EN

Archiv des Liberalismus
Amartya Sen: Elemente einer Theorie der Menschenrechte

FNF
© FNF

Amartya Sen, geboren 1933, ist einer der politisch einflussreichsten Wissenschaftler unserer Zeit. Der in Westindien geborene Sohn eines Chemie-Professors studierte Ökonomie und Mathematik in Kalkutta, seine Promotion in Wirtschaftswissenschaften erfolgte in Cambridge, und bereits mit 23 Jahren erhielt er eine Professur für Ökonomie in Kalkutta. Später lehrte er an verschiedenen Universitäten in Indien, Großbritannien und den USA. Neben seiner wirtschaftswissenschaftlichen Forschung betrieb Sen ausgedehnte philosophische Studien und befasste sich immer wieder mit politischen Fragestellungen. Der dreifachen Ausrichtung seiner Arbeit entsprechend gilt Sen als ein Klassiker der Ökonomischen Theorie, wird aber auch von der Politikwissenschaft rezipiert, und mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ehrte man 2020 den „Philosophen, der sich als Vordenker seit Jahrzehnten mit Fragen der globalen Gerechtigkeit auseinandersetzt [...}“[1]. Für seine Arbeiten zur Wohlfahrtsökonomie und zur Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung wurde ihm 1998 der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften verliehen, und mehr als hundert Ehrendoktorwürden hat er erhalten.

Sens opulentes Œuvre umfasst eine Vielzahl von Büchern sowie mehr als hundert Aufsätze. Letztere haben teilweise den Umfang kleinerer Monografien, weshalb der Reclam Verlag sich entschlossen hat, (bisher) drei von Sens einflussreichsten Aufsätzen jeweils als eigenen Band in seine Universal-Bibliothek aufzunehmen.[2]

Zum Kernbestand liberalen politischen Denkens gehört die (rechts-)philosophisch begründete Vorstellung, dass es unveräußerliche Menschenrechte gibt, die der Staat zu garantieren hat – und die im „klassischen“ Liberalismus als individuelle Freiheits- bzw. Persönlichkeitsrechte sowie als politische Partizipationsansprüche formuliert sind. Inwieweit „Rechte der zweiten Generation“, wie Sen sie nennt (S. 9), also wirtschaftliche und soziale Rechte, den gleichen Anspruch erheben können, als originäre Menschenrechte zu gelten, ist umstritten. Während es für die Garantie der bürgerlichen Freiheitsrechte hinreichend ist, dass der Staat diese Rechte durch gesetzliche Regelungen realisiert, erfordert die Umsetzung wirtschaftlicher und sozialer Rechte ein Mindestmaß an Wohlstand und das Vorhandensein der erforderlichen Infrastruktur. Konkret gesagt: Wo Nahrungsmittel ebenso fehlen wie ein funktionierendes medizinisches Versorgungssystem, kann von „Wohlfahrtsrechten“ im Sinne einklagbarer Rechtsforderungen schwerlich die Rede sein.

Um auf der theoretischen Ebene einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden, rekurriert Sen auf das, was seiner Ansicht nach den formalen Kern jeglicher Menschenrechte ausmacht: Er versteht sie in erster Linie als „moralische Ansprüche“. Ihre legislative Umsetzung ist in diesem Sinne lediglich eine von mehreren Möglichkeiten ihrer Verwirklichung, sozusagen ein Anwendungsfall, aber eben nicht der einzige (S. 24). Öffentliche Anerkennung und öffentliches Engagement einschließlich eines „Monitorings“ von Rechtsverstößen, also deren öffentliche Anprangerung (z. B. durch einflussreiche Nichtregierungsorganisationen), können sogar eine wesentlich wirksamere Umsetzung von Menschenrechten bewirken als ihre Verankerung in der Gesetzgebung (S. 14), die in vielen einschlägigen Zusammenhängen gar keine Rolle mehr spiele (S. 25).

Den materialen Gegenstand dessen, was Menschenrechte seien, bezeichnet Sen als „Freiheiten“. Es geht ihm allerdings nicht darum, diese Freiheiten inhaltlich näher zu bestimmen – er ist sich bewusst, dass ein solcher Versuch stets mit dem Vorwurf der Beliebigkeit zu rechnen hat. So haben für Sen diejenigen Freiheiten, die als Grundlage der Menschenrechte gelten sollen, „‚gewisse Schwellenbedingungen‘ der besonderen Bedeutung und sozialen Beeinflussbarkeit“ zu erfüllen (S. 13). Die „soziale Beeinflussbarkeit“ erweist sich in der politischen Praxis, nämlich durch das öffentliche Engagement vieler für die Einhaltung bestimmter Freiheiten; Sen erkennt es als eine Pflicht jedes Einzelnen, für als wichtig anerkannte Freiheiten einzutreten. Ihre Anerkennung wiederum, und damit ihre „besondere Bedeutung“, kommt diesen Freiheiten durch einen breiten öffentlichen Konsens zu – und damit auch ihre Universalität.

In der Betonung der Universalität der Menschenrechte bewegt sich Sen im Rahmen der seit dem 18. Jahrhundert in Europa und Nordamerika aus natur-/vernunftrechtlichen Theorien entwickelten Menschenrechtserklärungen. Diese hatten jedoch ihren universalen Anspruch häufig zugunsten der jeweils einzelstaatlichen Verwirklichung zurückgenommen und dieses Defizit mit einer unterschiedlichen Fortschrittsentwicklung der einzelnen Völker zu rechtfertigen versucht. Amartya Sen hingegen besteht auf der Universalität, sieht die Freiheiten, welche die Menschenrechte ausmachen, als angemessene conditio humana, und erklärt dies zum Beweggrund dafür, es nicht beim freudigen Gebrauch der eigenen Freiheiten zu belassen, sondern sich auch „für die wichtigen Freiheiten der anderen zu interessieren“ (S. 26). Es geht ihm um Rechte, die „für alle Menschen gelten sollen“ (S. 57).

Ein ungehinderter öffentlicher Diskurs darüber, welche Freiheiten von ausreichender Wichtigkeit seien, um in den Kanon der Menschenrechte aufgenommen zu werden, ist für Sen konstitutiv für deren theoretische Bestimmung. Der Gegensatz zwischen individuellen Freiheits- und gesellschaftlichen Wohlfahrtsrechten wäre damit ebenso überwunden wie eine nationalstaatlich begrenzte Realisierung. Es geht Sen um eine globale Verwirklichung der im globalen Diskurs anerkannten Menschenrechte – eine Menschheitsaufgabe, die trotz der gravierenden Unterschiede in Kultur und Rechtssystem zu lösen ist. Dafür sieht er drei Ansätze, die sich parallel entwickeln und gegenseitig beeinflussen:

  • Anerkennung: Eine Klasse von Ansprüchen wird als grundlegende Menschenrechte anerkannt, „jedoch nicht notwendig im positiven Recht verankert oder institutionell durchgesetzt“; Beispiel: die UN-Menschenrechtserklärung von 1948 (S. 46 f.);
  • Aktivismus: „Organisiertes Eintreten für die Einhaltung bestimmter grundlegender, als Menschenrechte betrachteter Ansprüche aller Menschen“ und die Erzeugung gesellschaftlichen Drucks gegen Verletzungen dieser Rechte. Hier wird insbesondere die Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights Watch, Oxfam und anderen beispielhaft genannt (S. 47 f);
  • Gesetzgebung: Viele Gesetze wurden durch Einzelstaaten oder Staatenverbünde erlassen, und damit wurde „bestimmten, als grundlegende Menschenrechte betrachteten Rechten Rechtskraft verliehen“. Hinzu kommen die Wächterfunktionen z.B. des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und anderer Institutionen in verschiedenen Teilen der Welt (S. 48 f.).

Sens Theorie der Menschenrechte ist soziologisch aufgeklärt, wie sich an Beispielen zeigt, an denen er darlegt, dass keineswegs jedes Menschenrecht „in ein genau spezifiziertes, gesetzlich verankertes Recht gegossen werden sollte“ (S. 49 f.). Insofern sich die moralischen Ansprüche, die Sen als Menschenrechte gelten, auf soziales Handeln beziehen, können für deren Verwirklichung andere Maßnahmen erheblich sinnvoller sein. Sein zentraler Satz in diesem Zusammenhang lautet: „Aufgrund der Wichtigkeit von Kommunikation, engagiertem Eintreten, Aufdeckung und Anprangerung von Missständen sowie fundierter öffentlicher Diskussion können die Menschenrechte Einfluss nehmen, ohne dabei notwendigerweise auf eine zwingende Gesetzgebung angewiesen zu sein.“ Der Autor setzt, wie oben schon deutlich wurde, mehr auf den Druck des öffentlichen Diskurses als auf staatliche Rechtsgarantien. Angesichts der traurigen Menschenrechtssituation in vielen Ländern der Welt mag diese Skepsis gerechtfertigt sein.

Ob allerdings das Idealbild eines öffentlichen Diskurses, in dem die Berechtigung moralischer Ansprüche, als Menschenrechte aufzutreten, festgestellt und durch den die Einhaltung solcher Rechte politisch und gesellschaftlich allgemein erzwungen werden kann, Sens Optimismus rechtfertigt, darf mit guten Gründen bezweifelt werden. Mehr denn je erleben wir einen wachsenden Einfluss machtvoller Partikularinteressen und gezielter Desinformation auf öffentlich geführte Debatten. Die Voraussetzungen für das Gelingen des öffentlichen Diskurses – Information, Aufklärung und Herrschaftsfreiheit im Habermas’schen Sinn auch bei Sen – sind derzeit längst nicht generell gegeben. Sens Theorie der Menschenrechte, wiewohl theorieimmanent brillant dargelegt, erschöpft sich im Hinblick auf ihre Praxistauglichkeit letztlich in einem „Appell zur individuellen wie institutionellen Übernahme kosmopolitischer Verantwortung“.[3]

 

[1] Aus der Verleihungsurkunde, abgedruckt in: Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hrsg.): Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Amartya Sen. Frankfurt/M. 202

[2] Außer dem hier rezensierten Band handelt es sich um „Gleichheit? Welche Gleichheit?“ sowie „Rationale Dumm-

köpfe. Eine Kritik der Verhaltensgrundlagen der Ökonomischen Theorie

[3] Claus Dierksmeier: Amartya Sen: Ökonomie für den Menschen. In: Manfred Brocker (Hrsg.): Geschichte des politischen Denkens. Das 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 2018, S. 880–893.

 

Hier geht es zu allen Rezensionen:

Liberale Literatur unter der Lupe 1/22

ADL Rezensionen

Zweimal jährlich informiert das Archiv des Liberalismus über Neuerscheinungen zum Thema Liberalismus. Vorgestellt werden diesmal 21 wissenschaftliche Publikationen zu Theorie, Geschichte und Gegenwart des deutschen und internationalen Liberalismus.

Weiterlesen