Gedenktag 9. November
„Viele Menschen wollen den Antisemitismus nicht wahrhaben“

von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Synagoge
© picture alliance/dpa | Klaus-Dietmar Gabbert

Der 9. November ist ein ambivalenter Gedenktag der deutschen Geschichte. Er steht für den Fall der Mauer 1989 und damit einen demokratischen Aufbruch. Er erinnert aber auch an die gewaltsame Judenhetze, die 1938 zum systematischen Niederbrennen jüdischer Geschäfte und Synagogen und dem Tod hunderter Menschen in der Pogromnacht führte. Nur wenige verbinden den 9. November zusätzlich mit dem Hitlerputsch 1923 und der Ausrufung der Republik 1918.

In diesem Jahr erhält der 9. November besondere Aufmerksamkeit. Der Anlass könnte kaum bedrückender sein. Knapp einen Monat nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel wird in Deutschland wieder intensiv über Antisemitismus diskutiert. Wie kann es sein, fragen viele, dass Jüdinnen und Juden hierzulande 85 Jahre nach der Reichspogromnacht wieder Angst haben, auf die Straße zu gehen? Wie konnte es so weit kommen, dass Juden Kippa und Davidstern verstecken müssen und ihre Kinder nicht mehr zur Schule gehen? Diese Fragen intensiv zu diskutieren, ist angesichts der schockierenden Welle antisemitischer Anfeindungen seit dem Angriff der Hamas so berechtigt wie notwendig. Zur Realität gehört aber auch: Schon vor den Ereignissen des 7. Oktobers 2023 wurden Juden in Deutschland beleidigt, bedroht und angegriffen. Das wollen viele Menschen jedoch nicht wahrhaben.

Der Hass gegen Juden war in unserer Gesellschaft stets vorhanden. Er hat sich der Allgemeinheit selten auf so dramatische Weise offenbart wie an Jom Kippur 2019, als ein Rechtsextremist versuchte, in eine Synagoge in Halle einzudringen und dabei zwei Menschen ermordete. Doch auch abseits solch extremer Gewalttaten werden Juden in Deutschland regelmäßig antisemitisch angefeindet und angegriffen. Das belegen nicht nur Erfahrungsberichte, sondern auch die 2.480 gemeldeten antisemitischen Vorfälle allein im vergangenen Jahr. Es gibt in Deutschland keinen gesellschaftlichen Raum, in dem Juden frei von Ressentiments leben können.

Das ist angesichts verstärkter Präventionsarbeit und vielfältigen zivilgesellschaftlichen Engagements eine bedrückende Bestandsaufnahme.

Zu oft wird Antisemitismus relativiert, ignoriert oder unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit legitimiert. Es waren nicht nur Rechtsextremisten, die während der Covid-Pandemie antisemitischen Verschwörungstheorien Aufmerksamkeit und Applaus schenkten. Es sind nicht nur Islamisten, die israelische Juden eines Genozids an Muslimen beschuldigen und die Hamas als Befreiungsbewegung feiern. Antisemitismus ist keine abstrakte Bedrohung, sondern bittere Realität im Alltag der 90.000 in Deutschland in jüdischen Gemeinden lebenden Jüdinnen und Juden. Auf dem Schulhof, im Büro und insbesondere in den sozialen Medien sehen sich Juden aller Altersgruppen mit latentem wie offenem Antisemitismus konfrontiert. Er reiht sich ein in die lange Geschichte der bis in die Antike zurückreichenden Diskriminierung und gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden.

So war auch der Pogrom der Hamas letztlich die Fortführung eines Jahrhunderte alten Vernichtungswahns gegen Juden, der in der Shoah kulminierte. Als sich in der Nacht vom 9. November 1938 Tausende Deutsche an Übergriffen gegen Juden beteiligten, war dies der Vorbote des schwersten Verbrechens der Menschheitsgeschichte: der systematischen Ermordung von über sechs Millionen Juden in Europa.

Aufgrund dieser historischen Verantwortung sind das Existenzrecht Israels und somit der Schutz jüdischen Lebens heute deutsche Staatsräson. Doch wie viel Gewicht hat dieser Grundsatz in unserer Gesellschaft, wenn Polizeischutz für jüdische Kindergärten, Schulen und Synagogen heute wieder Normalität ist? Wenn der Staat Israel in Teilen der Gesellschaft nicht abwägend kritisiert, sondern eindimensional dämonisiert wird? Wenn ihm sein Existenzrecht gänzlich abgesprochen wird?

Antisemitismus ist tief in unserer Gesellschaft verwurzelt, das Problem jedoch nur oberflächlich im Bewusstsein der Menschen präsent. Es ist zu hoffen, dass das Thema Antisemitismus künftig nicht nur zu historischen Gedenktagen oder bei gewalttätigen Übergriffen auf Juden Aufmerksamkeit erhält. Solange der Antisemitismus in Deutschland schwelt, werden wir unserer historischen Verantwortung nicht gerecht.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Bundesjustizministerin a.D., Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen und stellvertretende Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 8. November 2023 beim Tagesspiegel.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zum Antisemitismus

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