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Krieg in Europa
Die neue russische Emigration: Wohin und warum laufen wir weg?

Menschen verlassen nach dem Beschuss von Mariupo die Stadt

Menschen verlassen nach dem Beschuss von Mariupo die Stadt

© picture alliance / AA | Leon Klein

Freitagabend im „Panda-Theater“ in der Kulturbrauerei Berlin. Die Karten sind schon längst vergriffen, viele Menschen sind aus anderen Städten, sogar aus anderen Ländern angereist. Eine der berühmtesten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands, Ljudmila Jewgenjewna Ulizkaja, tritt auf. Viele kamen mit ihren Büchern, um ein Autogramm zu ergattern: „Daniel Stein“, „Der Übersetzer“, „Jakobsleiter“, „Das grüne Zelt“ - fast jeder ihrer Romane wurde als ein großes Ereignis in der russischen Kultur gefeiert. Ulizkaja ist sichtlich aufgeregt. Natürlich, ist dies doch ihr erster Auftritt seit dem Ausbruch des Krieges. Und zum ersten Mal tritt sie in einer neuen Lebenslage auf - als Emigrantin. In diesem Jahr wird Ulizkaja 80 Jahre alt. Nein, sie wiederholt keine Plattitüden "Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal tun muss". Sie weiß, dass Zehntausende von russischen Bürgern diese Tage laut zu sich selbst sagen: Wie konnte das passieren? Warum müssen wir aus unserem Land fliehen? Wohin gehen wir, was erwartet uns? Was haben wir falsch gemacht?

Ulizkaja liest zum ersten Mal in der Öffentlichkeit Kurzgeschichten aus ihrer neuen Serie - es sind Geschichten über das Ende der Welt. Vor der Lesung sagt sie nur: "Ich habe darüber nachgedacht, was zum Untergang der Menschheit führen könnte, ich habe über Infektionen geschrieben, über Ökologie, aber ich hätte nicht gedacht, dass wir in der heutigen Zeit landen würden. Ich habe keine Geschichte über einen Mann verfasst, der auf den Atomknopf drückt.  

"Verzeihen Sie mir"

Nach den Lesungen stellt das Publikum Fragen. Eine großgewachsene, sehr hübsche blonde Frau steht auf: „Ich bin Ukrainerin. Ich bin extra für diesen Abend aus London eingeflogen. Und ich gebe mir die größte Mühe euch Russen nicht zu hassen.“

Das Publikum reagiert darauf sehr unterschiedlich. Einige sind empört. Jemand unterstützt die junge Frau. Ulizkaja versucht etwas zu sagen, aber man sieht ihr es an, wie schwer ihr die Worte fallen. Schließlich steht sie auf, geht an den Rand der Bühne und spricht leise: „Verzeihen Sie mir“.

Es ist unmöglich zu sagen, was genau Ljudmila Ulizkaja zu verantworten hat – eine Frau, die die Ukraine immer unterstützte, die Annexion der Krim scharf verurteilte, in Russland wegen ihrer Haltung angegriffen und von radikalen regimenahen Jugendgruppen, die aus dem russischen Staatshaushalt finanziert werden, oft als Verräterin verunglimpft wurde. Jetzt ist sie in Deutschland - mit einem dreimonate-gültigen Visum und ohne jede Versicherung, dafür aber mit ihrem Mann, dem berühmten Bildhauer Andrei Krassulin, der 87 Jahre alt ist.

Das Wort „Verräter" - mehr noch, „Volksverräter" - kam aus dem Mund von Präsident Putin an die Russen adressiert, die aus ihrer Heimat fliehen. Ist ihm eigentlich klar, dass er Adolf Hitler zitiert? Keiner weiß, was in seinem Kopf vor sich geht. Jedenfalls das Signal ist sowohl bei jenen angekommen, die es bisher nicht für notwendig hielten, ihre kritische Meinung über die Politik des Kremls und insbesondere über den von Russland entfesselten Krieg zu verbergen, als auch bei denjenigen, deren Aufgabe es ist, die Unzufriedenen zu unterdrücken. Es ist klar, dass diejenigen, die protestiert und Kritik geäußert haben, schon in nächster Zukunft besonders schwere Zeiten erwarten. Es ist allgemein bekannt, dass im letzten Monat viele zu „Präventivgesprächen" einbestellt wurden. Einige wurden festgenommen und durchsucht, einige hatten „vertrauliche Gespräche" mit dem FSB, und einige wurden gleich von Ermittlern verhört. Danach ziehen es die Menschen gewöhnlich vor, sofort das Land zu verlassen.

Nicht jeder geht, weil er Angst hat, verhaftet zu werden

Wie viele Menschen haben Russland seit dem 24. Februar bereits verlassen? Das weiß niemand genau. Nach Angaben der georgischen Behörden sind im letzten Monat 30.000 bis 50.000 Russen in das Südkaukasus-Land gekommen. Und in Armenien wurden in nur einem Monat etwa 10.000 neue Bankkonten von Russen eröffnet. Mehr Russen als sonst sind auch nach Kirgisistan, Usbekistan, Aserbaidschan, Montenegro und vor allem in die Türkei gereist, also in die Länder, für die russische Bürger kein Visum benötigen.

"Relocation Guide" ist der Name des größten Telegram-Chatraums zu diesem Thema. Er hat mehr als 100.000 Follower. Darin diskutieren sie, wohin sie gehen sollen, wie man Rubel, Lira, Dollar und Euro wechselt, wie man eine Wohnung mietet, einen Job findet, Tiere transportiert und was man an der Grenze sagen soll, falls man plötzlich (und das passiert, wie sie im Chatroom schreiben), ein ausführliches Verhör oder sogar eine Smartphone-Durchsuchung verordnet bekommt. Irina Lobanowskaja, Leiterin eines IT-Start-ups, hat den Chatroom eingerichtet. Neben diesem hat sie auch einen Leitfaden für den Umzug in verschiedene Länder verfasst: Anleitungen für den Umzug nach Mexiko, Thailand und sogar Australien. Insgesamt behandelt dieser Leitfaden die Einreisebedingungen für 36 Länder.

Nicht jeder geht, weil er Angst hat, verhaftet zu werden, aber fast jeder fürchtet sich vor Repressalien der einen oder anderen Art. Viele sagen, dass sie ihrer Kinder wegen gehen und ihnen eine bessere Zukunft wünschen. Sie gehen wegen der Männer im wehrpflichtigen Alter, um vor einer drohenden Generalmobilmachung zu entkommen, insbesondere 17- bis 18-jährige Jungs, die möglicherweise bald zur Armee eingezogen würden. Aber sie sind nicht die Einzigen.  

Die berühmteste Sängerin Russlands, Alla Pugatschowa, und ihr Ehemann, der Showman Maxim Galkin, der sich in letzter Zeit kritisch gegenüber den russischen Machthabern geäußert hat, haben sich nach Kriegsbeginn abgesetzt. Weggefahren sind der Schriftsteller und Dramatiker Viktor Schenderowitsch und die beliebte Schauspielerin Tschulpan Chamatowa, die die Wohltätigkeitsstiftung „Schenke das Leben“ leitet. Wissenschaftler und Lehrer, Künstler und IT-Spezialisten, politische Aktivisten und Ärzte verlassen die Heimat. Beliebte Blogger veranstalten ab und zu Abfragen: „Wer ist wo? Wer bleibt sonst noch hier?“ Es gibt immer weniger die Antworten: „Ich bleibe“.

Viele unabhängige Journalisten wurden zu ausländischen Agenten erklärt

Es ist bekannt, dass seit Beginn des Krieges mehr als 700 Journalisten Russland verlassen haben. Freie Meinungsäußerung, unabhängiges Urteilsvermögen und spontane Äußerungen waren ein Luxus, den sich in Russland nur wenige leisten konnten - nur die Prinzipientreusten und Mutigsten. Es gab nur einige wenige Sender, die für solche Aussagen zur Verfügung standen – wie der Radiosender „Echo Moskwy“ oder „Doschd TV“. Untersuchungen über die Korruption und die Verbrechen der Regierung Putins wurden trotz massiver Schikanen auf mehreren Websites und YouTube-Kanälen veröffentlicht. Viele unabhängige Journalisten wurden zu ausländischen Agenten erklärt und als solche in ein spezielles Register des Justizministeriums eingetragen, was ihnen das Leben sehr schwer machte: Sie mussten alle ihre Berichte bis hin zu privaten Fotos mit dem diskriminierenden und obligatorischen Satz in Großbuchstaben unterschreiben, dass sie ausländische Agenten sind. Sie mussten umfangreiche schriftliche Aufzeichnungen über ihre Aktivitäten, die Quellen ihrer Honorare und jeden Einkauf erstellen, egal ob es sich um das Toilettenpapier oder ein Stück Kuchen handelte. Sie wurden faktisch ihrer Einkünfte beraubt, und jede Geldüberweisung an sie bedeutete, dass die Organisation oder Person, die sie tätigte, ebenfalls auf die Liste der ausländischen Agenten gesetzt werden konnte.

Ganze Redaktionen wie z.B. die von „Doschd TV“ wurden ebenfalls zu ausländischen Agenten gebrandmarkt. Einige Medien wurden in Russland generell zu unerwünschten Organisationen erklärt, die Websites und Kanäle, die mit Alexej Nawalny in Verbindung stehen, wurden als extremistisch/terroristisch eingestuft. Gleichzeitig rief beispielsweise Ramsan Kadyrow, der tschetschenische Leader, in den staatlichen Medien offen zur physischen Gewalt gegen alle Andersdenkende auf und nannte dabei konkrete Namen und Medienunternehmen - vor allem Journalisten der „Nowaja Gaseta“ - von den zuständigen Aufsichtsbehörden bekam er dafür nicht einmal eine leichte Rüge.   

Aber dies alles war noch vor dem Krieg.

Sowohl „Doschd TV“ als auch „Echo Moskwy“ sind seit dem Beginn der Invasion in der Ukraine von allen Übertragungskanälen im Land ausgeschlossen. Andere russischsprachige Medien, die nicht in Russland ansässig sind – „Meduza“, „Present Time Channel“, „BBC Russian Service“ und andere - wurden ebenfalls blockiert. Twitter, Facebook und Instagram wurden ebenfalls gesperrt, aber die meisten aktiven Nutzer haben bereits VPNs installiert und die Sperren umgangen. Doch jetzt haben die russischen Behörden bereits damit begonnen, VPNs zu sperren. 

Ausgereiste Oppositionsjournalisten würden gerne nach Deutschland ziehen und hier weiterarbeiten

Die meisten der Journalisten, die gezwungen waren, Russland zu verlassen, nehmen weiterhin Podcasts auf, drehen Streaming-Shows, stellen neue Videos auf YouTube ein und laden unabhängige Experten – die meist ebenfalls das Land verlassen haben - zu Diskussionen und Debatten ein. Aber nur sehr wenige haben ihre Ressourcen zu Geld gemacht. Das soll nicht heißen, dass Journalisten und Blogger auf verlorenem Posten stehen - schon vor dem Krieg war ihr Leben sehr schwierig. Doch nun sind sie in verschiedene Länder zerstreut, ihre Familienangehörigen haben ebenfalls ihre Arbeit und ihr Zuhause verloren, und viele besitzen kein oder nur ein kurzfristiges Visum.

Aber es sind nicht nur oppositionelle Journalisten, die Russland verlassen. Noch im März wurde berichtet, dass mehrere prominente Personen die Propagandasender „RT“, „NTV“ oder „Channel One“ verlassen haben. Einige von ihnen haben erklärt, dass sie den Krieg nicht unterstützen wollen, allerdings kann die Haltung diesem gegenüber als eher verächtlich bezeichnet werden. Und zwar auf allen Seiten: von Regimegegnern ebenso wie von glühenden Befürwortern.

Ausgereiste Oppositionsjournalisten würden gerne nach Deutschland ziehen und hier weiterarbeiten. Zwei Dinge halten sie aber davon ab: das Fehlen einer eindeutigen Unterstützung bei der Visumserteilung und die ukrainische Flüchtlingskrise. Gut informierte Journalisten wissen, dass viele deutsche Großstädte, insbesondere Berlin, überfüllt sind. Auch Ukrainer, deren Leben mit den Medien verbunden ist, suchen hier Arbeit. Und natürlich ruft die Wortkombination „ukrainischer Journalist" hier viel mehr positive Emotionen und Sympathie hervor als „russischer Journalist". Diese beiden Wörter reichen nicht aus, um sich zu identifizieren - man muss noch die Wörter „Oppositioneller", „in Russland unerwünscht" und „Regimegegner" hinzufügen.

Nachdem sie gegangen sind, fühlen sie sich physisch in Sicherheit

Keiner der Journalisten, die weggegangen sind, fragt nach, ob es stimmt, dass die Russen in Deutschland jetzt schlechter behandelt würden. Es sind Profis, die wissen, wie und wo sie sich informieren können, und die wissen, wie sie die Realität von der Propaganda unterscheiden sollen - sie verstehen alles. Nachdem sie gegangen sind, fühlen sie sich physisch in Sicherheit. Aber jetzt sind sie damit beschäftigt, materielle Vorkehrungen für ihr neues Leben zu treffen und einen Status zu erlangen, der es ihnen ermöglicht, sich in den Ländern aufzuhalten, in die sie gegangen sind oder gehen möchten.

Nach dem Treffen mit Ulizkaja verließ ich das „Panda-Theater“ nach Mitternacht. Ich musste immer wieder an die schöne Ukrainerin aus London denken, die mit Schmerz darüber sprach, wie sehr sie sich anstrengen musste, um den Hass auf die Russen nicht zuzulassen. Ich wollte unbedingt mit ihr sprechen, aber ich konnte sie im Publikum nicht finden - sie schien schon etwas früher gegangen zu sein. Um mich herum ist das fröhliche nächtliche Prenzlauer Berg, ich stehe an einem Zebrastreifen und warte auf die grüne Ampel und ein Typ mit offener Jacke und einer Bierflasche in der Hand bleibt neben mir stehen.

„Kannst du das Bier halten, damit ich den Reißverschluss zumachen kann?“, dreht sich der Mann zu mir um. Ich nehme das Bier, er lässt sich Zeit, das grüne Licht leuchtet auf und wir gehen gemeinsam zur U-Bahn. Wir unterhalten uns, er bemerkt sofort meinen Akzent: „Wo kommen Sie her?“

Plötzlich merke ich, dass es mir schwerfällt, zu antworten. Ich kann dem Kerl mit dem Bier nicht mein ganzes Leben erzählen. Also sage ich: "I am sorry". Ich sage es auf Englisch, weil alle deutschen Wörter und Ausdrücke, die ich kenne, eine zu konkretere Bedeutung beinhalten. Und ich möchte im Moment keine bestimmte Bedeutung, ich weiß sie selbst noch nicht. „Ich hoffe doch, Sie brauchen sich für nichts zu entschuldigen.“ Wir trennen uns hier. Er hat mich aber sehr gut verstanden. Ich muss ihm nicht mein ganzes Leben erzählen.

Berlin 21.03.2021, aus dem Russischen übersetzt von Peter Cichon, Themenmanager Medienfreiheit weltweit. Dieser Beitrag wurde aus den Mitteln des Internationalen Journalisten- und Mediendialogprogramms der FNF finanziert.

Olga Romanowa, vor der Gleichschaltung bis 2005 Top-Journalistin und Moderatorin im russischen Fernsehen, anschließend journalistisch tätig u. a. für „Echo Moskwy“, „Business Week“ und „Nowaja Gaseta“, aber vor allem als politische Aktivistin für Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz in Russland, kämpft unermüdlich mit Ihrer NGO „Russland hinter Gittern“ gegen die unmenschliche Behandlung von Häftlingen in den russischen Strafkolonien und unterstützt deren Familienangehörige - seit 2017 aus dem deutschen Exil heraus, Partnerin der FNF und Ausbilderin für den unabhängigen russischsprachigen Journalistennachwuchs.