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"Homosexuell gilt als krank"

Über das Dasein sexueller Minderheiten in Marokko
Gy pride

Gay pride in London für die Rechte homosexueller Muslime.

© iStock/ Bikeworldtravel

Im Gespräch mit freiheit.org äußert sich Prof. Ahmed Assid zu sexuellen Minderheiten in Marokko. Ahmed Assid ist Mitbegründer des säkularen Think Tanks Damir (arab.: Gewissen), einer Partnerorganisation der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und eine starke Stimme von Minderheiten in Marokko. Der berberstämmige Intellektuelle, Schriftsteller und Aktivist wurde 1961 in Taroudant im Atlasgebirge im Süden Marokkos geboren. In Zeitungen, im Radio und auch im Fernsehen meldet er sich vor allem zu Fragen der Kultur, der Identität und der Demokratie zu Wort. Als Verfechter des Säkularismus sucht er bisweilen die Konfrontation mit religiösen Kräften, deren Antwort nicht immer friedlich ist. So hat der Salafistenscheich Abou Naïm ihn in einer fatwa als „Affen“, „Feind Gottes“ sowie „Ungläubigen und Apostaten“ bezeichnet, wobei in Marokko nur die fatwa des Hohen Rates der Rechtsgelehrten (ulema’) gültig sind, dem der Extremist nicht angehört. Abou Naïms Anhänger könnten dies dennoch als Mordaufruf verstehen.

Wie ist die Lage von sexuellen Minderheiten in Marokko?

Die sexuellen Minderheiten sind in Marokko nicht anerkannt. Sexualität bleibt im Allgemeinen ein Tabu, das außerhalb der öffentlichen Diskurse und der Reflektion steht. Zwei Ereignisse bekräftigen dies: Im Jahr 2002 hat der Minister für nationale Bildung Abdellah Saaf (von den Linken) entschieden, eine Enzyklopädie der Sexualkundeerziehung über die Schulbibliotheken zu verteilen. Die Konservativen haben daraufhin eine Kampagne geführt, bis sich der Minister gezwungen sah, das Buch von den Schulen zurückzuziehen. Im zweiten Fall wurde 2012 ein Privatradio vom Rundfunkrat  HACA (Haute Autorité de la Communication Audiovisuelle) sanktioniert, weil es jungen Marokkanern die Gelegenheit gegeben hätte, sich über sexuelle Vorstellungen auszutauschen. Die Radiostation musste 100.000 Dirham (damals rund 9.000 €) bezahlen.

Folglich bleibt Sexualität ein Tabu, das es auch schwierig macht, das Thema sexuelle Minderheiten anzusprechen. Dies verankert das Monopol der Religiösen auf dieses Thema, so dass die Mehrheit der Menschen im Land denkt, dass legitime Sexualität allein in der Ehe stattfindet – und das zu einem Zeitpunkt, zu dem Marokkaner täglich verschiedene Formen sexueller Praktiken kennenlernen, über die sie jedoch nie sprechen.

Ahmed Assid

Ahmed Assid

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Warum kann der Paragraph 489 des Strafgesetzbuches bezüglich Homosexualität nicht abgeschafft werden, obschon er im Widerspruch zur Verfassung steht?

Die neue marokkanische Verfassung bleibt unklar und voller Widersprüche. Sie erwähnt den Schutz der Freiheitsrechte, aber insistiert gleichzeitig auf dem Respekt dessen, was man „die Konstanten des Königreichs“ nennt, mit anderen Worten den Bereich, für den man die Religion instrumentalisiert. 2011 wollten die Entscheidungsträger alle zufrieden stellen, um die Spannung auf der Straße zu mindern, woraus eine schizophrene Verfassung resultiert. Andererseits bleibt das Erziehungswesen archaisch im Bezug auf demokratische Werte. Es vermittelt religiösen Fanatismus sowie die Nichtbeachtung von Unterschieden und marginalisiert wissenschaftliche Erkenntnisse. Dies hält eine feindliche Einstellung gegenüber Aspekten des modernen Lebens aufrecht. All das erlaubt es nicht, den Artikel 489 des Strafgesetzbuches abzuschaffen.

Wie wird sich die Lage für sexuelle Minderheiten entwickeln?

Die Vorstellung der Marokkaner über die Homosexualität bleibt traditionell und intolerant. Der Homosexuelle wird immer als krank oder abnormal angesehen.

Olaf Kellerhoff ist Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Marokko.