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Menschenrechte
30 Jahre Tian’anmen: Unglaublicher Mut und das Drängen nach Reformen

Mitarbeiter der Friedrich-Naumann-Stiftung blicken gemeinsam auf das Ereignis und seine Auswirkungen zurück

Vor 30 Jahren demonstrierten chinesische Studenten in Peking auf dem Tian’anmen Platz für demokratische Reformen. Als die Hardliner in der Partei die Oberhand gegenüber den Reformern gewannen, wurden die Demonstrationen von der Volksbefreiungsarmee blutig niedergeschlagen.

Zwei Mitarbeiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit blicken mit ihren persönlichen Erinnerungen und Einschätzungen gemeinsam auf das Ereignis und seine Auswirkungen zurück. Ein Ereignis, das das Land und seine Politik bis heute prägt.

Ihr habt eine enge Verbundenheit zu China. Wie habt ihr Tian’anmen persönlich erlebt?

Christian Taaks: Als ich in den 80er-Jahren mein Studium der Sinologie begann, hatte ich viele Hoffnungen auf eine Demokratisierung und wirtschaftliche Öffnung der Volksrepublik China. Gesellschaftliche Experimente der Kommunisten unter Mao Zedong wie der „Große Sprung nach vorn“ oder die sogenannten „Große Proletarische Kulturrevolution“ hatten von 1949 bis zum Ende der Mao-Ära Millionen von Menschen das Leben gekostet.

Die friedlichen Proteste der Studenten im Frühjahr 1989 sah ich mit viel Sympathie. Auch die zwischenzeitliche Dialogbereitschaft in Teilen der Staatsführung ließen nach den erstaunlichen Wirtschaftsreformen und der Internationalisierung der Volksrepublik seit den ausgehenden 1970er Jahren auch eine politisch-gesellschaftliche Liberalisierung möglich erscheinen.  

So gesehen war die blutige Niederschlagung der Studentenproteste ein wirklicher Einschnitt auch in meinem Leben, da viele Hoffnungen, die ich mit meinem Sinologiestudium und der vermutlichen anschließenden beruflichen Entwicklung verbunden hatte, zerbrachen. Das bereits einigermaßen weit fortgeschrittene Studium brach ich zwar nicht ab, doch änderte sich meine berufliche Orientierung.

Aus den Ereignissen des 4. Juni in China ergab sich für uns in Deutschland aber noch eine weitere Sorge, die dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer vielen Deutschen gar nicht mehr in Erinnerung ist: Im Sommer 1989 steigerten sich nach den offensichtlich manipulierten Ergebnissen der Kommunalwahlen im Frühjahr der Protest und die Wut der Bürger der DDR enorm. Für das SED-Regime war diese Entwicklung existenzbedrohend. In dieser sich immer weiter zuspitzenden Situation wurde die „chinesische Lösung“ ins Spiel gebracht, also die implizite Drohung und die explizite Befürchtung, dass die Proteste der DDR-Bevölkerung gewaltsam niedergeschlagen werden könnten.

Die SED stufte die Proteste in China als „Konterrevolution“ ein und bezeichnete deren „Niederschlagung“ als „Sieg“ über die Konterrevolution. Die Befürchtung eines Bürgerkrieges, in dem das Regime die Armee und die Betriebskampftruppen bewaffnet gegen die eigene Bevölkerung vorgehen lassen könnte, war groß. Tatsächlich gab es vor allem in Leipzig bei den Montagsdemonstrationen im September und Oktober 1989 gewaltsame Übergriffe gegen friedliche Demonstranten. Der umfassende Versuch, eine „chinesische Lösung“ herbeizuführen, blieb uns aber erspart. Das SED-Regime implodierte schließlich ohne größere Gewaltexzesse.

Armin Reinartz: 1989 war ich noch zu jung, um die Vorgänge in der Welt bewusst wahrzunehmen. Ich kann mich erinnern, dass ich nicht wusste was passiert, als meine Eltern beim Mauerfall vor dem Fernseher geweint haben. Meine China-Eindrücke waren, ähnlich wie bei Christian, lange Zeit vom aufstrebenden, sich langsam aber stetig liberalisierenden China der 2000er geprägt. 

Die Demonstrationen in Peking haben für mich erst wirklich an Bedeutung gewonnen, als ich 2011 mein Studium in China an der Peking Universität aufgenommen habe. Erst dort habe ich die lange Tradition chinesischer Bildungseliten kennengelernt. Fortschritt mussten sie in ihrem Land immer wieder gegen konservative Machthaber durchsetzen. Dieses Jahr schaut China auch auf 100 Jahre 4. -Mai-Bewegung, bei der Studenten 1919 eine neue Welle an intellektuellem Austausch und Ideen für Fortschritt in China erzeugten. Kant, Hegel, Nietzsche wurden gelesen. Der Schriftsteller Lu Xun und andere Intellektuelle verfassten großartige Werke mit nachhaltiger Wirkung in die Gesellschaft hinein. Politische Modelle von Kommunismus bis Liberalismus wurden kritisch diskutiert. Diesen Geist offener, tiefer Auseinandersetzung mit Ideen, gepaart mit patriotischem Willen, das eigene Land mit notwendigen Reformen voranzubringen war auch 1989 auf dem Tian’anmen Platz. Tiefen Eindruck hat bei mir auch die letzte Rede des damaligen Reformers in der Kommunistischen Partei, Zhao Ziyang, hinterlassen. Er wurde Opfer der internen Säuberung im Nachgang des Massakers 1989. 

Christian Taaks zieht die Verbindung zu den Demonstrationen in der DDR. Da würde ich ergänzen, dass der Geist der Demonstranten auf dem Tian’anmen Platz und in den Ostdeutschen Städten ein sehr ähnlicher war, mit dem sie ihre Regierungen zu Reformen drängten. Vor diesen Menschen habe ich den größten Respekt und ich bin sehr froh, dass sie die Welt ermöglicht haben, in der wir heute leben dürfen.

Tiananmen

Polizisten kontrollieren Personen, die auf den Tian'anmen Platz wollen.

© picture alliance / AP Photo

Was bedeuten die Ereignisse von damals für heute?

Christian Taaks: Bis heute bin ich dankbar dafür, dass es bei der Drohung seitens des DDR-Regimes blieb. Ich bewundere den Mut, mit dem die Demonstranten in China sich Gehör zu verschaffen versuchten und jene in der DDR, die sich von diesem Szenario nicht einschüchtern ließen. Wir haben aus den Ereignissen im Jahr 1989 gelernt, dass es für die Erlangung von Freiheit sehr viel von diesem besonderen Mut braucht. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre hofften und dachten nach den grundstürzenden politischen Veränderungen in Europa viele, dass trotz solcher Rückschläge wie dem auf dem Tian‘anmen-Platz, demokratische Entwicklungen perspektivisch quasi Selbstläufer sein würden. Dreißig Jahre nach dem 4. Juni und dem 9. November 1989 wissen wir es besser. Freiheit ist ein fragiles Gut, schwer zu erlangen und nur allzu leicht wieder zu verlieren.

Armin Reinartz: Da kann ich mich Christian Taaks nur anschließen. Mut sehe ich, zusammen mit Offenheit, als Triebkraft des Reformstrebens. Viele der Studenten damals auf dem Tian’anmen Platz kamen aus der Peking Universität. Ich habe gut 20 Jahre später den gleichen Geist bei vielen chinesischen Kommilitonen erlebt. An dieser traditionellen Elite-Uni streben viele eine Karriere als Parteikader an. Auch weil sie etwas bewegen wollen. Die Kommunistische Jugendliga der Fakultät hat damals mit mir und den Jungen Liberalen aus Deutschland ein Politik-Forum in Peking organisiert. Die Diskussionen waren hart, aber sehr offen und konstruktiv. Das hat mich damals sehr optimistisch in die Zukunft blicken lassen. Leider ist diese Offenheit in den letzten Jahren unter Xi Jinping massiv eingeschränkt worden. Das System ist am Reformlimit und die kleine Clique an der Spitze der Partei dreht die Uhren zurück. Es herrscht mehr Angst im Land als ich das je erlebt habe. Selbst an den Universitäten verschwinden wieder Studenten mit unbequemen Meinungen. 

Für mich als Alumnus der Peking Universität ist der 4. Juni ein Tag, an dem ich den mutigen Kommilitonen gedenke, die für ihren Einsatz für den Fortschritt ihres Landes einen hohen Preis bezahlt haben. Es ist aber auch ein Tag der Erinnerung an den zähen chinesischen Reformwillen, der sich durch die Geschichte zieht. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass sich dieser langfristig einen Weg durch das System bahnen wird. Die neue Weltmacht gestaltet bereits jetzt immer stärker unser Leben mit. Das kann Bedrohung oder Fortschrittsmotor sein. Wir sind also alle für unsere Zukunft auf Reformen hin zu einem offeneren und stabileren China angewiesen.

 

Dr. Christian Taaks, Jahrgang 1961, studierte Sinologie an der Freien Universität Berlin. Sein Studium hatte er sich in Teilen mit der Betreuung chinesischer Delegationen im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit finanziert. Seit 2004 arbeitet er für die Friedrich-Naumann-Stiftung. Derzeit ist er Projektleiter Korea mit Sitz in Seoul.

Armin Reinartz, Jahrgang 1985, studierte moderne Ostasienwissenschaften und Public Policy in Köln, Duisburg und Peking. Er leitet den neuen Global Innovation Hub der Stiftung in Hong Kong.