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Krieg in Europa
„Russlands Vorgehen bietet Anhaltspunkte für Völkermord“

Stoppt Genozid in der Ukraine
© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Sachelle Babbar

In Den Haag beraten heute Vertreter aus 40 Ländern, wie russische Kriegsverbrechen in der Ukraine verfolgt werden können. Es ist eine Aufgabe von historischem Ausmaß. Unsere stellvertretende Vorsitzende Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat in der Ukraine Gespräche darüber geführt, wie Deutschland die Behörden vor Ort bei der Aufklärung von Kriegsverbrechen unterstützen kann. Im Interview erklärt sie, worin die Herausforderungen bestehen und wie Deutschland zu deren Lösung beitragen kann.

freiheit.org: Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie sind kürzlich aus Kyjiw zurückgekehrt. Wie war Ihr Eindruck von den Gesprächen vor Ort angesichts der wenig positiven Nachrichten, die man derzeit vom Frontgeschehen hört?
Leutheusser-Schnarrenberger: Es ist beeindruckend, wie eng die Menschen nach fast zwei Jahren Krieg noch immer zusammenstehen, auch wenn es unterschiedliche politische Ansichten in Behörden, nicht-staatlichen Organisationen und der Zivilgesellschaft gibt. Alle sind sich einig, dass gemeinsam gegen Putin gekämpft werden muss.

In Deutschland und Teilen des westlichen Bündnisses spürt man dagegen eine Ermüdung bei dem Thema…
Die Ukrainer sind dankbar für jede Unterstützung, die sie erhalten können, und Deutschland genießt dabei ein sehr hohes Ansehen. Aber angesichts der Abhängigkeit von externer Hilfe führt jeder Streit in der Europäischen Union, in Deutschland oder den USA zu Verunsicherung in der Ukraine. Die Ukrainer kämpfen jeden Tag für Freiheit und Demokratie – auch in Europa – und müssen daher bestmöglich unterstützt werden. Hilfen für die Ukraine sollten auf keinen Fall aufgeschoben werden, denn darunter leiden nicht nur die Ukrainer, sondern auch wir.

Wie könnten weitere Hilfen für die Ukraine aussehen?
In zahlreichen europäischen Staaten findet ein Rechtsruck statt. In den USA droht eine Wiederwahl Donald Trumps. Deshalb ist es wichtig, jetzt so schnell und stark wie möglich zu unterstützen, solange es noch die Handlungsfähigkeit dafür gibt. Diese Hilfe sollte humanitär, militärisch und – das wird oft übersehen – juristisch sein.

Die Ukrainer haben eine Chance, auch wenn sie nicht über die personellen Ressourcen eines Wladimir Putins verfügen, dem Menschenleben egal sind. Aber je länger die Prozesse für Hilfslieferungen an die Ukraine dauern, desto stärker fühlt Putin sich. Und jedes Ereignis wie Wahlen oder der Überfall der Hamas auf Israel können zu Veränderungen in der Politik wichtiger Partner führen.

Sie haben die Unterstützung der Ukraine im juristischen Bereich erwähnt. Wie sollte diese gestaltet werden?
Der deutsche Generalbundesanwalt führt bereits fünf Verfahren zur Verfolgung von Kriegsverbrechen aufseiten des russischen Aggressors. Das wird von der ukrainischen Staatsanwaltschaft, mit deren Vertretern ich in Kyjiw gesprochen habe, sehr geschätzt. Die Herausforderung besteht jedoch darin, dass die Ukrainer selbst mit mehr als 110.000 Sachverhalten völlig überlastet sind. Sie sind daher auch auf materielle Hilfe wie forensische Ausstattung zur Identifizierung von Opfern von Kriegsverbrechen angewiesen. Die Ausbildungen und Schulungen in diesem Bereich sollten ebenfalls intensiviert werden. Die Verantwortlichen dürfen auf keinen Fall straffrei bleiben – und jeder sichergestellte Beweis hilft, sie eines Tages vor Gericht stellen zu können.

Eines der Kriegsverbrechen der russischen Regierung ist die Entführung von über 19.000 ukrainischen Kindern…
Die Kinder werden nach Russland deportiert und anschließend in Russland „russifiziert“. Das heißt, sie dürfen kein Ukrainisch mehr sprechen und sollen zu Russen umerzogen werden. Es gibt Zwangsadoptionen. Dieses Vorgehen bietet Anhaltspunkte dafür, dass Russland in der Ukraine einen Völkermord begeht. Hier wird eine nationale Gruppe gezielt und systematisch zerstört. Die ukrainischen Vertreter erwarten, dass das russische Vorgehen auch so ausgelegt und gewichtet wird. Und völlig zu Recht hat der Internationale Strafgerichtshof wegen dieses Kriegsverbrechens im März einen Haftbefehl gegen Putin erlassen.

In Deutschland wurde zu Beginn des Jahres intensiv über die Einrichtung eines Tribunals zum Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine diskutiert. Wie wird dieses Thema in der Ukraine gesehen?
Der russische Angriffskrieg ist ein Verbrechen der Aggression nach dem Völkerstrafrecht, das eine lebenslange Freiheitsstrafe nach sich zieht. Die Ukrainer haben ein großes Interesse daran, dass Putin nicht allein wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen, sondern auch wegen dieses Strafbestands verfolgt wird. Sie fordern dafür ein internationales Tribunal, bei dem Putin dieses Verbrechens angeklagt wird. Wie das im Detail ausgelegt wird, ist zu diesem Zeitpunkt nicht entscheidend. Wichtig ist, dass dieses Verbrechen eines Angriffskrieges juristisch verfolgt und gegen Putin sowie die Mitglieder seines Sicherheitsrats – von Lawrow bis Medwedew – ermittelt wird.

Sie haben mit ihren Gesprächspartnern in Kyjiw auch über einen Beitritt der Ukraine in die Europäische Union gesprochen. Auf dem EU-Gipfel wurden nun Beitrittsgespräche mit der Ukraine beschlossen. Eine richtige Entscheidung?
Ja, so wird signalisiert, dass man die Ukraine in der EU haben möchte. Die ukrainischen Verantwortlichen erlassen seit Monaten neue Gesetze und führen Reformen durch, um langfristig die geforderten EU-Standards zu erfüllen – und das in Kriegszeiten. Allen ist bewusst, dass ein Beitritt nicht von heute auf morgen gelingt, aber die Ukraine braucht eine Perspektive. Der Beschluss aufseiten der EU wurde gefasst und jetzt können die Details verhandelt werden, auch wenn es lange dauert. So hat die Ukraine die klare Botschaft erhalten, dass die EU fest an ihrer Seite steht.