstrengungen zu unternehmen, um dem öffentlichen Ruf eines „ausländischen Agenten“ massiv zu schädigen. Die permanente Diskreditierungskampagne erfolgt in Form einer massiven medialen und psychologischen Aggression durch staatliche Fernsehsender, Internetportale und offizielle Nachrichtenagenturen.