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Exiljournalisten
Russische Exilmedien als Propaganda-Brecher

Polizeibeamte halten einen Demonstranten mit einem Plakat fest, auf dem zu lesen ist: "Freiheit für Alexej Nawalny"

Polizeibeamte halten einen Demonstranten mit einem Plakat fest, auf dem zu lesen ist: "Freiheit für Alexej Nawalny".

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited

Bereits das vierte Jahr in Folge hat die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit zusammen mit dem Vorstand des russischen Redkollegia-Preiskomitees ein Netzwerk von unabhängigen, den gemeinsamen europäischen Werten verpflichteten Journalisten, zusammengebracht. Drei Zehn-Stunden-Programmtage in einem abseitsliegenden Hotel, drei Tage voller Freude über das heißersehnte Wiedersehen an einem sicheren Ort, gefüllt mit lebhaften Statements und Diskussionen liegen hinter den 150 Medienschaffenden aus Russland. Angereist sind Teilnehmende aus Russland, Belarus, Polen, der Ukraine, den USA, den Baltischen Staaten, aus Frankreich, Schweden, Dänemark, Israel und dem Gastgeberland Deutschland. Alle eint das Ziel, gemeinsam nach Wegen zu suchen, noch wirksamere mediale Beiträge leisten zu können und so noch größere Katastrophen abzuwehren.

Liegt Krieg den Russen einfach so in den Genen?

Seit fast 25 Jahren beherrscht ein Mann mit inzwischen diktatorischen Mitteln das größte Land an der Ostflanke der EU. Seit zehn Jahren lenkt er den Vernichtungskrieg Russlands gegen das Nachbarland, die Ukraine, und davor gab es bereits Kriege in Tschetschenien und Georgien. Aber Wladimir Putin begann seinen politischen Aufstieg in einem Russland, das seine Provinzen bzw. Satellitenstaaten gerade eben in die Freiheit entließ bzw. unfreiwillig verlor – je nach Sichtweise. Seine Präsidentschaft fing in einem anderen Russland an, das sich nach 1991 endlich auf den Weg begab die Gewaltenteilung mit funktionsfähigen demokratischen Institutionen wirklich umzusetzen bzw. darum sehr bemüht war, und das von seinen Nachbarn, vor allem denjenigen, die weiter westlich sind, als gleichberechtigter Partner und keine feindliche Bedrohung mehr angesehen wurde. Es war ein Russland, in das die deutsche Wirtschaft gerne mit Investitionen und Knowhow hinströmte und das friedlich wiedervereinigte Deutschland aus Dankbarkeit für Glasnost und Perestroika bspw. 1998 Kredite vergab. Und es war gewiss das Russland, welchem dank gut ausgebildeter Bürger sowie vorhandener Bodenschätze alle Perspektiven und Chancen für das Erreichen der westlichen Standards und des Wohlstands theoretisch offenstanden.

Dieses Russland gibt es nicht mehr, das haben Putin & Co. im Kreml aus freien Stücken vernichtet.

Der russische Präsident Wladimir Putin

Der russische Präsident Wladimir Putin spricht auf der jährlichen Sitzung des Vorstands des russischen Innenministeriums in Moskau, Russland.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Sergei Savostyanov

Niemand im Ausland stellte sich der Rückwärts-Entwicklung resolut genug entgegen, als es noch vielleicht ohne Blutvergießen möglich gewesen wäre. Diejenigen pro-europäischen Meinungsbildner, die es selbst in Russland versucht hatten, sind inzwischen im Exil, sitzen in einer von fast 700 Strafkolonien in Russland ein oder wurden ermordet. Das demokratische Russland wurde einem Minderwertigkeitskomplex-behafteten Wahngebilde aus Rachsucht, Vergeltungslust, Revision und Vertragsbrüchigkeit, letztendlich einem schrecklichen Aggressionskrieg zur Wiedererrichtung des Imperiums geopfert.

Das Frühjahr 2022 markiert insofern auch in dem Sinne eine Zeitenwende, dass mal wieder in der Geschichte der menschlichen Zivilisationen der Punkt erreicht wurde, ab dem das absolute Böse nicht nur innerhalb der kriminellen Machtclique, sondern auch in der breiten Masse der Gesamtbevölkerung mehrheitlich Oberhand gewinnt – koste es, was es wolle! 

Genau solche Gedanken kreisen unter den Panelisten am ersten Tag der FNF-Exilmedien-Konferenz. Unter den Teilnehmenden ist auch die Befürchtung einer akuten Eskalation spürbar, aber zugleich ein unaufhaltsamer Wille schonungsloser Analyse, und die Überzeugung, dass es auch ohne noch größere Katastrophen ausgehen könnte, wenn…

Uns zu unterstützen kostet gewiss weniger als ein Panzer, kann aber sogar wirkungsvoller sein!

Wo setzt diese Analyse an? Es werden zunächst die historischen Parallelen bemüht – bspw. Europas Faschismus-Diktaturen des 20. Jahrhunderts und deren Überwindung. Niemand im Konferenzsaal würde davon träumen, dass man die von Propaganda vergiftete und von der neuen Totalitarismus-Leseart, dem Putinismus, gekaperte Bevölkerung Russlands von außen militärisch befreit. Das Problem mit Putins Russland besteht darin, dass ein Tyrann mit erkennbarer Neigung zum Terror und ohne jegliche Legitimation dafür die Macht über ein riesiges Land mit Atomwaffen besitzt. Ein Zustand trat somit ein, den die regelbasierte Weltgemeinschaft seit der UN-Gründung verhindern wollte. Und jetzt sitzt der Terrorist auch noch mittels eigener Diplomaten mit einem Veto-Recht im UN-Sicherheitsrat – so lautet die Feststellung der russischen Experten. Die russischen Exilmedien sollen und müssen immer wieder neue Belege für Russlands Verbrechen liefern, um die Verantwortlichen im Westen wachzuhalten. Momentan ist der Westen mal wieder zu sehr mit sich selbst beschäftigt: Wahlen in der EU, Wahlen in Ostdeutschland, Wahlen in den USA. In Berlin geben die Querschläge aus den SPD-Reihen und dem Kanzleramt keinen Grund für Zuversicht. Währenddessen stilisiert sich der gealterte, weiße Kolonialherrscher über weite Teile der östlichen Nordhalbkugel mit hunderten von versklavten Ethnien zum neuen Anführer des globalen Südens gegen die koloniale Ausbeutung seitens des Westens.

Hybrider Krieg an allen Fronten, manipulative Rhetorik in Dauerschleife, alle Werte, Normen und Fakten zählen nichts oder werden auf den Kopf gestellt, und die Überreste von Russlands politischer Opposition sind durch Nawalnys Tod pulverisiert – auch so wird die Lage auf den Podien der Konferenz empfunden.

Blumen und Kerzen bei einer Gedenkfeier für Alexej Nawalny

Blumen und Kerzen bei einer Gedenkfeier für Alexej Nawalny.

© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Beata Zawrzel

Nicht das Italien unter Mussolini gilt schlussendlich als Hoffnungsszenario für Russen im Exil. Man blickt stattdessen auf Portugal und Spanien. Eine Revolution von innen bzw. der Tod des Diktators oder die beiden Ereignisse zeitnah beieinander wären ein möglicher Rettungsring für Russlands inzwischen mundtote, pro-europäische Zivilgesellschaft in den Augen der anwesenden Experten. Der Schlüssel für das Ende von Putins Diktatur liegt aber zunächst tatsächlich bei den Ukrainern und im „kollektiven Westen“, wie ihn die Russen gerne bezeichnen. Kein Kremlführer konnte sich jemals nach einer militärischen Niederlage an der Macht halten – so viel steht fest. Es besteht die hoffnungsvolle Erwartung, dass das Pendel der Geschichte plötzlich eine neue Richtung einschlägt und das neuartige, totalitäre Zeitalter in Russland endet, wie das absolutistische Zarenreich, die kommunistische UdSSR und andere auf dem Fundament von Ausbeutung und Gewaltherrschaft erbaute Imperien so oft schon zerfielen.

Journalisten auf Distanz zum politischen Aktivismus?

Kurzum, den Luxus der Neutralität kann sich laut den Teilnehmenden an der Konferenz niemand mit Bezug zu Russland leisten. Eindeutig stellt das Auswandern aus Russland ein sehr deutliches Bekenntnis gegen den Putinismus dar, das teils vergleichbar mit dem gezielten Berufswechsel innerhalb Russlands ist, um nicht zum Teil der Propagandamaschinerie zu werden. Das Hoheitsgebiet der westlichen Staaten bietet keinesfalls absoluten Schutz vor den vom Kreml ausgehenden Gefahren, die Exilanten sind allerdings hier in deutlich besserer Position als diejenigen Journalisten, die in Russland bleiben, und dort hauptberuflich die PR-Arbeit für einen Opernsänger oder die Werbung für Apotheken und Blumenläden erledigen. In der Freiheit angekommen, entwickeln sich die meisten Medienschaffenden individuell und selbstbestimmt dahin, aktiv für ein anderes Russland zu wirken. Es entstehen Netzwerke und Kooperationen, die an ihrem Profil im letzten Jahr erkennbar zugewonnen haben. Es dauert aber alles noch zu lang aus der Sicht des mit dem politischen Aktivismus seit Jahren fest verwachsenen Nawalny-Teams, bis die Journalisten ihre Scheu vor Politik-Engagement ablegen, ihre Angst vor politisch-motiviertem Wirken verlieren und zu handeln bereit sind.

Die Erkenntnis muss allgemeingültig werden, dass es heute kein Widerspruch mehr ist, Journalist und zugleich Aktivist zu sein, sondern eine menschliche und patriotische Pflicht, wenn man einem unnachgiebigen Regime gegenübersteht. Im Zeitalter von Krieg und Putinismus eignen sich alle Themen und Sujets dafür, in einem klar politischen Kontext behandelt zu werden. Und wer in der Freiheit des Exils lebt, trägt eben automatisch die Verantwortung dafür mit, was aus Russland, Europa und der Welt wird. Es ist gleichzeitig eine Verpflichtung und Berufung gegen die weitere Eskalation der Katastrophe überall dort zu kämpfen, wo es nicht gleich in der Isolationshaft einer Strafkolonie endet. Mit Abrechnungen und Vorwürfen wegen Fehlern der Vergangenheit soll sich niemand vom Wesentlichen abhalten lassen, und jedes Individuum soll stolz auf sein Lebenswerk sein dürfen. Es gibt allerdings großen Bedarf an Haltungskorrekturen bezüglich Diversity und Gleichstellungsdefizite, die Minderheitenrechte auch in Exilmedien betreffen. Spätestens in der russländischen Diaspora gehören diese Probleme aufgearbeitet. Die postimperialen Wehen des russischen Kolonialismus müssen aufhören, und die Mitmenschen mit einem nichtslawischen ethnischen Hintergrund gegenüber Russen selbstverständlich in jeder Hinsicht als gleich erachtet werden. 

Die Auswahl der regimekritischen Medienschaffenden in Russland: Selbstzensur, Untergrund oder Knast

Nicht viele Medien und Journalisten in Russland wagen es noch auf Kollisionskurs zum Kremlregime zu gehen. Was an renommierten Verlagshäusern noch da ist, bspw. der Novaya Gazeta-Verlag, wird voraussichtlich demnächst geschlossen und das Verlagshausgebäude  mit Büros in Moskau konfisziert. Der frühere Chefredakteur der gleichnamigen Zeitung und Nobel-Preisträger 2021 Dmitry Muratov ist in den Hintergrund getreten, um genau dies zu verhindern.

Der Friedensnobelpreisträger Dmitry Muratov legt Blumen am Grab des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny nieder

Der Friedensnobelpreisträger Dmitry Muratov legt Blumen am Grab des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny nieder.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Vitaly Smolnikov

Einzelne Journalisten arbeiten weiter auf der lokalen Ebene. Eine Fluchtentscheidung bleibt ein Privileg für Einzelne, das sich nicht alle leisten können oder auch nicht alle wollen. In den meisten Fällen liegen ganz private Gründe und Verpflichtungen für das Verbleiben im Land vor, wie z.B. Familienangehörige, die nicht ins Exil gehen können. Es ist inzwischen ungefährlicher über und aus Tschetschenien zu berichten, als kritisch an Texten über Putins Ukrainekrieg und dessen „Kreuzzug“ gegen den Westen zu arbeiten.

Menschen trugen ihre Blumen zu den vielen Orten des Gendenkens nach Nawalnys Ermordung aus Angst vor Verhaftung unter den Jacken verborgen, auch Medienschaffende, um sich so das eigene Herz zu bewahren. Trotz allem bedarf es in dem Riesenland wenigstens ein paar „normaler“ Medien, schon alleine der Nachwuchsförderung wegen, denn die Jugend will nicht aufgeben, auch wenn die Journalisten verhaftet werden, ausbrennen und immer öfter psychologische Betreuung brauchen oder die Möglichkeit eines Verschnauf-Auslandsaufenthaltes als eine Art von Reha- oder Kur-Maßnahme. Diese Prozedur kann ebenfalls als Brücke fungieren, dient sie doch immer auch dem Austausch mit geflüchteten Kollegen. Die in Russland verbliebenen Medienschaffenden sind sehr kreativ und ebenso vorsichtig, denn die Gefahren sind bekannt, auch hässliche Kompromisse bei der Berichterstattung und die Selbstzensur gibt es, aber die journalistische Arbeit einzustellen wäre keine Option – ohne die Feldarbeit vor Ort und die Brückenfunktion zu den Fachkollegen außerhalb Russlands wäre alles verloren und Putins Propaganda noch mächtiger, als es schon heute der Fall ist.

Lehren aus Belarus – nur scheinbar auf dem gleichen Dampfer mit Russland?

Die Zahl von über 1500 politischen Häftlingen, die teils seit einem Jahr kein Lebenszeichen mehr von sich geben, scheint wie eine Demonstration von Lukaschenkos diktatorischer Macht zu wirken.

Der russische Präsident Wladimir Putin, rechts, und der belarusische Präsident Alexander Lukaschenko

Der russische Präsident Wladimir Putin, rechts, und der belarusische Präsident Alexander Lukaschenko.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Sergei Guneyev

So ist es aber nicht. Der Machthaber in Minsk wäre ohne Putins Schergen im Hintergrund nicht denkbar. Trotz klar drohender Repressionen und bekannter Folgen trauen sich die Menschen in dem Land zwischen allen Fronten, immer noch Exilmedien zu empfangen. Und eines hat auch Putin inzwischen begriffen – aus Belarus kann er keine Mordbereitschaft an Ukrainern erwarten, keine willigen Soldaten von dort anfordern, selbst die Nachschubwege über Belarus sind für die Russen unsicher. Der auf dem Panel zur Lage in Belarus mitdiskutierende deutsche FDP-Lokalpolitiker aus Frankfurt mit belarusischer Abstammung, Michael Rubin, weist darauf hin, wie wichtig die gemeinsame politische Zusammenarbeit aller Oppositionskräfte ist – ohne das Zusammenrücken hinter einer Symbolfigur, wie es heute Sviatlana Tsikhanouskaya für Belarus ist, wird der Weg zur Überwindung der Diktatur gewiss deutlich länger und noch schwieriger. Eine Führungsperson im Ausland und in der Freiheit macht eben doch den Unterschied.

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Michael Rubin im Gespräch mit Sviatlana Tsikhanouskaya im Deutschen Bundestag am 8. November 2023

Rechtsexperten und Juristen über repressive Praktiken des totalitären Regimes und ihre letzten Verteidigungslinien – Risikomanagement oder "Palliativmedizin"?

Die Anwälte „des Widerstandes“ leben immer gefährlicher. Ihre Arbeitsfelder werden größer, ihre Erfolgschancen jedoch immer geringer, und sehr oft geht es nur um Dokumentation von Rechtsbrüchen und Ungerechtigkeit bzw. um ein Zeichen der Menschlichkeit, wenn einer von ihnen ins Gerichtsgebäude kommt. Die Mandanten aber entwickeln eine Art von Intuition, wenn es gefährlich werden könnte, und suchen nach Rechtsbeistand noch vor der drohenden Verhaftung. Die Fälle häufen sich dermaßen, dass es immer schwieriger wird, einen Anwalt „des Widerstandes“ zu bekommen.

Missbräuchliche Gerichtsprozesse: Schutz von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern vor SLAPP-Klagen

Vladimir Kara-Murza

Autokratische und illiberale Regime nutzen politische und rechtliche Verfolgung, um Journalisten oder Menschenrechtsaktivisten zum Schweigen zu bringen. Solche Gerichtsverfahren nennen sich „Strategic Litigation against Publication Participation“ oder kurz SLAPP. Ein Richtlinienentwurf der EU Richtlinienentwurf soll solche missbräuchlichen Klagen verhindern, die die Grundrechte der Angeklagten willkürlich verletzen.

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So werden den ukrainischen Kriegsgefangenen und den als Partisanen festgesetzten Zivilisten aus den russisch-okkupierten Gebieten der Ukraine in Russland Schauprozesse gemacht. Von den regimekritischen Medien im Land traut sich niemand darüber zu berichten. Alle Angeklagten tragen Spuren von Folter und von den unmenschlichen Haftbedingungen mit in den Gerichtssaal. Die russischen Anwälte, die hierbei freiwillig als Verteidiger auftreten, sind bereits selbst mit einem Fuß im Gefängnis – und sie tun es trotzdem. Wenn es einen Weg gibt, Angeklagte zu retten, dann über Verfahrensfehler der Ermittlungsorgane, sofern nicht von ganz oben eine Anweisung zur Art der Bestrafung vorliegt. Politisch motivierte Prozesse und Strafen sind für die Angeklagten selbst, ihre Anwälte und am Ende für die Verurteilten eher hoffnungslos. Vladimir Kara-Murza bspw. befindet sich seit seiner Verlegung in die Strafkolonie andauernd in der Isolationshaft. Das bedeutet, wie früher bei Nawalny, keine Besuche, kein direkter Kontakt zur Außenwelt oder zu Mithäftlingen, 14 Stunden täglich sitzend oder stehend die Wände der fensterlosen Mini-Zelle anzustarren.

Prisoner of Conscience: Vladimir Kara-Murza, Russland

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Der russische Oppositionspolitiker, Menschenrechtler und Journalist Vladimir Kara-Mursa hat gestern das Berufungsverfahren verloren: Wegen Hochverrats wurde er zu einer 25-jährigen Haftstrafe in einem Straflager mit „harten Bedingungen“ verurteilt. Kara-Mursa zählt zu den schärfsten Kritikern des russischen Präsidenten Wladimir Putin und setzte sich für Menschenrechte und Demokratie ein.

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Die Verbindungen der Exil-Oppositionellen, -Aktivisten und -Medienschaffenden nach Russland werden genauestens beobachtet und gefiltert. Die „Brücken“ zwischen Journalisten/Aktivisten im In- und Ausland werden ebenfalls zum Ziel der Kreml-Geheimdienste. Die berechtigte Angst wächst, dass auch im Exil seitens des Regimes noch oft zugegriffen wird, zuletzt war das sichtbar am Fall Leonid Volkovs in Vilnius. Auch das zurückgelassene Eigentum der Geflüchteten, ihre Verwandten und Freunde sind bereits von der Rache des Kremls betroffen. Von Reisen der Geflüchteten nach Russland ist strengstens abzuraten. Die Anwälte „des Widerstandes“ auf dem Podium reden offen über die hoffnungslose Lage, ihre eigene Machtlosigkeit und Burnouts, denn Russland ist inzwischen längst zu einer Rechtslosen Diktatur geworden. Sie arbeiten außerdem immer öfter ohne Bezahlung seitens der oft mittellosen Verfolgten und die Kosten, z.B. für die Betreuung von Verurteilten in den Strafkolonien, gehen durch die Decke – auch an der Stelle kommt man nicht ohne Spenden weiter. Der Fall mit der zwischenzeitigen Verhaftung von Björn Blaschke (ARD) für einen alten privaten Tweet aus dem Jahr 2022 enthält, obwohl er nach Erhalt einer Verwaltungsstrafe/Verwarnung wieder entlassen wurde, eine klare und gefährliche Warnung an alle deutschen Medien mit Akkreditierung in Russland. Auch ihre Arbeit wird mit großer Wahrscheinlichkeit bald nicht mehr wie bis dato möglich sein. Wie gut, dass dank der Teilnahme des FDP-Bundestagsabgeordneten, Dr. Thorsten Lieb, auch ein deutscher Parlamentarier aus den Reihen der Regierungskoalition über diese Entwicklungen direkt informiert werden konnte.

Wird Russland bald zur Terra Incognita für den Westen und für seine Exilmedien?

"The Ukraine first" ist die Haltung der EU laut teilnehmendem Vertretern des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD), und alle im Saal sehen es genauso. Im Falle eines Sieges wäre Putins Macht in Russland wahrscheinlich bis zu seinem Ableben gesichert, und der Krieg könnte sich auf Moldau, Georgien oder die Baltischen Staaten ausweiten. Die Medienschaffenden aus Russland im Exil sind aber ein Brückenkopf ins Land und erfüllen mehrere wichtige Funktionen, die auch dem Westen helfen. Für die westlichen Kollegen sind sie Informanten und Faktenchecker, diese Dienste bieten sie übrigens auch der Ukraine an. Sie sind aber auch Dolmetscher und Deuter in der Zeit des hybriden Krieges. Sie schaffen es, auch vom Ausland aus, an Quellen hinter den Frontlinien heranzukommen. Diese Fähigkeiten werden noch nicht genug erkannt und genutzt. Die Rolle des Propaganda-Brechers ist die wichtigste Aufgabe der Exilmedienschaffenden.

Für die Erhöhung ihrer Durchschlagskraft mangelt es ihnen nicht an Professionalität, sondern an Sichtbarkeit in den Suchmaschinen der westlichen Big Tech-Unternehmen und an sicheren Verbreitungswegen für die Erzeugnisse Ihrer journalistischen Arbeit. Die Finanzierung von Medien, die in ihrem Zielland von allen Werbe- sowie Abonnenten-Einnahmen ausgeschlossen wurden, bleibt eine Verpflichtung für die westlichen Geldgeber. Umso mehr, wenn man bedenkt, dass auch die Kreml-Propaganda beschädigten UdSSR-stämmigen Wählergruppen innerhalb der EU für unsere Demokratie gefährlich werden könnten. Auch hier befinden sich die potentiellen Zielgruppen der russischsprachigen Exilmedien, vorausgesetzt, dass die weitere Ausstrahlung der russischen Staatsmedien in den Westen, die trotz Verboten und Sanktionen immer noch stattfindet, endlich endgültig unterbrochen wird. Im Großen und Ganzen ist es die Aufgabe der Exilmedienschaffenden dafür zu sorgen, dass sie einmal am Wiederaufbau eines demokratischen Russlands in ihrer Heimat arbeiten werden, so die Meinung des Diplomaten eines Baltischen Staates auf dem Podium. Für den ukrainischen Vertreter sind die Jahre des Krieges eine Lektion des Überlebenskampfs ohne Rückzugsoption. Man kann nur zusammenhalten und weiterkämpfen, und jeden einzelnen Tag mit Familie und Freunden genießen.

Fazit

Trotz aller Depressionen ist das Weitermachen für die russischen Exiljournalisten der einzige Weg, und gleichzeitig war das auch Nawalnys letzte Botschaft: Gebt nicht auf! Diese Botschaft aus einer dessen letzten Videoaufnahmen ist eine verpflichtende Auflage, von der keine regimekritischen Medienschaffenden weichen wollen, auch wenn sie begreifen, dass diese Aufgabe nach der ernüchternden Sommeroffensive der Ukraine in 2023 nicht leichter geworden ist. Man ist nicht wirklich Sand im Getriebe des Putin-Russlands, aber es ist doch schon viel wert, wenn man Wasser ins Öl dieses Getriebes gießt, sagt zurecht ein verdienter TV Dozhd-Journalist. Wir werden diese wichtige Community als Stiftung für die Freiheit weiter unterstützen. Das schulden wir allen aktiven Mitgliedern der demokratisch-gesinnten Zivilgesellschaft in Russland nach 30 Jahren Partnerschaft. Und wir werden der Ukraine in ihrem Kampf somit helfen, weil ohne die Augen und Ohren von Kaliningrad bis nach Wladiwostok nicht herausgefunden werden kann, wo die aus der Ukraine entführten oder verschleppten Zivilisten, Kriegsgefangenen und Kinder geblieben sind oder wie ihre Peiniger heißen.