EN

175 Jahre Reichsverfassung
Das Erbe von 1849 im deutschen Grundgesetz – zum 175-jährigen Jubiläum der Reichsverfassung

Die Paulskirchenverfassung vom 28. Maerz 1849" in der Paulskirche in Frankfurt am Main

Die Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849 in der Paulskirche in Frankfurt am Main.

© picture alliance / epd-bild | Peter Juelich (Jülich)

Irgendwie ist man schon erstaunt festzustellen, dass es in der deutschen Verfassungsgeschichte einen Bogen von hundert Jahren zwischen 1849 und 1949 gibt. Dabei ist es noch viel mehr als nur eine lose Beziehung; es ist eine zum Teil wörtliche Übernahme der Grundrechte, die – vermittelt über die Weimarer Reichsverfassung von 1919 – 100 Jahre später ihren Weg in unser heutiges Grundgesetz gefunden haben. Es gibt also genug Gründe, einen kurzen Blick auf jene Reichsverfassung von 1849 zu werfen, die unser Rechtsleben indirekt bis heute beeinflusst, zumal sie in ihrem Kernbestand seinerzeit von Liberalen geschrieben wurde.

28. März 1849 Annahme der Reichsverfassung

Der liberale Präsident Eduard Simson rief mittags um 12 Uhr die Abgeordneten zur 196. Sitzung der Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche zusammen. Seit die „Männer des deutschen Volkes“ am 27. Dezember 1848 die Grundrechte in einem separaten Gesetz bereits verabschiedet hatten, waren fast auf den Tag genau drei Monate ins Land gegangen. Seitdem hatten Liberale und Demokraten nach einer Balance zwischen Volkssouveränität und konstitutioneller Monarchie gesucht, sich vor allem über ein allgemeines oder beschränktes Wahlrecht und die Frage der Erbmonarchie gestritten.

Die ersten Monate des Jahres 1849 waren von taktischen politischen Spielen und weitreichenden Plenardebatten um die Frage einer groß- bzw. kleindeutschen Lösung der deutschen Frage bestimmt. Aber in der Zwischenzeit waren die politischen Rahmenbedingungen immer schwieriger geworden; die Gegenrevolution feierte immer neue Erfolge. Angesichts dieser Situation wurden Ende März die Entscheidungen in schneller Folge getroffen: Am 27. März 1849 stimmte eine denkbar knappe Mehrheit von 267 zu 263 Stimmen für ein Erbkaisertum, am nächsten Tag, dem 28. März, erfolgte die Verabschiedung der Reichsverfassung und der preußische König Friedrich Wilhelm IV. wurde mit 290 Jastimmen bei 248 Enthaltungen zum Kaiser der Deutschen gewählt.

Eine von Liberalen geschriebene fortschrittliche Verfassung

Die Reichsverfassung von 1849 war und ist ein insgesamt beeindruckendes Dokument. Die 197 Paragraphen regelten in sieben Abschnitten die Staatsorganisation des Reiches, die Befugnisse von Staatsoberhaupt, Regierung, Reichstag und Reichsgericht, die Grundrechte sowie die Sicherstellung der Verfassung. Es war das Ergebnis von taktischen Erwägungen und eines Kompromisses zwischen Liberalen und Demokraten, dass am Ende ein allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Männerwahlrecht beschlossen wurde. Der liberale Abgeordnete Karl Biedermann aus Zwickau kommentierte, man habe dies gegenüber der Linken „als Akt der Versöhnung“ verstanden, „ein Freudenopfer, welches wir nach gewonnenem Siege darbrachten, oder auch, wenn man will, ein Sühnopfer, womit wir die, wie wir wohl wußten, zahlreich vorhandenen Antipathien gegen das preußische Erbkaisertum, mehr noch außerhalb als innerhalb der Versammlung, mit unseren Beschlüssen auszusöhnen hofften.“ Der ausgehandelte Kompromiss bedeutete, dass Deutschland allein mit dem Wahlrecht mehr als zwei Jahrzehnte seiner eigenen Geschichte und der europäischen Staatenwelt weit voraus war; aber auch die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit war ein großer Schritt in die Moderne.

Reichsverfassung, verabschiedet durch die Frankfurter Nationalversammlun am 28.3.1849.

Die Reichsverfassung, verabschiedet durch die Frankfurter Nationalversammlung am 28.3.1849.

© picture alliance / akg-images | akg-images

Die Ablehnung der Kaiserkrone durch den preußischen König

Es lag also keineswegs an der parlamentarisch beschlossenen und fortschrittlichen Reichsverfassung, sondern an dem zwischenzeitlichen Erstarken der Revolutions- und Verfassungsgegner, dass das Dokument nicht in Kraft trat. Letztlich scheiterte die Verfassung am negativen Votum des preußischen Königs. Die zögerliche und zunächst verschwommen wirkende Erklärung Friedrich Wilhelms IV. gegenüber der Kaiserdelegation am 3. April 1849 war in Wirklichkeit eine Ablehnung des „Reifs aus Dreck und Letten [d.h. Ton]“, wie der Monarch die Verfassung intern bezeichnete. Seine Haltung zeigte sich auch Ende April, als er das verfassungsfreundliche preußische Abgeordnetenhaus auflöste. Die Kollektivannahme der Reichsverfassung durch 28 deutsche Staaten Mitte April 1849 blieb dagegen ebenso wirkungslos wie die im Mai einsetzende Reichsverfassungskampagne. Der Rest war ein trauriger Abgesang: Das aus Frankfurt nach Stuttgart geflohene Rumpfparlament als Rest der Deutschen Nationalversammlung wurde Mitte Juni aufgelöst und die Revolutionäre wurden mit der Kapitulation in Rastatt einen Monat später niedergeschlagen.

Die Fortwirkung der Verfassung von 1849 bis in unser Grundgesetz

Dennoch kehrte man nach 1849 nicht vollständig zu den Verhältnissen der Vormärzzeit zurück. Was einmal gedacht wurde und passiert war, konnte nicht aus den Köpfen gestrichen und ungeschehen gemacht werden. Viele Inhalte und Formulierungen, vor allem im Grundrechtsteil, wurden siebzig Jahre später durch den liberalen Staatsrechtler Hugo Preuß in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 wieder aufgegriffen. Und weitere dreißig Jahre danach setzte sich der spätere Bundespräsident Theodor Heuss mit seiner Darstellung über „Werk und Erbe von 1848“ intensiv mit der Reichsverfassung auseinander. Vor allem durch Heuss‘ Einfluss im Parlamentarischen Rat fanden etliche Formulierungen der 1848/49 beschlossenen Grundrechte 100 Jahre später Eingang in unser Grundgesetz von 1949. Die Frankfurter Reichsverfassung von 1849 eignet sich somit auch heute noch als ein bedeutender Baustein für die Erfolgsgeschichte des Liberalismus in Deutschland.