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Kunst ohne Grenzen
Der Globale Süden wird endlich gehört

The milk of dreams

Die Ausstellung "The Milk of Dreams" von Cecilia Alemani

© picture alliance / Matteo Chinellato | Matteo Chinellato / ipa-agency.n

2022: Das Jahr der Post-Pandemie wurde mit einigen der renommiertesten Kunstevents der internationalen Kulturszene eingeleitet: von der Venedig Biennale in Italien über die Berlin Biennale zur documenta in Kassel. Während die meisten Reiserestriktionen aufgehoben wurden und die vor Kurzem noch obligatorische Gesichtsmaske fast vollständig verschwunden ist, hat sich eine Atmosphäre von Normalität über die wiedergewonnene physische Zusammengehörigkeit der Kunstwelt gelegt. Auf den ersten Blick scheint sich das “post-” nahtlos in das “pre-” einzureihen und obwohl die oben erwähnten Ausstellungen von ihren jeweiligen politischen, sozialen und thematischen Eigenheiten geprägt sind, kristallisieren sich bei genauem Hinsehen interessante Gemeinsamkeiten heraus. Zwar suggeriert das Präfix “post-” in Begriffen wie Postkolonialismus oder Post-Pandemie, dass etwas überwunden wurde, doch beschreiben diese Begriffe weniger einen Abschluss als vielmehr einen Status des Reparierens. In diesem Sinne ist dies ein Statusbericht über eine Entwicklung und etwaige Neuorientierung der Kunstwelt anhand der Schlagworte: femininer Blick, kollektive Stimme und Globaler Süden.

Die 59. La Biennale di Venezia eröffnete als erste der hier vorgestellten Großausstellung ihre Türen. Kuratiert von der Italienerin Cecilia Alemani verzeichnete sie gleich mehrere Nova: Als erste italienische Frau in dieser Rolle hat sie für ihre Ausstellung The Milk of Dreams viele dem breiten Publikum unbekannte Namen auf die Liste der Künstlerinnen und Künstler gesetzt, die mit einem mehr als Frauenanteil von 80 Prozent noch nie weiblicher war. Obwohl Alemani betont, dass das Geschlecht in den kuratorischen Überlegungen keine Rolle spielen sollte, ist angesichts der archaischen Ungleichheit in der Kunstwelt eine aktive Positionierung von Künstlerinnen eine implizite Anklage gegen diese andauernde Ungerechtigkeit.

Systemischer Blick über den Tellerrand

Auch die bewusste Auswahl von Künstlerinnen und Künstlern nach geografischen Indikatoren deuten auf die fortwährende Ungleichheit in der internationalen Kunstwelt hin. So werden immerhin Werke von zwölf Künstlerinnen und Künstlern aus afrikanischen Ländern auf der Biennale di Venezia ausgestellt: Portia Zvavahera und Kudzanai-Violet Hwami aus Simbabwe, Igshaan Adams und Bronwyn Katz aus Südafrika, Ibrahim El-Salahi aus dem Sudan, Antoinette Lubaki aus der Demokratischen Republik Kongo, Amy Nimr aus Ägypten, Magdalene Odundo aus Kenia und Elias Sime aus Äthiopien. Bei einer Gesamtzahl von 213 Künstlerinnen und Künstlern bilden die afrikanischen Vertreterinnen und Vertreter eine Minderheit – doch ist dies in der Gesamtbetrachtung der Biennale, die dieses Jahr ein starkes Bekenntnis für Diversität und Inklusion in der Auswahl einiger westlicher Pavillons aufzeigt, durchaus bemerkenswert. Es ist im Vergleich zu den letzten Jahren ein deutlicher Anstieg des Anteils an Frauen sowie an Persons of Colour (POC) zu verzeichnen, erkennbar an der Teilnahme von Sonia Dawn Boyce aus Großbritannien, Zineb Sedira aus Frankreich, Stan Douglas aus Kanada, Simone Leigh aus den USA und Maria Eichhorn aus Deutschland. Dies ist ein Trend, der ähnlich Alemanis Aussage zur Geschlechterfrage nicht als Besonderheit unterstrichen werden sollte, angesichts anhaltender Unterrepräsentation von POC in der Kunstwelt aber von großer Bedeutung ist. Mit der Auszeichnung des ugandischen Pavillons sowie die Verleihung des Goldenen Löwen an die afroamerikanische Künstlerin Simone Leigh blickt auch die Venedig Biennale selbst systemisch über den Tellerrand.

Die Basis der Venedig Biennale sind ihre Länderpavillons mit den jeweiligen spezifischen Ausstellungen. Kunst ist hier ein Mittel der Selbstdarstellung und Repräsentation innerhalb des internationalen (Kunst-)Diskurses und reflektiert durch die ausgewählten Künstlerinnen und Künstler eine moralische, soziale und politische Gesinnung. Wie eng die Vernetzung von Kunst und Realität in den teilnehmenden Ländern sein kann, zeigte der Rücktritt des Kurators sowie der Künstlerinnen und Künstler des russischen Pavillons – eine Entscheidung, die von der Biennale-Leitung unterstützt wurde – inklusive einer öffentlichen Solidaritätsbekundung mit der Ukraine. Kirill Savchenkov, einer der russischen Künstler, sagte dazu: (…) “Es gibt keinen Platz für Kunst, wenn Bürger unter Beschuss sterben, wenn Ukrainer sich in Schutzräumen verstecken, wenn russische Protestierende zum Schweigen gebracht werden. Als Russe werde ich meine Werke nicht im russischen Pavillon auf der Venedig Biennale repräsentieren.”

Künstlerische Auseinandersetzung mit dem Austragungsort

Auch wenn das Wort “biennale” lediglich einen Zweijahresrhythmus beschreibt, ist die “Biennale” stets auch eine künstlerische Auseinandersetzung zwischen dem Austragungsort und der Herkunft der Kunstwerke aus geographischer wie auch temporaler Sicht. Diesem geografischen Aspekt wird bei der 12. Berlin Biennale für Zeitgenössische Kunst, die im Juni eröffnete, bewusst entgegengetreten. Denn: „auch wenn die Berlin Biennale in Berlin verortet ist, mit vielen Werken, die das widerspiegeln, ist es wichtig, dass sie einen Ort für Konversationen bietet, die auch anderenorts stattfinden und existieren können – ohne zwangsläufig mit Deutschland als Kontext verbunden sein zu müssen.“ So beschreibt es die senegalesische Kuratorin Marie Hélène Pereira, die Teil des diesjährigen Biennale-Teams mit Ana Teixeira Pinto aus Deutschland, Đỗ Tường Linh aus Vietnam, Noam Segal aus den USA und dem Deutschlibanesen Rasha Salti ist. Die kuratorische Leitung hat der französische Künstler Kader Attia inne.

Die Ausstellungen sind auf sechs Institutionen in der Stadt verteilt und behandeln thematische Schwerpunkte des Kolonialismus, Feminismus und des Konzepts des Reparierens – einen Zwischenstand und Moment des Übergangs von einem Status hin zu einem anderen. Eine überwältigende Mehrheit der 82 eingeladenen Künstlerinnen und Künstler stammen aus dem Globalen Süden und der Diaspora. Wie auch die Vielfalt des Organisationsteams der Berlin Biennale verdeutlicht die Auswahl der Künstlerinnen und Künstler die wachsende Kraft der in Deutschland und Europa lebenden Diaspora. Zahlreiche der gezeigten Kunstwerke behandeln das „Mapping“ von historischen Ereignissen, die bis heute Auswirkungen haben, beispielsweise die Restitution von Objekten aus kolonialen Kunstsammlungen in europäischen Museen. Die Objektgeschichte reflektiert die Geschichte und ihre Auswirkungen auf die diasporische Gemeinschaft und die damit zusammenhängenden Fragen von Herkunft, Identität und Heimat. (MOSES MAERZ). Auch Werke mit einem weiblichen Blick auf historische Narrationen wie die Arbeit „Mechitza. Individueller und organisierter Widerstand von Frauen während des Holocaust“ (2019 – 2022) der polnischen Künstlerin Zuzanna Hertzberg, die Frauen und ihre Geschichten im jüdischen Aktivismus seit dem frühen 20. Jahrhundert porträtieren, sind dafür beispielhaft. Auch wenn sich das Team der Berlin Biennale nicht als Kollektiv begreift, inkorporiert ihre Arbeitsweise bewusst eine Sammlung neuer Stimmen und Ideen, die sich in der Auswahl der Künstlerinnen und Künstlern sowie den Werken widerspiegelt. 

Bewusstsein für geografische Besonderheiten

Die documenta fifteen öffnete ihre Türen eine Woche nach der Berlin Biennale. Ähnlich wie bei den genannten Biennalen werden auch hier verschiedene Räume und öffentliche Plätze in Kassel bespielt. Das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa, das die diesjährige kuratorische Leitung der documenta übernommen hat, nutzt dafür den Titel Lumbung – ein indonesischer Begriff, der eine kommunale Reisscheune beschreibt. Es geht um eine Gemeinschaft, die auf gleichwertiger Ressourcenverteilung beruht und im Sinne der Kunst versucht, auch Museums- und Ausstellungsräume nach diesen Maßstäben zu nutzen und zugänglich zu machen.

Die erste documenta wurde 1955 eröffnet und findet seitdem alle fünf Jahre in Kassel statt. Das ursprüngliche Ziel war es, Nachkriegsdeutschland als Teil der globalen Kunstwelt sichtbar zu machen und den Übergang von der grausamen Vergangenheit hin zu einer positiven Selbstwahrnehmung durch internationale Repräsentation voranzutreiben. Die documenta wurde mit dem Bewusstsein der deutschen Geschichte und der geografischen Besonderheiten konzipiert.

Doch auch wenn auf künstlerischen Plattformen wie der Berlin Biennale oder der documenta heutzutage Ausstellungsstrategien statt Auseinandersetzungen mit dem Ausstellungsort in den Vordergrund rücken, ist dies für die Kunst eine Bereicherung. Jedoch kann es auch zu kuratorischer Ignoranz führen, so geschehen im Fall des antisemitischen Kunstwerks der indonesischen Gruppe Taring Padi auf der documenta. Das riesige Banner, aufgestellt auf dem Platz vor dem Fridericianum – einem zentralen Ort der Ausstellung – verwendet antisemitische Stereotype und Symbole. Nach lauter Kritik wurde es erst verhüllt und schließlich abgehängt. Es hätte niemals aufgehängt werden dürfen. Obwohl Lumbung als Ausstellung und als kollektives Handeln Korrelationen und Wechselwirkungen deutlich machen will, wurde hier der Moment des kritischen Reflektierens deutlich verpasst.

Weitere Themen der Ausstellungen beleuchten Fragestellungen, warum indigenes Wissen von zentraler Bedeutung ist, um mit den Missständen der Moderne umgehen zu können – insbesondere mit Diskriminierung, Ausbeutung und dem Klimawandel, aber auch sozialer Ungleichheiten. Kunst wird hier als Mittel für kollektives Verständnis und Toleranz genutzt. Sie ist zwar politisch, nimmt aber die individuelle menschliche Ebene in den Blick und unterstreicht damit ihre poetische Seite. Stimmen von historisch marginalisierten Gruppen wie Frauen, POC und LGBTIQ+ werden nicht als spektakulär, sondern als normaler Teil des globalen Kollektivs betrachtet und adressiert.

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Übergang zu einer gleichberechtigten Kunstszene

Die beschriebenen Kunstereignisse reihen sich unter die einflussreichsten der internationalen Kunstszene ein. Die künstlerische Kuration, die behandelten Themen und die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler können über die Kunstwelt hinaus Debatten und Veränderungen auslösen. Kunst spiegelt die Vergangenheit und Gegenwart wieder und bietet Einblicke in eine mögliche Zukunft. Sie ist ein Ort, an dem Themen diskutiert werden können, die die Gesellschaft prägen. Alle drei hier beschriebenen Ausstellungen fordern den Status quo eines Systems heraus, in dem zu lange von vorneherein entschieden war, wer gehört und gesehen werden soll. Die neuen kuratorischen Methoden ermöglichen die Schaffung von Räumen und Auseinandersetzungen, die von Vielfalt und Diversität geprägt sind und einseitige Sichtweisen hinter sich lassen.

Kunst war immer schon ein Mittel zur Erschaffung von Welten und ein Spiegel für die Welt – damals wie heute. Die Macht der Kunst, deren steigender finanzieller Wert sowie deren ideologischer Nutzen sind wichtige Charakteristika, die die Kunst stets begleiteten und oft propagandistisch inszeniert wurden. Durch die Öffnung der Kunstszene für Vielfalt und eine stärkere Sichtbarkeit des Globalen Südens werden die Kunst und die dadurch ausgelösten Diskurse resistenter. Sie können heute diverse Ansichten, Geschichten und Nuancen aufgreifen. Dafür sind Veränderungen bei den Schlüsselpositionen und Entscheidungsträgern ausschlaggebend und überfällig. Die hier vorgestellten Beispiele zeigen den hoffentlich nachhaltigen Übergang hin zu einer gleichberechtigten Kunstszene.