Verteidigung Europas
Kaja Kallas: "Freiheit gibt es nicht umsonst"
Freiheit gehört zu den Dingen, über die man erst nachdenkt, wenn man sie nicht mehr hat. Nachdem Russland am 24. Februar 2022 seinen Großangriff auf die Ukraine begann, bekam Freiheit für viele Menschen eine neue Bedeutung. Russlands Aggression erinnert uns daran, dass wir bereit und in der Lage sein müssen, für die Freiheit zu kämpfen. Freiheit selbst ist unbezahlbar. Aber sie zu erhalten hat immer einen Preis.
Estland hat in seiner Geschichte eine schmerzhafte Lektion in Sachen Freiheit erhalten. Wir haben sie verloren – und ein Fünftel unserer Bevölkerung ist dem sowjetischen Terror zum Opfer gefallen. Vor dem Zweiten Weltkrieg erklärte sich Estland für neutral und befand sich zwischen zwei bösen Imperien. Trotzdem wurden wir von beiden besetzt. Nach dem Krieg waren wir ein halbes Jahrhundert lang in die Sowjetunion gezwungen, hinter dem Eisernen Vorhang vergessen und verlassen.
Lehren aus der Vergangenheit
Daraus haben wir einige Lehren gezogen, und sie erklären unsere politischen Entscheidungen.
Erstens: Man muss für seine Freiheit kämpfen, egal wie hoch die Chancen stehen. Nicht zu kämpfen ist schlimmer. Heute beweisen die Ukrainer und Präsident Selenskyj das jeden Tag der ganzen Welt.
Wir dürfen keine Angst haben – im Gegenteil: Es ist die Angst selbst, die wir am meisten fürchten müssen.
Zweitens: Man muss zeigen, dass man zum Krieg bereit ist – auch wenn man Frieden will. Estland gibt seit vielen Jahren zwei Prozent seines BIP für die Verteidigung aus. Jetzt haben wir unsere Verteidigungsausgaben auf drei Prozent unseres BIP erhöht. Wir haben seit Langem eine Wehrpflicht, und unsere Streitkräfte beruhen auf Reservisten.
Drittens: Sobald wir dem sowjetischen Gefängnis entkommen waren, beschlossen wir, nie wieder allein, nie wieder ohne Freunde und Verbündete zu sein. Deshalb haben wir uns dazu entschieden, der NATO und der EU beizutreten.
Politiker haben die Verantwortung, hoffnungsvolle, aber realistische Visionen für die Zukunft zu formulieren. In den vergangenen zwei tragischen Jahren hat es mehrere Entwicklungen gegeben, die uns Hoffnung machen: Die Ukraine hat die militärische, humanitäre und wirtschaftliche Hilfe der freien Welt in Anspruch genommen – und sie ist jetzt ein EU-Beitrittskandidat. Gegen Putin liegt ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vor, die Staats- und Regierungschefs diskutieren über die Modalitäten eines internationalen Tribunals. Und innerhalb der G7 und der EU gibt es deutliche Bemühungen, die eingefrorenen Vermögenswerte Russlands für den Wiederaufbau der Ukraine zu verwenden. Das ist nicht nur strategisch, sondern auch moralisch und rechtlich richtig.
Wir müssen Russland weiterhin auf der internationalen Bühne isolieren, wirtschaftlich und politisch. Es sollte kein „Business as usual“ geben; im Grunde sollte es überhaupt keine Geschäfte mit Kriegsverbrechern geben. Jeder Euro, der Putins Kriegsmaschinerie weiter antreibt, trägt dazu bei, seinen Eroberungskrieg in der Ukraine zu verlängern. Wir dürfen nicht so tun, als wäre ein Aggressor einer von uns.
Brutale Ehrlichkeit
Unsere härteste Währung ist Einigkeit. Gemeinsam können wir der Ukraine helfen, diesen Krieg zu gewinnen. Aber wir müssen brutal ehrlich zu uns selbst sein: Solange Russland noch ukrainische Städte bombardiert und das Land erobern will, haben wir nicht genug getan. Die Wahrheit des Krieges ist, dass die Seite gewinnt, die mehr Munition hat. Die Ukra-ine braucht also unsere langfristige Unterstützung. Das bedeutet Hilfe, die in der Ukraine ankommt, unabhängig von parteipolitischen Diskussionen und Realitäten, unabhängig von Wahlprognosen und -ergebnissen. Deshalb hat meine Regierung zugesagt, in den kommenden vier Jahren 0,25 Prozent des BIP für die militärische Unterstützung der Ukraine aufzuwenden. Andere Länder sollten das Gleiche tun.
Wir sind unserer Bevölkerung schuldig, dies zu erklären. Die Sicherheitslage in Europa wird schwierig bleiben. Wir alle müssen uns darauf einstellen und sicherstellen, dass der Krieg mit Russlands Niederlage endet. Nur dann können wir sicher sein, dass es seine Aggression in Zukunft nicht fortsetzt oder ausweitet. Wir sollten aus der Geschichte lernen, dass das, was anderswo passiert, schnell auch hier passieren kann. Wir müssen also die Aggression stoppen und Russland abschrecken. Daher schützen wir uns am besten, wenn wir der Ukraine helfen, ihren Kampf für die Freiheit zu gewinnen.
Hoffnung und Schutz
Unser Europa wird nie zu Ende sein. Nach jeder Krise, nach jeder Erweiterung, nach den prägenden Erfahrungen jeder neuen Generation muss sich der Kontinent immer wieder neu erfinden. Das ist notwendig, damit die Menschen den Sinn und die Bedeutung von Europa erkennen. Und es ist außerdem notwendig, um neben der Hoffnung auf eine bessere Zukunft auch greifbare Vorteile zu bieten, wie zum Beispiel die Sicherheit für unsere eigene Bevölkerung.
Innerhalb der EU haben wir vereinbart, zusammen eine Million Schuss Artilleriegranaten für die Ukraine herzustellen. Wir diskutieren über eine gemeinsame Beschaffung und einen gemeinsamen Zugriff auf Verteidigungskapazitäten innerhalb der EU. All das ist ein klares Beispiel für ein Umdenken: Es gibt keine Freiheit, keinen wirtschaftlichen Wohlstand ohne nationale Sicherheit.
Die Richtung ist also klar: Die europäischen Länder müssen sicherstellen, dass sie in der Lage sind, sich auch vor Bedrohungen und Angriffen von außen zu schützen und zu verteidigen. Das ist notwendig, um unseren gemeinsamen Markt, unseren wirtschaftlichen Wohlstand und das Wohlergehen und die Freiheit unserer Bürger zu sichern.
Freiheit gibt es nicht umsonst. Wir alle zahlen für sie. Und wir müssen unseren Wählern erklären, was sie kostet. Wir dürfen keine Angst haben – im Gegenteil: Es ist die Angst selbst, die wir am meisten fürchten müssen. Wie mein Vater mir immer gesagt hat, kann nur die Freiheit die Sicherheit geben, um die Angst zu besiegen und ein gerechtes Leben zu garantieren.
Kaja Kallas ist Premierministerin und Vorsitzende der liberalen Reformpartei Estlands. Sie gilt als eine der wichtigsten Unterstützerinnen der Ukraine. Im Februar 2024 schrieb Russland sie deswegen zur Fahndung aus.
Dieser Artikel erschien ersmals in der Liberal Ausgabe 02.2024.