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Krieg in Europa
Nahrungsmittelindustrie der Ukraine: Eine Lebensader unter Druck

Nahrungsmittelknappheit

Ein ukrainischer Landwirt auf einem Mähdrescher entlädt geerntete Sonnenblumenkerne auf einen Lastwagen in der Nähe von Zaporiz'ke

© picture alliance / Vudi Xhymshiti/VX | Vudi Xhymshiti

Die ukrainische Wirtschaft leidet schwer unter dem russischen Angriffskrieg. Das ist auch nicht weiter verwunderlich – denn seit über zweihundert Tagen wütet der Krieg und vernichtet damit auch die Lebensgrundlage der Ukrainerinnen und Ukrainer. Über das gesamte Ausmaß der materiellen und wirtschaftlichen Schäden kann man bislang nur Vermutungen anstellen. Eine erste Einschätzung ermöglicht nun eine Umfrage des ukrainischen Wirtschaftsverbandes European Business Association. Insgesamt erlitten in den ersten fünf Monaten der russischen Aggression 41 Prozent der befragten ukrainischen Unternehmen wirtschaftliche Verluste von bis zu einer Million US-Dollar. 32 Prozent der Befragten schätzten ihre ökonomischen Schäden zwischen einer und zehn Millionen US-Dollar. Die übrigen Unternehmen hatten schon zu diesem Zeitpunkt Verluste in Höhe von mehr als 10 Millionen US-Dollar zu verbuchen.

Die Kampfhandlungen verheeren dabei große Flächen, zerstören wichtige Infrastruktur und verursachen somit auch schwere materielle Schäden. Weit über ein Drittel der ukrainischen Unternehmen sind direkt von Zerstörungen an ihrer Infrastruktur betroffen. Von den Unternehmen, deren Vermögenswerte zerstört oder beschädigt wurden, ist die Hälfte noch dabei, die Verluste zu dokumentieren. Erst 28 Prozent haben sich an die Strafverfolgungsbehörden gewandt. Nur ein geringer Anteil der Unternehmen hat daher zum jetzigen Zeitpunkt schon den Rechtsweg vor einem nationalen Gericht eingeschlagen. Inwieweit Rekompensation und Reparationszahlungen zu erwarten sind, ist sicherlich fragwürdig – und doch ermöglichen diese Maßnahmen die ersten wichtigen Schritte zur Bestandsaufnahme.

Zerstörung von zivilen Industrien

Russlands Krieg macht unter anderem der ukrainischen Lebensmittelindustrie schwer zu schaffen. Entlang der gesamten Wertschöpfungskette führt der russische Überfall zu Versorgungsengpässen und Knappheiten. Dass der Krieg die landwirtschaftlichen Kapazitäten der Ukraine enorm strapaziert, ist bereits etabliert. Aber auch die nachgelagerten Verarbeitungs- und Verfeinerungsprozesse werden behindert. In einigen Regionen der Ukraine wurde das verarbeitende Gewerbe infolge der Zerstörung beinahe gänzlich eingestellt.

Das Perfide daran: Im gesamten Land verbreiten russische Raketenschläge Angst und Schrecken. Diese konzentrieren sich insbesondere auch auf Industriestätten. Die Angestellten können ihrer Arbeit daher nur in ständiger Sorge nachgehen. Zusätzlich vernichten die Angriffe auch komplizierte Fertigungsanlagen und die benötigte Infrastruktur. Besonders prekär ist die Lage in den vorübergehend besetzten Regionen. Auch dort waren zahlreiche ukrainische und international tätige Unternehmen angesiedelt und produzierten Waren des täglichen Bedarfs.

Eine Süßwarenfabrik in der Stadt Trostyanets kann als passendes Beispiel herangezogen werden. Vor dem Ausbruch des Krieges wurden dort unterschiedlichste Schokoladenprodukte hergestellt. Das Unternehmen galt als eines der modernsten in der Branche und beschäftigte mehr als tausend Mitarbeiter. Die Waren wurden nicht nur in der Ukraine nachgefragt, sondern in rund 50 Länder in aller Welt exportiert. Allerdings wurde die Stadt gleich zu Beginn des Krieges von russischen Truppen besetzt und im Zuge dessen stark zerstört. Auch die Süßwarenfabrik wurde unter Beschuss genommen und geriet in Brand. Die Besatzungstruppen behinderten dann die Löscharbeiten, weshalb das Feuer mehr als einen Tag lang wütete. Das Ergebnis ist offensichtlich: Aus Trostyanets werden wohl auf absehbare Zeit keine Süßwaren mehr geliefert werden.

Derartige Schicksale häufen sich leider genauso wie die Berichte über Plünderungen und Zweckentfremdungen in den besetzten Gebieten. So werden Bürogebäude und die Betriebsgelände mancher Unternehmen von den russischen Besatzern als Hauptquartiere oder Aufmarschgelände in Beschlag genommen. Logischerweise ist eine Fortführung der unternehmerischen Tätigkeiten während einer solchen Besatzung nicht möglich.

Der Krieg führt aber auch zu Personalknappheit, was die ohnehin angespannten Produktionskapazitäten zusätzlich einschränkt. Ein wesentlicher Teil der ukrainischen Arbeitskräfte ist geflohen – sowohl innerhalb des Landes als auch über die Landesgrenzen hinweg. Hinzu kommen diejenigen Arbeitskräfte, die aus Furcht vor Angriffen ihren Arbeitsplatz meiden. Außerdem kosten eben diese Angriffe jeden Tag zivile Tote. Es wird zwar sicher noch lange dauern, bis zuverlässige Opferstatistiken vorliegen, aber der russische Raketenterror treibt die zivilen Opferzahlen in die Höhe. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die ukrainische Generalmobilmachung – ein wesentlicher Anteil der ukrainischen Männer befindet sich entweder in militärischer Ausbildung oder an der Front. Daher fallen sie in der Zwischenzeit für ihre Arbeitgeber aus.

Einbruch der Logistikketten

Aber auch weitere Faktoren jenseits der Zerstörung von Produktionsanlagen und dem Arbeitskräftemangel erschweren die wirtschaftliche Tätigkeit im Land. Mit dem Beginn des Krieges mussten die Einzelhändler ihre Logistikprozesse umstellen. Während der ersten Tage lag der Fokus auf der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, also Brot und Getränken sowie einigen Milch- und Fleischprodukten. Zu diesem Zeitpunkt verhinderte die Ungewissheit über die Fortentwicklungen des Krieges, die generelle Treibstoffknappheit und das entstandene öffentliche Chaos die Versorgung mit komplexeren Gütern.

Seither hat sich viel getan. Der anfängliche Schock ist überwunden, aber die Auswirkungen des Krieges machen sich nach wie vor deutlich bemerkbar. Denn auch außerhalb der besetzten Gebiete sind die Logistikkapazitäten nach wie vor eingeschränkt. Einerseits durch die beschriebene Zerstörung von Lager- und Produktionsstätten und andererseits auf Grund von neuen Bedarfslagen. Es folgt ein makabres Beispiel: Kühltransporter, die ursprünglich für den Transport von verderblichen Lebensmitteln gedacht waren, werden nun an anderer Stelle benötigt – für den Rücktransport der Gefallenen sowie zum Bergen der zivilen Opfer. Auch andere Lastkraftwagen werden in der aktuellen Situation an anderer Stelle dringlicher gebraucht. Eine ohnehin schreckliche Situation, die noch dazu die Kapazitäten von Einzelhandel und Logistikunternehmen zu sprengen droht und somit die Versorgung der Zivilbevölkerung gefährdet.

Damit aber noch nicht genug: Schwere russische Schläge gegen essenzielle Zentrallager haben einen wesentlichen Teil der Vorräte von ukrainischen Lebensmittelproduzenten und großen Handelsketten besonders in der Anfangszeit vernichtet. Seit der Zerstörung einiger solcher Logistikzentren haben sich die Unternehmen um eine neue Herangehensweise bemüht. Nun werden die Produkte in einer Vielzahl von dezentralen Lagern verwahrt – dadurch wird das Risiko gestreut und der Verlust ganzer Versorgungsketten vermieden. Allerdings gehen damit auch deutlich höhere Kosten einher – und die ohnehin angespannte Situation der Warenlogistik gestaltet sich noch komplizierter.

Not macht erfinderisch

Die ukrainischen Nahrungsmittelhersteller und Supermärkte haben sich nun allerdings zunehmend an die neuen Bedingungen angepasst. Beispielsweise hat die Direktvermarktung lokal produzierter Waren deutlich zugenommen. Allerdings suchen die Handelsketten in verschiedenen Städten der Ukraine weiterhin nach Herstellern und Lieferanten, die die Supermärkte unabhängig beliefern können. Daher mussten auch neue Versorgungsrouten erschlossen werden. So ist beispielsweise der Anteil der Güter, der über das Schienennetzwerk verfrachtet wird, deutlich gestiegen. Zusätzlich wird nun mithilfe von digitalen Plattformen der Güterbedarf sowie das verfügbare Angebot in den einzelnen Regionen verfolgt und in Echtzeit optimiert. Das wiederum ermöglicht es, neue Versorgungsketten zu erschließen und selbst unter den Kriegsbedingungen unterschiedliche Marktteilnehmer, öffentliche Institutionen und internationale, humanitäre Engagements miteinander zu verknüpfen. Daher vereinfachen digitale Plattformen Abstimmungsprozesse zwischen den unterschiedlichen Akteuren und erleichtern die Rückkehr zu einer gesicherten Versorgung des ukrainischen Volkes. Vor diesem Hintergrund schließen zunehmend auch importierte Güter die Versorgungslücken.

Die Initiativen zeigen schon Früchte. Laut der oben genannten Umfrage der European Business Association hat ein Großteil der ukrainischen Unternehmen ihre Arbeit bereits zumindest zum Teil wieder aufgenommen. Das Beeindruckende dabei: Rund die Hälfte der befragten Betriebe ist bereits zum Regelbetrieb zurückgekehrt. Ebenfalls auffällig ist die gewachsene Bedeutung von digitalen Absatzkanälen. Knapp 20 Prozent der Unternehmen setzen seit Beginn des Krieges verstärkt auf das Online-Geschäft.

Agrarexporte

Die ukrainischen Landwirte und Lebensmittelproduzenten tun ihr Bestes, um die Versorgung aufrecht zu erhalten. Dabei geht es aber nicht nur um die Bedürfnisse des eigenen Volkes. Die Ukraine war und ist ein wichtiger Agrar- und Lebensmittelexporteur – insbesondere auch für einige Länder Afrikas und Asiens. Laut Prognosen der Vereinten Nationen wird die Zahl der hungernden Menschen im Laufe des Jahres um 47 Millionen steigen. Es gilt in der Ukraine daher nicht nur den heimischen Markt zu versorgen, sondern gleichzeitig auch die Versorgungsengpässe auf den Weltmärkten zu schließen – nicht zuletzt auch, um wichtige internationale Einnahmequellen aufrecht zu erhalten.

Nach Angaben des ukrainischen Ministeriums für Agrarpolitik und Ernährung verfügt die Ukraine nach wie vor über Reserven an essenziellen Getreiden. Nur um einige zu nennen: In den Lagern befindet sich noch genug Weizen für zwei Jahre, Öl für fünf Jahre und Mais für eineinhalb Jahre – zusätzlich wurde trotz des Krieges ein Großteil der Ernte dieses Jahres eingefahren. Angesichts der vollen Kontore versuchen Landwirte, Lebensmittelproduzenten und Exporteure den Außenhandel wieder in Schwung zu bringen. So gelang es der ukrainischen Wirtschaft im Juli 2022 trotz der russischen Seeblockade drei Millionen Tonnen landwirtschaftlicher Erzeugnisse über alternative Routen zu exportieren. Seit Anfang August ist der Seeweg wieder frei und der ukrainische Agrarhandel floriert wieder. Die Exportvolumina erreichen nun wieder das Vorkriegsniveau.

Unermüdlich arbeiten die Vertreter der Lebensmittelbranche entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Vom Landwirt über den Metzger bis zum Lastkraftwagenfahrer – sie alle stellen auch unter widrigsten Bedingungen die Versorgung der ukrainischen Bevölkerung sicher und ernähren auch den Rest der Welt. Und dennoch: Nichts außer ein rascher ukrainischer Sieg und ein Ende des Krieges kann die Versorgung nachhaltig sicherstellen. Der Ausnahmezustand darf nicht vollends zur Normalität werden.

Maximilian Luz Reinhardt ist am Liberalen Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit  Referent für Wirtschaft und Nachhaltigkeit.
Tetiana Schyrochenko ist Leiterin des Komitees der European Business Association.