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Türkei
Türkische Meinungsumfragen zum Krieg in der Ukraine

Recep Tayyip Erdogan

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht während einer russisch-ukrainischen Gesprächsrunde im Dolmabahce-Palast

© picture alliance/dpa/TASS | Sergei Karpukhin

Noch am ersten Tag der russischen Invasion in der Ukraine rief die türkische Regierung zur Respektierung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine auf und verurteilte den Einmarsch der russischen Truppen. Seither bemüht sie sich einerseits um nicht zu lautstarke Unterstützung der befreundeten Ukraine, sei es durch die fortgesetzte Lieferung von Kampfdrohnen, die Schließung des Bosporus für Kriegsschiffe im Rahmen der Montreux-Konvention oder humanitäre Hilfe durch die Direktion für Katastrophen- und Notfallmanagement (AFAD) und den türkischen Roten Halbmond. Andererseits bemüht sie sich, die Beziehungen zum wichtigen Wirtschaftspartner und Energielieferanten Russland nicht zu beschädigen. So bot sie sich wiederholt als Vermittlerin an und war zuletzt Gastgeberin der ukrainisch-russischen Waffenstillstandsverhandlungen. Auch hat sie weder den Luftraum für russische Flüge geschlossen noch russischen Oligarchen oder dem russischen Präsidentenberater Anatoli Tschubais die Einreise verweigert. Die aus Ausgleich setzende Position der offiziellen türkischen Politik spiegelt sich in gewisser Weise in den Ansichten der Bevölkerung. Auch hier befürwortet nach wie vor die Mehrheit die Wahrung der Neutralität zwischen den Kriegsparteien. Laut den kurz nach Kriegsbeginn vom Istanbuler Meinungsforschungsinstitut Istanbul Ekonomi Araştırma (IER) veröffentlichten Umfrageergebnissen sind die meisten Menschen gegen eine offene Unterstützung der Ukraine durch die Türkei. Ebenso lehnen 71 Prozent die mögliche türkische Beteiligung an Sanktionen gegen Russland ab.

Während 58 Prozent der Befragten meinen, die Ukraine müsse Russlands Sicherheitsinteressen anerkennen, lehnen sogar 82 Prozent türkische Waffenlieferungen an die Ukraine ab.

Die Frage, ob auch ein Lieferstopp türkischer Kampdrohnen vonnöten sei, verneinten jedoch 61 Prozent. Hier gehen die Meinungen vor allem nach Parteizugehörigkeit weit auseinander.  Während eine Mehrheit der AKP-, İYİ-Partei- und MHP-Wählerinnen und Wähler die Lieferung weiterer Kampfdrohnen an die Ukraine befürworten, sind 50,6 Prozent der CHP- und 58 Prozent der HDP-Wählerinnen und Wähler dagegen. Beobachter sehen gegenüber diesen sehr auf Neutralität ausgerichteten Umfragewerten kurz nach Kriegsbeginn allerdings einen deutlichen Schwenk der öffentlichen Meinung zugunsten der Ukraine beziehungsweise der unschuldig vom Krieg betroffenen Ukrainerinnen und Ukrainer. Russland wird inzwischen weithin deutlich als der Aggressor benannt.

Eine im März ebenfalls vom IER durchgeführte Umfrage beschäftigt sich mit dem Verhältnis der Türkei zu internationalen Partnern. Dabei sprachen sich 52 Prozent der Befragten für eine Annährung der Türkei an die EU aus. Nur 19 Prozent wünschen sich engere Beziehungen mit den arabischen Golfstaaten, 12 Prozent mit den USA, 10 Prozent mit Russland und 8 Prozent mit China. Der Wunsch der Mehrheit der Gesellschaft nach engeren Beziehungen zu Europa könnte einem Wandel in der türkischen Außenpolitik förderlich sein.

Die Türkei wird mit großer Wahrscheinlichkeit eines der Länder außerhalb des Konfliktgebiets sein, die vom Krieg zwischen Russland und der Ukraine am meisten betroffen sein werden. Die Türkei hat mit beiden Staaten wichtige strategische und wirtschaftliche Partnerschaften, besonders im Lebensmittelhandel sowie auf dem Energie- und Tourismus-Sektor. Der Wunsch der türkischen Öffentlichkeit nach einer Politik, die das Land vor Schaden durch den Ukrainekrieg bewahrt, ist offensichtlich. Dem entspricht das Navigieren der Führung in Ankara. Derweil lassen sich hinter den Kulissen Hoffnungen vernehmen, das Land könne sogar von den Wirtschaftssanktionen profitieren, da sich Investitionen von Russland in die Türkei verlagern könnten. Die Befürchtungen vor Kollateralschäden ist in der Türkei groß, sowohl in der Politik als auch in der Bevölkerung. Ob die Politik des Ausbalancierens zwischen den Kriegsparteien sie verhindern kann, ist noch offen.