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Krieg in Europa
Die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die ukrainische Viehzucht

Viele ukrainische Landwirte haben wegen des Krieges ihre Rinder und Schweine verloren

Viele ukrainische Landwirte haben wegen des Krieges ihre Rinder und Schweine verloren

© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Carol Guzy

Angaben des ukrainischen Statistikamtes zufolge hielten ukrainische Landwirte vor Beginn des Krieges über 1,6 Millionen Rinder. Allein in den ersten drei Kriegsmonaten haben die ukrainischen Milchbetriebe mindestens 50.000 Rinder verloren. Der Wert der bislang verendeten Nutztiere wird auf über 136 Millionen US-Dollar geschätzt. Doch ein Ende des Herdensterbens ist noch nicht in Sicht. Einer vergleichsweise optimistischen Geschäftsprognose zufolge könnten sich die Verluste bis zum Jahresende auf 70.000 Rinder beschränken. Im schlimmsten Fall, schätzen Experten, könnten allerdings mehr als 100.000 Tiere dem Krieg zum Opfer fallen. Das ist abhängig von der Lage an der Front und den Fortschritten bei der Befreiung besetzter ukrainischer Gebiete. Was aber treibt das Viehsterben?

Hunger und Krankheiten

Seit Kriegsbeginn am 24. Februar sind die Bedingungen für die Ukrainerinnen und Ukrainer katastrophal – das gilt auch für die ukrainischen Landwirte und Lebensmittelproduzenten. In den seither umkämpften Regionen macht vor allem die gezielte Gewaltanwendung gegen Zivilisten seitens der Aggressoren sowie das Risiko, ins Kreuzfeuer der Kriegsparteien zu geraten, eine Fortführung der Arbeit nicht mehr möglich. In den Viehbetrieben heißt das auch, dass einfache Routineaufgaben wie Futter für die Tiere zu liefern oder Ställe auszumisten, eine Sache der Unmöglichkeit wird. Zusätzlich führt der Kollaps der Infrastruktur dazu, dass die Lieferung und Zubereitung des notwendigen Viehfutters unmöglich wird. Besonders prekär ist dabei die Situation in der Milchwirtschaft. In den hocheffektiven und modernen Milchbetrieben müssen die Kühe nicht nur gefüttert, sondern auch mindestens zweimal am Tag gemolken werden. Bleibt das Melken aus, überlasten die Euter, was Entzündungen und andere gesundheitliche Probleme hervorrufen kann. Besonders die Entzündungen führen bei unzureichender Behandlung zu einem qualvollen Verenden der betroffenen Tiere.

Wenn derartige Gesundheitsprobleme in den Herden in Friedenszeiten auftreten, ist die tiermedizinische Versorgung durchaus in der Lage, den gröbsten Schaden abzuwenden. Nicht so seit Russlands Überfall. Schnell gingen den Betrieben die eigenen medizinischen Vorräte aus. Was auch für Verwundete verwendet werden konnte – also Antibiotika, Verbandsmaterial und Desinfektionsmittel – fand nun statt im Stall an der Front seinen Einsatz. Nachschub? Fehlanzeige: Dies wird durch die zunehmend zerstörte Infrastruktur verhindert. Der völkerrechtswidrige Beschuss von zivilen Versorgungstransporten und human- sowie veterinärmedizinischem Personal durch russische Truppen tut sein Übriges.

Kampfmittel und Blindgänger

Insbesondere in der Ostukraine wird der Krieg seit Anbeginn schwerpunktmäßig durch großflächigen Einsatz von Artillerie geschlagen. Dabei setzt Russland aktuell über 50.000 Granaten pro Tag ein – die ukrainischen Streitkräfte erwidern aufgrund der geringeren Munitionsverfügbarkeit das Artilleriefeuer deutlich verhaltener. Obgleich die meisten dieser Sprengkörper am Ziel explodieren, gilt das längst nicht für alle. Ein Teil bleibt folglich als hochexplosiver Kampfstoff am Einschlagsort liegen. Zu diesen sogenannten Blindgängern kommen die absichtlich gelegten Minen beider Kriegsparteien sowie von den russischen Besatzern beim Rückzug hinterlassene Sprengfallen. Im Rahmen des Krieges ist die Ukraine zu einem der stärkst verminten und kampfmittelbelasteten Länder der Welt geworden.

In den hauptsächlich landwirtschaftlich genutzten Weiten der Ostukraine hat das zur Folge, dass ganze Landstriche mittelfristig nicht weiter bewirtschaftet werden können. Zu hoch wäre das Risiko, bei der Ernte oder beim Bestellen der Felder auf eine scharfe Granate oder Mine zu stoßen. Es wird lange dauern, bis die Felder geräumt sind, sodass große Flächen in naher Zukunft nicht mehr bewirtschaftet werden können. Aus denselben Gründen werden sie auch als Weideflächen für Nutztiere lange unbenutzbar bleiben. Das hat natürlich auch fatale Auswirkungen auf die zukünftige Futterverfügbarkeit. Zusätzlich fallen viele Tiere dem direkten Kampfgeschehen zum Opfer. Sie erliegen entweder direkt den Verletzungen aus Kampfhandlungen oder sterben an Angstschocks durch Explosionen und dem entstehenden Chaos.

Unterbrochene Versorgungsketten und kollabierte Absatzmärkte

Aber der Krieg verschlechtert freilich nicht nur die Versorgung der Herden, sondern behindert auch die Verwertung und den Vertrieb der landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Mit dem Beginn der Invasion mussten sich die milchverarbeitenden Unternehmen in der Ukraine auf neue Realitäten und Herausforderungen einstellen. Entlang der gesamten Wertschöpfungskette machten sich die Folgen des Krieges bemerkbar. Egal ob bei den landwirtschaftlichen Betrieben selbst, den Molkereien, den Veredelungsstufen, dem Handelsnetz oder den Exportunternehmen – überall stehen seit Kriegsbeginn Verzögerungen und Ausfälle auf der Tagesordnung.

Darüber hinaus war die Ukraine das erste Land in Europa, das vollständig auf russisches Gas und Erdölprodukte verzichtete. Dementsprechend verknappten sich auch die Treibstoffvorräte. Was zunächst nur zu langen Warteschlangen an den Tankstellen führte, brachte später den Verkehr beinahe vollends zum Erliegen. Betroffen waren natürlich auch die Transporte verderblicher Milchprodukte. Folglich sind die Lieferkosten enorm gestiegen.

Ein anderes Problem verhindert den Export über den Seeweg. Die russischen Besatzer haben die ukrainischen Häfen blockiert, über die ein erheblicher Teil der Lebensmittelexporte abgewickelt wurden. Allein über die Seehäfen von Odesa und Mykolaiv waren in der Vergangenheit 90 % der ukrainischen Agrarexporte verschifft worden. Ohne den Seeweg ist die Ukraine kaum in der Lage, ihr gesamtes Exportpotenzial auszuschöpfen.

Insbesondere angesichts der Treibstoffknappheit dürfte ein landgestützter Export der enormen Handelsvolumina den internationalen Wettbewerb schwer bestehen. Und dennoch: Die europäischen Nachbarn unterstützen, wo sie können. Beispielsweise hat Polen die Anzahl der Zöllner an der ukrainischen Grenze deutlich erhöht und auf einen Dreischichtbetrieb umgestellt. Nichts wird unversucht gelassen, um die ukrainischen Produkte auf den Weltmärkten vertreiben zu können. Nichtsdestotrotz kommt es aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens an den Grenzen zu langen Warteschlangen. Für verderbliche Produkte wie Milcherzeugnisse ist das ein großes Problem.

Großbritannien, die Europäische Union und Kanada haben die Einfuhrzölle auf ukrainische Waren abgeschafft. Möglicherweise wird das Volumen der Milchexporte in die EU und nach Großbritannien durch die Abschaffung der Zölle steigen. Angesichts der komplexen Logistik und bestehender Vertragsverhältnisse ist es allerdings schwierig, konkrete Handelsvolumen vorherzusagen. Was allerdings feststeht: Die Preise für Milchprodukte steigen in aller Welt. Der Krieg in der Ukraine ist dafür ausschlaggebend. Denn die Ukraine war vormals eine wichtige Exportnation für Futtermittel. Diese machen 70 bis 80 Prozent der Kosten in der Milchproduktion aus. Die Exportschwierigkeiten ukrainischer Agrarprodukte machen sich daher nun auch andernorts bemerkbar.

Wie geht es nun weiter?

In der Ukraine versuchen die Landwirte und die Lebensmittelindustrie weiterhin, die Versorgung aufrechtzuerhalten. Das gilt auch für die Herstellung von Futtermitteln für die heimischen Herden. Alles andere würde die landwirtschaftlichen Betriebe zu einem Abbau des Viehbestands zwingen, der nach einem Sieg in der Zukunft nur schwerlich wiederherzustellen wäre.

Der Krieg hat die gesamte ukrainische Bevölkerung geeint. Die Landwirtschaft als integraler Bestandteil des ukrainischen Selbstverständnisses tut durch die Versorgung der Truppen und der Bevölkerung das ihre für die Landesverteidigung. Nach dem anfänglichen Schock erkennen sowohl die landwirtschaftlichen Betriebe als auch die Partner entlang der Wertschöpfungskette, dass sie gebraucht werden. Ein jeder fühlt sich für die Ernährungssicherheit des Landes verantwortlich. Dadurch schafft der Sektor Arbeitsplätze und versorgt die Ukraine und die Welt. Zusätzlich und vielleicht am wichtigsten: Die ukrainische Landwirtschaft schafft neue Hoffnung für eine bessere Zukunft im Land – nicht zuletzt durch das Engagement der europäischen Partner.

Maximilian Luz Reinhardt ist am Liberalen Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Referent für Wirtschaft und Nachhaltigkeit.

Tetiana Shyrochenko ist Komitee-Managerin der European Business Association.