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Vietnam
Das dröhnende Schweigen

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  • Ein in diesem Jahr in Kraft getretenes vietnamesisches Gesetz stellt einen Meilenstein dar. Es definiert sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz klar und deutlich und macht Arbeitgeber dafür verantwortlich, sexuelle Belästigung zu verhindern und über Beschwerden zu entscheiden.
  • Aber Unternehmen verfügen bis jetzt noch nicht über klare Richtlinien zur Umsetzung des Gesetzes. Eine Kultur des Schweigens, „Victim Blaming“ und die weitverbreitete Akzeptanz des „Neckens“ von Frauen erschwert es ihnen, sich zur Wehr zu setzen.
  • Viele Opfer der sexuellen Belästigung ziehen es vor zu schweigen, um sich selbst zu schützen und ihren Arbeitsplatz nicht zu gefährden.

P Nguyen (27), Projektassistentin bei einem Bauunternehmen, wusste nicht mehr weiter. Ein verheirateter Kollege, 13 Jahre älter als sie, sendete ihr nachts regelmäßig Nachrichten, obwohl sie ihm sagte, dass es ihr unangenehm sei.

„Irgendwann verliert dein Freund das Interesse an deinem Körper“, hieß es in einer Nachricht. „Du bist mein Trophäenweibchen!“, hieß es in einer anderen. Er fotografierte sie heimlich auf der Arbeit und erzählte vor anderen Kollegen schmutzige Witze. An den Kollegen schien ihre Verlegenheit spurlos vorüberzugehen.

Nguyen, die von der abgelegenen Provinz Lào Cai im Nordwesten des Landes stammt, arbeitete damals im Rahmen eines Zweimonatsvertrages auf der von Männern dominierten Baustelle in der Provinz Soc Trang, 230 Kilometer von der Unternehmenszentrale in Ho Chi Minh City entfernt. Sie wohnte gemeinsam mit anderen Arbeitern aus der Großstadt in einem Wohnheim.

Nach monatelangen ungewünschten Nachrichten kam es schließlich zum Eklat. Eines Tages stand Nguyen spätnachmittags nach Feierabend vor dem Wohnheim und sprach am Telefon, als sich ihr Kollege näherte. Unvermittelt steckte er seine Hand in das kleine Etui, das sie sich an einem Umhängeband um den Hals gehängt hatte. Seine Hand war auf ihrem Brustkorb, während er versuchte, einen Schlüssel aus dem Etui zu holen.

„Was zum Teufel machst du da?“ schrie sie, so laut sie nur konnte.

„Ich musste am helllichten Tage schreien, damit er wusste, dass er sich nicht mit mir anlegen sollte“, erzählt sie später. „Ich sagte ihm, er solle sich von mir fernhalten.“

Erst drei Monate vor dem Zwischenfall war ein neues Arbeitsgesetz in Kraft getreten, das die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz verbietet.

Der Mann entschuldigte sich nicht.

„Er schien nicht zu verstehen, dass er mich belästigte“, sagt Nguyen. „Wenn ich mich bei meiner Vorgesetzten beschwert hätte, glaube ich nicht, dass sie gewusst hätte, was sexuelle Belästigung bedeutet.“

Später fand Nguyen heraus, dass sie nicht die Einzige war, die von dem Verhalten des Mannes angewidert war. Erst nach dem Zwischenfall vertraute sich eine Kollegin Nguyen an und sagte, sie müsse lange Hosen tragen, um sich vor den lüsternen Blicken des Mannes zu schützen.

Im Jahr 2019 erließ die vietnamesische Regierung eine Verordnung, mit der das Arbeitsrecht novelliert wurde. Erstmals enthielt es nun eine detaillierte Definition der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz und legte fest, dass es sich dabei um einen triftigen Grund für eine Rüge, eine Verzögerung bei der Gehaltserhöhung, eine Herabstufung oder eine Entlassung handle. Jedoch definiert das Gesetz, das im Januar in Kraft trat, die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz nicht als strafbare Handlung.

Es legt auch nicht fest, welche Handlungen genau als verboten gelten. Das Dekret überließ Arbeitgebern die Entscheidung, ob es sich bei einem gemeldeten Fehlverhalten um sexuelle Belästigung handelt. Disziplinar- und Strafmaßnahmen liegen ebenfalls im Ermessen des Arbeitgebers. Das Gesetz gibt auch keine Strafen für Unternehmen vor, die ihrer Verpflichtung nicht nachkommen, eine Richtlinie gegen die sexuelle Belästigung umzusetzen.

Außerdem stehen dem Gesetz große Herausforderungen gegenüber, da es in Vietnam auf eine Kultur des Schweigens beim Thema sexuelle Belästigung sowie die weitverbreitete Akzeptanz des „Neckens“ von Frauen trifft.

Interviews mit acht Opfern von sexueller Belästigung, fünf Frauen und drei Männern, die im Privatsektor und in Nichtregierungsorganisationen arbeiten, zeigen, wo das Gesetz zu kurz greift. Ihre Schilderungen zeigen auch, dass junge Fachleute, insbesondere, wenn sie aus den weniger entwickelten Teilen Vietnams stammen, einem höheren Risiko ausgesetzt sind, am Arbeitsplatz sexuell belästigt zu werden.

Das neue Gesetz im Zuge von #MeToo

Die kommunistische Regierung ist stolz darauf, dass die Geschlechtergleichstellung seit der Machtergreifung 1945 in der Verfassung verankert ist. Die Geschlechtergleichstellung ist darüber hinaus in anderen wichtigen Texten festgehalten, wie zum Beispiel im Ehe- und Familiengesetz. 2006 wurde das Gesetz über die Geschlechtergleichstellung eingeführt. Es enthielt jedoch keine Verweise auf sexuelle Belästigung.

Der Begriff, der auf Vietnamesisch quấy rối tình dục heißt, wurde erstmals im Arbeitsgesetz von 2012 erwähnt, das die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz untersagte, jedoch den Begriff nicht klar definierte. Im Jahr 2015 gaben die Handelskammer (Viet Nam Chamber of Commerce and Industry) und der Gewerkschaftsdachverband (Viet Nam General Confederation of Labour) gemeinsam einen Verhaltenskodex zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz heraus.

Sexuelle Belästigung

Übergriff im Fahrstuhl: Bußgeld über 8 US-Dollar

Im Jahr 2018 versuchte eine junge Praktikantin bei der landesweit bekannten Zeitung Tuổi trẻ sich das Leben zu nehmen. Ihre Kollegen führten ihre Verzweiflungstat auf eine mutmaßliche Vergewaltigung durch ihren Redaktionsleiter zurück. Der Fall veranlasste Journalistinnen und andere Frauen dazu, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Die öffentliche Aussprache lange verschwiegener Missstände wurde als die #MeToo-Bewegung Vietnams bekannt. Die Frauen sagten, dass Belästiger nur selten beziehungsweise wenn, dann nur leicht bestraft würden. Sie nannten das Beispiel eines Mannes, der eine Frau in einem Aufzug küsste, obwohl sie sich dagegen wehrte, und der dafür lediglich mit einem Bußgeld in Höhe von umgerechnet etwa 8 US-Dollar bestraft wurde.

Obwohl Nguyen bereit war zu kämpfen, wusste sie nicht, an wen sie den Zwischenfall mit ihrem Kollegen melden sollte. Die Personalabteilung des Unternehmens befand sich in der Zentrale in Ho Chi Minh City und interessierte sich nicht für das, was auf den Baustellen geschah. Der Abteilung war viel eher daran gelegen, dass die Projekte fertiggestellt würden, sagte Nguyen.

Die direkte Vorgesetzte von Nguyen wollte zu dieser Geschichte keinen Kommentar abgeben, sagte aber, sie sei unwillig, sich in Probleme zwischen Angestellten einzumischen und dass sie niemanden entlassen wolle, bevor das Projekt nicht fertiggestellt sei.

„Vielleicht kann das Gesetz die Einstellungen meiner Kollegen und Vorgesetzten nicht ändern, die entweder glauben, ich hätte mich irgendwie falsch verhalten, oder dass das ‚Necken‘ von Frauen einfach Teil der männlichen Natur ist“, sagt Nguyen.

Wie andere Opfer von sexueller Belästigung macht Nguyen sich immer noch selbst Vorwürfe. „Von Zeit zu Zeit kann ich nicht anders als mich zu fragen, was ich wohl getan habe, dass meine männlichen Kollegen mich missverstanden“, sagt sie. „Ich habe nie aufreizende Kleidung getragen oder mit ihnen geflirtet. Warum haben sie mir das angetan?“

Ein Gesetz, von dem nur wenige gehört haben

Sechs Monate nach dem Inkrafttreten des neuen Arbeitsgesetzes haben viele Unternehmen – wie z.B. die Firma, bei der Nguyen beschäftigt ist – noch keine Richtlinien oder Mechanismen eingerichtet, um mit der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz umzugehen. Es wurden noch keine Unternehmensprozesse eingerichtet, durch die Opfer Regressansprüche geltend machen oder Whistleblower Beschwerde einreichen können.

M Hoang (28), Buchhalterin bei einem Logistikunternehmen in Hanoi, ist sich sicher, dass die Personalabteilung ihres Unternehmens die Richtlinien gegen die sexuelle Belästigung nicht auf dem aktuellsten Stand gehalten hat.

„Wenn es um die Vergütung geht, geht die Aktualisierung ganz schnell – aber sexuelle Belästigung hat wirklich keine Priorität. Ich bezweifle, dass sie überhaupt den Begriff verstehen“, sagt sie.

Sie erzählt von einem männlichen Kollegen mittleren Alters, der zufällig auch der Schwager ihrer direkten Vorgesetzten war und der ihr nachts Nachrichten schickte, unerwünschte physische Annäherungsversuche machte und von ihr Küsse verlangte, um seine Aufgaben zu erledigen.

Der männliche Kollege bat Hoang um einen Kuss, um im Gegenzug eine Arbeitsaufgabe zu erledigen

Der männliche Kollege bat Hoang um einen Kuss, um im Gegenzug eine Arbeitsaufgabe zu erledigen

Eines Tages, erinnert sich Hoang, war sie im Büro und trug einen knielangen Rock. Sie druckte gerade Dokumente, als der Mann ganz dicht an sie herantrat und flüsterte: „Wie kommt es, dass du heute so bedeckt bist?“

„Zu der Zeit bereitete ich mich gerade auf die Abschlussprüfungen meiner Abendkurse vor“, sagt Hoang. „Ich konnte mich drei Tage lang nicht konzentrieren. Ich hatte wirklich Angst. Was wollte er damit andeuten? Wollte er sagen, dass ich immer freizügige Kleidung trage?“

In den folgenden Tagen versuchte Hoang, sich von ihrem Kollegen fernzuhalten. Es gab niemanden in dem privatisierten Staatsunternehmen, in dem sie arbeitete, an den sie ihre Beschwerden hätte melden können.

„Meine Vorgesetzte verheimlichte die Vorzugsbehandlung nicht, die sie ihrem Schwager am Arbeitsplatz gewährte. Ihr das Fehlverhalten eines Familienmitglieds zu melden hätte für sie einen Gesichtsverlust bedeutet. Außerdem war sie die stellvertretende Leiterin der Gewerkschaft“, sagt Hoang.

Eine Kultur des Schweigens und der Akzeptanz

Das Problem der sexuellen Belästigung wurzelt in der Arbeitsplatzkultur sowie der Gesellschaft allgemein. In der Schule wird nicht unterrichtet, welche Handlungen sexueller Art sind und was die Grenzen des Akzeptablen überschreitet. Auch in der Öffentlichkeit werden solche Fragen nicht angesprochen. Frauen auf sexuelle Art zu necken gilt häufig als akzeptables Verhalten. Ein vietnamesisches Sprichwort besagt: „Blumen sind dazu da, gepflückt zu werden; Frauen sind dazu geboren, geneckt zu werden“.

Laut der Vietnam Organization for Gender Equality (VOGE), einer von Jugendlichen geleiteten Nichtregierungsorganisation, wird sich die Umsetzung des Gesetzes schwierig gestalten, wenn es keine unabhängige Behörde gibt, die Unternehmen direkt überwacht, unterstützt und berät, wenn es um die Verhinderung und den Umgang mit sexueller Belästigung geht. Vietnamesische Unternehmen sind in den meisten Fällen weit davon entfernt, das neue Gesetz in ihrem Tagesgeschäft umsetzen zu können, sagte ein VOGE-Vertreter in einer E-Mail. Außerdem sind sich Unternehmen der schädlichen Folgen der sexuellen Belästigung möglicherweise nicht in vollem Umfang bewusst.

Das gilt nicht nur für Privatunternehmen, sondern auch für Nichtregierungsorganisationen. Laut H. Ngoc, Aktivistin in einer Umwelt-NGO in Hanoi, ist sexuelle Belästigung in Vietnam ein offenes Geheimnis. Aus Gründen der Anonymität wollte Ngoc nur mit ihrem zweiten Vornamen genannt werden.

„Nicht einmal Nichtregierungsorganisationen, die vermeintlich die soziale Gerechtigkeit fördern sollen, schaffen es, ihren Worten Taten folgen zu lassen, von Privatunternehmen ganz zu schweigen“, sagt sie.

Das Problem ist nicht allein bei den Männern in der Organisation zu suchen. Laut Ngoc fand es eine ihrer Kolleginnen schmeichelhaft, wenn Frauen bezüglich ihres Aussehens oder ihrer Kleidung geneckt werden, obwohl dies für Ngoc an sexuelle Belästigung grenzt.

„Wenn ein Mann eine Frau unaufgefordert berührt, gilt es als freundliche und lebenslustige Geste“, sagt sie. „Aber wenn eine Frau bei einem Mann dasselbe tut, wird es als verführerisch und unsittlich betrachtet.“

In der vietnamesischen Kultur ist die offene Aussprache verpönt. Ein Sprichwort besagt: Geduld bringt Glück. Außerdem ist es am Arbeitsplatz sehr wichtig, das sprichwörtliche Gesicht, also die eigene Würde, zu wahren. Eine junge Frau, die gegen ältere oder höherrangige männliche Kollegen Beschwerde erhebt, kann einen Gesichtsverlust des männlichen Kollegen verursachen, was wiederum zu Problemen für die Beschwerdeführerin führen kann.

„Ein undichtes Haus leckt vom Dach“, sagt Hoang, die sich an die sexuelle Belästigung gewöhnt hat und sie jetzt als ein institutionelles statt nur ein individuelles Problem betrachtet.

Hoang erzählt, dass der Geschäftsführer ihres Unternehmens im Jahr 2018 eine Frau sexuell belästigte, die seinen sexuellen Annäherungsversuchen nachgab, um im Gegenzug berufliche Vorteile zu erlangen. Der Ehemann der Frau machte ihre Beziehung anschließend im Internet publik. Trotz des Skandals behielt der Vorgesetzte der Frau seinen Posten, während sein Opfer gezwungen wurde zu kündigen.

Einige Monate später schickte derselbe Mann Nachrichten an Hoang und machte ihr ein Geschenk: Einen Kalender mit Fotos von ihr selbst, die von ihrem Facebook-Profil heruntergeladen worden waren, darunter auch eines, in dem sie einen Bikini trug.

„Ich fand es widerlich, aber ich habe das Geschenk angenommen. Wenn ich es abgelehnt und meinen wahren Gefühlen Ausdruck verliehen hätte, hätte ihm das als Ansporn gedient, sich noch abstoßendere Dinge auszudenken. Wenn er es mit nach Hause genommen und seine Frau es entdeckt hätte, wäre es noch schlimmer gewesen“, sagt Hoang, die ihren Chef mit dem Hinweis auf ihre Angst vor der Eifersucht der Ehefrau behutsam aufforderte, die Fotos zu löschen. Sie reichte wegen Belästigung oder Verletzung der Privatsphäre keine Beschwerde ein.

Nicht nur machtlose Frauen

Vu, der aus der Provinz An Giang stammt und als Reiseleiter in Ho Chi Minh City arbeitet, sagt, dass die sexuelle Belästigung in der Tourismusbranche weit verbreitet ist.

„Ich bin sowohl von männlichen Kollegen als auch Touristen belästigt worden, sowohl online als auch offline“, sagt Vu, der sich als schwuler Mann identifiziert.

Kunden fragten zum Beispiel: „Bist du eine Person des dritten Geschlechts?“ und „Wie lang ist dein Penis?“ Vus Antwort hing davon ab, wie aufdringlich die Fragen waren. Er sperrte die Rufnummern von besonders aufdringlichen Personen, auch wenn er weiterhin als Reiseleiter für sie arbeitete.

Er sagt, dass Männer unerwünschte Annäherungsversuche im Allgemeinen nicht unbedingt als Belästigung ansehen. Sie sind oft auch unwillig, sich selbst als Opfer zu betrachten, fügt er hinzu.

T Le, Leiterin einer kleinen Bildungstechnologiefirma in Ho Chi Minh City, erhielt von ihrem amerikanischen Geschäftspartner unwillkommene Kommentare und physische Annäherungsversuche. Der Mann war außerdem Schulleiter einer bekannten internationalen Schule in Vietnam. Der Mann war etwa 20 Jahre älter als sie.

„Das Gesetz findet nur Anwendung, wenn die ungewünschten Annäherungsversuche am Arbeitsplatz und zu den normalen Arbeitsstunden stattfinden. Bei mir geschah es, als wir beide in einem Café ein Gespräch führten, also genaugenommen nicht am Arbeitsplatz. Welches Gesetz beschützt mich dann?“, fragt Le und weist damit auf eine Lücke im neuen Gesetz hin.

Man braucht ein Netzwerk, auf das man sich verlassen kann

Nguyen bekam ihren ersten Job in der Provinz Thanh Hoá, etwa 140 Kilometer von Hanoi entfernt. Es dauerte nicht lange, bis ein männlicher Kollege ihr jeden Tag unangemessene Nachrichten schickte und ihr nach Hause folgte, selbst nachdem ihr Freund, der im selben Unternehmen arbeitete, ihn damit konfrontiert hatte. Die Personalabteilung in ihrem japanischen Unternehmen war auch für Diskriminierungsfälle zuständig. Nachdem sie beim Abteilungsleiter eine formelle Beschwerde eingereicht hatte, erteilte dieser dem Belästiger eine schriftliche Verwarnung und drohte ihm bei weiterem Fehlverhalten mit Entlassung.

„Ich hatte das Glück, von meinen männlichen Kollegen unterstützt zu werden, die mich dazu drängten, eine Beschwerde einzureichen und über meine Erfahrungen nicht Stillschweigen zu bewahren – während manche meiner Kolleginnen hingegen die Belästigung in einer von Männern dominierten Arbeitsumgebung als gegeben hinnahmen“, sagt Nguyen. Leider, so fährt sie fort, gaben ihre weiblichen Kollegen ihr häufig die Schuld und meinten, sie sei übersensibel.

Auch Vu weist darauf hin, dass das Vertrauensverhältnis zu seinem Chef ihm den Mut gab, Kunden entschlossen entgegenzutreten, die ihn belästigten. „Ohne die Unterstützung meines Chefs hätte ich gekündigt. Zum Glück ergab sich die Frage nicht.“

Aus Hoangs Sicht erfordert die Entscheidung, das Schweigen zum Thema sexuelle Belästigung zu brechen, einen strategischen Balanceakt.

„In Vietnam wird man als Whistleblower nie unterstützt“, sagt sie. „Warum sollte ich ein solches Risiko auf mich nehmen, gegen ranghöhere Mitarbeiter und Vorgesetzte Beschwerde einzureichen? In jedem Fall haben Frauen das Nachsehen.“

Die Kolleginnen Hoangs rieten ihr, sich nicht zu beschweren, da Racheakte unvermeidlich wären. „Ich kann es nicht erwarten, meinen Job hier zu kündigen. Aber ich muss mich gedulden. Während der Pandemie ist es schwieriger, einen Job zu finden“, sagt sie.

Anstatt zu kündigen, beschloss sie, auf die suggestiven Nachrichten ihres Chefs nicht einzugehen – hingegen aber sehr zügig zu antworten, wenn es um die Arbeit ging. „Selbst wenn ich die Firma wechseln möchte, brauche ich ein Empfehlungsschreiben von meinen Vorgesetzten. Wenn ich es mir mit ihnen vermasselt habe, wie kann ich dann die Stelle wechseln? Andere Unternehmen möchten keine Leute anstellen, die es nicht schaffen, die Harmonie am Arbeitsplatz zu bewahren“, sagt sie.

Während Vu nicht zögerte, seine Kunden zu konfrontieren – sei es durch schnippische Antworten oder indem er ihre Rufnummern sperrte – war er gegenüber Kollegen nachgiebiger, die ihn online oder offline belästigten.

„Ich vergebe und vergesse. Ich tue so, als wäre nichts passiert. Ich gehe auf Nummer sicher: Ich halte Abstand, ermögliche es ihnen aber, Gesicht zu wahren“, sagt Vu.

Le stand vor der Wahl, sich entweder zu beschweren oder ihr Geschäft zu riskieren. Einen gut vernetzten westlichen Geschäftsmann zu entblößen könnte für ihr Geschäft nachteilig sein, dachte sie. „Ich muss mich darum kümmern, Aufträge abzuschließen, anstatt mir Feinde zu machen. Das Ende einer Partnerschaft kann bedeuten, dass man ganze Netzwerke verliert“, sagt sie.

 

Disclaimer: Dieser Bericht wurde durch Bildungsmaßnahmen und mit Mitteln der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit unterstützt.

 

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