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Krieg in Europa
„Am schlimmsten sind die häufigen Luftalarme und Explosionen"

Ein Augenzeugenbericht aus Kiew im Krieg und auf der Flucht aus der Ukraine
Der Bahnhof Lviv in der Ukraine ist zum Drehkreuz für Geflüchtete geworden

Der Bahnhof Lviv in der Ukraine ist zum Drehkreuz für Geflüchtete geworden

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picture alliance/dpa/Vincent Haiges | Vincent Haiges

Im 21. Jahrhundert wütet in Osteuropa wieder ein echter Krieg - mit Raketen-, Artilleriebeschuss, Bombardierungen etc. Er wütet in der Ukraine. Dieser Krieg hat von heute auf morgen die Schicksale von Millionen radikal verändert. Gut 1,5 Mio. Menschen haben bereits ihr Zuhause verlassen müssen und sich in Richtung Westen begeben. Manche bleiben in den westlichen Regionen der Ukraine, die anderen wollen ins Ausland gehen – nach Moldau, Rumänien, Ungarn, in die Slowakei und nach Polen. Viele bleiben dort, einige ziehen weiter westwärts.

Die Flüchtlinge bewegen sich mit den Autos, Bussen oder mit der Eisenbahn. Auf den ukrainischen Straßen gibt es viele militärische Checkpoints, riesige Staus und praktisch kein Benzin zum Tanken. Die Autos bleiben stehen, und die Menschen müssen weiter zu Fuß gehen. Riesige Menschenströme nutzen deshalb die Bahn. Die ukrainische Eisenbahn (Ukrsalisnytsia) stellt praktisch alle vorhandenen Verkehrsfahrzeuge dafür bereit. Trotzdem gibt es davon viel zu wenig. Fahrkarten gibt es keine mehr, alle Kassen bleiben geschlossen.

Nun möchte ich meine eigenen Erfahrungen vom Leben in der Frontstadt und von der Flucht beschreiben. Ich habe 14 Jahre lang für die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Projektbüro Kyjiw gearbeitet. Seit dem 1. Januar 2022 bin ich im Ruhestand. Trotz dieser Tatsache kontaktierten mich gleich nach dem Ausbruch des Krieges meine ehemaligen Projektleiter/Innen sowie andere Personen mit Stiftungsbezug wie ehemalige Praktikanten oder Teilnehmer unserer Maßnahmen. Sie alle haben mich und meine Frau zu sich eingeladen, ja aufgerufen, nach Deutschland zu fliehen und Unterkunft angeboten.

Zunächst dachten meine Frau und ich zu Hause in Kyjiw zu bleiben. Dann aber wurde die Situation immer komplizierter und gefährlicher. Die meisten Supermärkte schlossen, nur manche von ihnen arbeiten, immer abwechselnd, und bieten nur noch sehr wenig Ware an. Vor den Läden bildeten sich lange Schlangen. Am schwierigsten ist es mit Brotwaren. Diese gibt es nur ab und an, und sie sind sofort ausverkauft. Ebenfalls problematisch wurde es mit den Apotheken. Sie öffnen nur selten und verkaufen an der Außentür. Vor solchen Apotheken sind die Schlangen noch größer als vor den Supermärkten, und sie bewegen sich noch langsamer. Die Menschen informieren ihre Bekannten und Nachbarn darüber, wo es plötzlich etwas zu kaufen gibt. In unserem Wohnhaus wurde extra eine Chatgruppe angelegt, damit die Nachbarn einander über wichtige Dinge informieren konnten, sich gegenseitig vor den Gefahren warnten und auf verschiedene Weise unterstützten.

Von 20:00 Uhr bis 07:00 Uhr besteht in Kyjiw die Sperrstunde. Am schlimmsten aber sind die häufigen Luftalarme und Explosionen. Zwar gibt es Luftschutzräume, allerdings sind sie nicht gut vorbereitet. Meistens sind es Keller in verschiedenen Gebäuden. Sehr schnell entwickelt man die Gewohnheit, wirklich bei jedem Geräusch aufzuhorchen.

Für uns kam der entscheidende Moment, uns auch auf den Weg aus der Ukraine zu machen, durch die Explosion einer Rakete (wie sich später gezeigt hat) – nur etwa 500 m von unserem Wohnhaus entfernt. Es war spät am Abend und ganz in der Nähe des Bahnhofs. Am nächsten Morgen, dem 3. März, packten wir ein paar Sachen und begaben uns zum Bahnhof. Dort gab es viele Menschen, jedoch viel weniger als noch am Vortag. Gleich beim Betreten des Bahnhofsgebäudes haben wir eine Durchsage gehört, dass an einem Gleis der nächste Zug nach Lwiw steht. Wir eilten dahin. Dort stand eine alte Elektritschka (ukr. und russ. Bezeichnung für regionale Vorstadt-Pendlerzüge), und die Waggons waren so voll, dass sich die Menschen in allen Gängen drängten. Die Waggontüren waren geöffnet und wir fanden einen Waggon, wo es noch etwas Platz in der Einstiegspartie gab. Wir sind dort eingestiegen und gleich nach uns war auch diese Einstiegspartie voll. Man konnte nur stehen oder sich auf Koffer setzen.

So haben wir noch über eine Stunde gewartet, bis der Zug losfuhr. Fahrpläne gibt es nicht mehr. Die meisten Passagiere waren Frauen, viele mit Kindern, sogar mit Babys. Neben uns saß auch eine hochschwangere Frau. Es gab kaum Männer – offenbar deshalb, weil nach der Generalmobilmachung ukrainische Männer im Alter zwischen 18 und 60 nicht länger über die Grenze dürfen. Es gab auch Passagiere mit Haustieren. Trotz des furchtbaren Gedränges waren alle Menschen sehr höflich zueinander und hilfsbereit. Viele tauschten ihre Telefonnummern aus. Sehr viele Leute mussten die ganze Fahrt über stehen. Meine Frau und ich konnten wechselweise auf unserem Koffer sitzen. Manche Leute saßen auf dem Fußboden, wenn es Platz gab.

Für zwei Nachbarn unserer Einstiegspartie im Waggon war dies schon die zweite Flucht. Sie waren bereits Binnenflüchtlinge aus Donezk im Jahr 2014. Der Zug hatte neun Waggons, und der Lokführer sagte durch, dass es nur in drei Waggons Toiletten gab. Aber auch sie waren für die meisten schlecht zugänglich, denn man konnte kaum durch das Gedränge hindurch. Die Menschen mussten Verbindungsstellen zwischen den Waggons als Toiletten benutzen. Die Waggons wurden so beheizt, dass es drinnen extrem warm war (nicht aber in unserer Einstiegpartie) und die Passagiere über die Rückverbindung baten den Lokführer, die Heizung ganz abzustellen.

Unsere Fahrt nach Lwiw dauerte 12 Stunden. Vor dem Krieg brauchte ein Intercity-Zug für diese Strecke sieben Stunden. Währenddessen hielt der Zug nur an vier Bahnhöfen an. Wegen der Tarnung gab es keine Beleuchtung. Mehr noch, der Lokführer verbat auch jegliche Nutzung von Mobiltelefonen. Einige Male hielt der Zug wegen des Luftalarms an.

In Lwiw sind wir um drei Uhr nachts angekommen. Der Lwiwer Bahnhof war überfüllt mit Menschen. Beängstigend war die enorm lange Schlange vor dem Bahnsteig, woher die Züge nach Przemyśl abfahren, das bereits in Polen liegt. Am Bahnhof gibt es lange Reihen von Verpflegungstischen, auch mit warmen Speisen. Überall gibt es sehr viele Volontäre.

Auf der Flucht waren für uns die Hinweise unserer Freunde aus Deutschland sehr hilfreich – insbesondere eines befreundeten deutschen Journalisten, der selbst gleich nach dem Kriegsausbruch den Weg von Kiew nach Warschau zurücklegen musste. Er hat uns per WhatsApp auf der ganzen Strecke quasi ferngesteuert. Seine Hinweise waren sehr präzise und nützlich. Er hat uns z. B. gesagt, dass es vom Busbahnhof in Lwiw eine private Buslinie nach Warschau gibt. Darüber wussten nicht mal die Freiwilligen vor Ort Bescheid. Uns ist es gelungen, die Telefonnummer dieser privaten Busfirma herauszufinden und uns für den nächsten Bus zu registrieren, der nur 20 Minuten später bereitstand – wiederum hatten wir sehr viel Glück gehabt!  

Viele Passagiere, die mit der Eisenbahn nach Lwiw kommen, werden mit Bussen zum Stadion Arena Lwiw gebracht, wo sie auch übernachten können und woher Busse zur Grenze nach Polen fahren. Unsere Fahrt zum Grenzübergang Rawa-Ruska dauerte zwei Stunden mit vier Checkpoints. Die Grenzkontrolle auf beiden Seiten der ukrainisch-polnischen Grenze dauerte sieben Stunden, was verhältnismäßig wenig war. Unser Busfahrer berichtete, dass er das letzte Mal 1,5 Tage dafür brauchte.

Nach der Grenzabfertigung in Polen nehmen polnische Freiwillige die Flüchtlinge in Empfang – mit Verpflegung, Obst, Getränken, Kinderspielzeug etc. Ähnliche Orte der Unterstützung gibt es auch weiter auf den Raststätten entlang der Straße.

In Warschau konnten wir bei unseren Freunden übernachten und zogen weiter nach Berlin. Auch im Zug Warschau-Berlin gab es fast nur ukrainische Flüchtlinge, die ohne Fahrkarten fahren dürfen. Auch hier haben viele Menschen in den Gängen gestanden. In Frankfurt/Oder gab es zusätzlich einen leeren Sonderzug nach Berlin, wohin die platzlosen ukrainischen Passagiere eingeladen wurden.

Unser Zug kam im Berliner Hauptbahnhof mit zweistündiger Verspätung an. Auch dort wird die Betreuung für die aus der Ukraine-Geflüchteten gut organisiert. Wir wurden von meiner ehemaligen Projektleiterin Dr. Heike Dörrenbächer abgeholt, bei der wir Unterkunft fanden. Europa zeigt sich nicht gleichgültig gegenüber dem Leiden der Ukrainerinnen und Ukrainer – Danke!

Dichtgedrängte Geflüchtete aus der Ukraine warten auf die Weiterfahrt am Bahnhof in Lviv

Dichtgedrängte Geflüchtete aus der Ukraine warten auf die Weiterfahrt am Bahnhof in Lviv

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picture alliance / ROPI | Cozzoli/Fotogramma