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Krieg in Europa
Vom Stellungskampf in die Offensive?

Die militärische Lage in der Ukraine nach 15 Monaten russischen Angriffskriegs
Ukrainische Soldaten feuern eine Kanone in der Nähe von Bakhmut ab, einer Stadt im Osten des Landes, in der heftige Kämpfe gegen russische Truppen stattfinden, in der Region Donezk, Ukraine,

Ukrainische Soldaten feuern eine Kanone in der Nähe von Bakhmut ab, einer Stadt im Osten des Landes, in der heftige Kämpfe gegen russische Truppen stattfinden, in der Region Donezk, Ukraine.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | LIBKOS

Anna-Lena Trümpelmann: Nach fast 15 Monaten Krieg in der Ukraine scheint es, als ob sich der Stellungskampf in eine Gegenoffensive gewandelt hat. Erst vor wenigen Tagen hatte Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin geäußert, dass die langerwartete ukrainische Frühjahrsoffensive begonnen hätte.

Wie steht es um die Kampfkraft und die Durchhaltefähigkeit der Ukraine?

Gerlinde Groitl: Hier kommen mehrere Faktoren zusammen, die es zu beachten gilt. Erstens geht es um die materielle Ausstattung der Ukraine, die Hardware. Dabei sind wiederum die Qualität und die Quantität entscheidend. Natürlich könnte die Lage immer besser sein, aber die westliche Unterstützung war essenziell für die bisherige Durchhaltefähigkeit der Ukraine. Die Position der Ukraine hat sich in den vergangenen Monaten dank der Lieferung moderner Waffensysteme—etwa Kampfpanzer, Artillerie- und Luftabwehrsysteme— durchaus verbessert, trotz der Abnützung und Auszehrung im Verteidigungskampf. Mit Hardware lässt sich zu einem bestimmten Grad auch eine zahlenmäßige Unterlegenheit ausbalancieren. Zweitens geht es aber auch um „weiche“ Faktoren: die Moral der Truppe, ihr Kampfeswille, der gesellschaftliche Rückhalt, die Improvisationsfähigkeit sowie Taktik und Strategie. Die Ukraine hat daraus seit Beginn des Kriegs enorme Kräfte mobilisiert. Drittens kommt die Durchhaltefähigkeit des Verteidigers auf die Stärke des Aggressors an. Man sollte Russland nie unterschätzen, allerdings hat Moskaus Militärmaschinerie offenkundige Probleme. 

Die Ukraine ist vom Westen aufgerüstet worden – reicht das aus, um eine Wende auf dem Schlachtfeld zu erreichen?

Die Ukraine konnte auch dank westlicher Unterstützung in den schwierigen Wintermonaten standhalten gegen Russland. Die heftig umkämpfte Stadt Bachmut wurde zuletzt gewissermaßen zu einem Sinnbild den Krieg. Doch Gegenhalten allein reicht nicht. Einerseits hält Russland nämlich noch immer knapp 20 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets besetzt, andererseits ist ein solcher Abnützungskrieg für die Ukraine nicht auf Dauer durchzuhalten. Insofern steht nun die Hoffnung im Raum, dass die Ukraine mit einer Offensive neue Bewegung erzwingen kann. Bislang haben wir primär Versuche gesehen, das Schlachtfeld vorbereitend zu gestalten – etwa durch Attacken hinter den russischen Linien, um die Logistik zu stören. Die Ukraine scheint im Aufwind, aber was letztlich herauskommt, muss sich zeigen. Eine zentrale Lehre des Kriegs sollte sein, mit Prognosen vorsichtig umzugehen.

Wie viel hängt tatsächlich für die Ukraine von der angekündigten Gegenoffensive ab und was ist in den kommenden Wochen und Monaten zu erwarten?

Für die Ukraine steht natürlich viel auf dem Spiel. Das betrifft die militärische und damit verbunden die politische Lage, hat aber auch eine psychologische Dimension. Wenn es der Ukraine gelingt, in die Offensive zu gehen und Russland zurückzudrängen, ergibt sich daraus neuer Gestaltungsspielraum und neue Dynamik. Ich würde aber vor überzogenen Erwartungen warnen. Dieser Krieg kann – leider – noch sehr lange dauern. Russland ist von seinem Kriegsziel, die Ukraine zu unterwerfen, nicht abgedrückt. Damit verbunden ist das Bestreben, die europäische Ordnung neu aufzusetzen. Selbstverständlich kann die Ukraine ihren existenziellen Kampf um das eigene Überleben nicht aufgeben. Und natürlich können wir uns nicht wegducken, weil dieser Krieg die europäische Sicherheit direkt betrifft. Selbst wenn der heiße Krieg endet, ist der Konflikt noch nicht gelöst. Wir sollten also nicht in Wochen oder Monaten denken. Das ist ein Marathon, kein Sprint.