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Syrienkrieg
Freiheit oder Tod: Stimmen aus Idlib

Im Norden Syriens bombardiert Assad die letzten Rebellengebiete
Die Ruhe vor dem Sturm? Straßenszene in Idlib vom Wochenende

Die Ruhe vor dem Sturm? Straßenszene in Idlib vom Wochenende

© Syrischer Aktivist M.D.

Syrien ist wieder ins Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit gerückt. Nicht weniger als ein „Showdown“ oder „die letzte Schlacht im Syrienkrieg“ wurde in den letzten Tagen erwartet. Doch während die internationale Aufmerksamkeit den Ergebnissen des Teheraner Gipfels vom vergangenen Freitag galt, gingen die Bürger von Idlib auf die Straße. Sie bekräftigten ihren ungebrochenen Willen zur Verteidigung der ursprünglichen Werte der syrischen Revolution und ihre Weigerung, wieder unter die Kontrolle des syrischen Regimes zu geraten. Der seit diesem Wochenende andauernde Militärschlag auf Idlib wird somit nicht nur die erwartete tragische humanitäre Krise, sondern auch das Auslöschen der letzten Funken des „Syrischen Frühlings“ zur Folge haben. 

Das Beiruter Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit sprach mit einem eingeschlossenen Aktivisten aus Idlib.

Demonstrationen in Idlib

Am letzten Freitag überschlugen sich die Ereignisse. Der VN Sicherheitsrat tagte zur Lage in Syrien, und die Staatschefs der drei in Syrien derzeit relevanten Kriegsparteien trafen sich in Teheran. Gleichzeitig waren auf den Straßen Idlibs, der nordwestlichen Provinz Syriens, syrische Revolutionsflaggen und Slogans gegen das Assad-Regime nicht zu übersehen bzw. zu überhören. Tausende Bürger belebten wieder den Geist der syrischen Revolution, die 2011 ausbrach. Männer und Frauen gingen auf die Straße, um ihren Unwillen darüber auszudrücken, dass ihre Stadt erneut unter die Herrschaft des Systems von Baschar al-Assad fallen könnte. Bemerkenswert war dabei, dass (eine eigentlich erwartbare und verständliche) Angst vor russischen oder iranischen Angriffen nicht die dominierende Botschaft war. Die friedliche Demonstration an sich war somit die eigentliche und wirkmächtige Botschaft an die Welt. Eine Botschaft, welche der Sondergesandte der Vereinten Nationen für Syrien, Staffan de Mistura, noch am gleichen Tag im VN Sicherheitsrat unterstrich, „um zu zeigen, dass sie normale Menschen sind, nicht notwendigerweise Terroristen“.

Denn zur gleichen Zeit trafen sich Russland, die Türkei und Iran in Teheran, um über die Zukunft von Idlib zu beraten. Dieser Gipfel der drei Staatschefs fand nach dem Besuch des iranischen Außenministers Mohammad Javad Zarif bei Bashar al-Assad in Damaskus statt, in welchem er die iranische Zustimmung für einen militärischen Angriff auf die letzte Oppositionshochburg zum Ausdruck brachte. Zwar wurde dieses Vorgehen in Teheran von der Türkei nicht geteilt, aber Erdogans Besorgnis über neue Flüchtlingsprobleme konnte das Interesse Putins und Rohanis an einer „Befreiung“ der letzten „terroristisch besetzten Provinz“ in Syrien nicht entkräften. Die seit Wochen sichtbaren Vorboten einer militärischen Operation wurden somit noch am selben Tag vor den Augen der Weltöffentlichkeit in traurige Realitäten übersetzt. Die von de Mistura im Sicherheitsrat geäußerte Hoffnung auf „sichere Korridore“ für Zivilisten blieb dementsprechend nur einmal mehr ein Symbol der selbstgewählten Hilflosigkeit der internationalen Gemeinschaft. Aber nicht nur das. Vor dem Hintergrund der Verhandlungen  der involvierten Akteure in der Region und dem Anliegen der internationalen Gemeinschaft wurde deutlich, dass eine Stimme keinen Zugang zum Verhandlungstisch in Teheran gefunden hatte: die Stimme des syrischen Volkes.

Was passiert in Idlib? Wie geht es den Einwohnern dort? Was sind ihre Forderungen und Optionen? All diese Fragen sind es Wert, beantwortet zu werden. Denn die Weltgemeinschaft  ist derzeit Zeugen der Reorganisation einer zukünftigen Gesellschaftsordnung eines Volkes, welches zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte seinen Kurs zu ändern versuchte und Freiheit forderte.

Idlib gestern: Die Luftschläge vom Wochenende konzentrierten sich zunächst auf die südlichen Vororte Idlibs

Idlib gestern: Die Luftschläge vom Wochenende konzentrierten sich zunächst auf die südlichen Vororte Idlibs

© Syrischer Aktivist M.D.

Stimmen aus Idlib

„Ein Angriff auf Idlib ist uns egal. Wir wollen uns nicht mit dem Assad-Regime versöhnen“, fasst M.D., ein syrischer Filmemacher und Aktivist der Zivilgesellschaft, aus seiner Sicht die allgemeine Position vieler Bürger seiner Stadt Idlib im Telefongespräch mit dem Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit für Libanon und Syrien zusammen. Seiner Beobachtung nach lebte die Wirtschaft von Idlib nach dem Beginn der Revolution im Jahr 2011 auf. Darüber hinaus bot Idlib allen oppositionellen Kräften und Gruppen aus ganz Syrien Zuflucht. Insbesondere die Grausamkeiten, die an ihnen und dem syrischen Volk begangen wurden, führt M.D. als Grund dafür an, dass er keine Möglichkeit für einen Kompromiss oder gar friedliche Eingliederung Idlibs in ein Syrien des Assad-Regimes sieht: „Wir fordern die Unabhängigkeit Idlibs vom Assad-Regime [...] Versöhnung ist keine Option, sonst hätten wir uns in anderen Städten mit ihm versöhnt.“

„Widerstand ist unsere Option“ (khiyaruna al-muqawama: #المقاومة_خيارنا) war somit auch das Motto der Großdemonstration nach dem Freitagsgebet in Idlib. Die Menschen versammelten sich aber nicht nur auf den Straßen, um gegen Baschar al-Assad zu protestieren, sondern auch, um ein Zeichen zu senden und ihrem Unmut über die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft Luft zu machen. Viele sind sich sicher, dass diese Untätigkeit die Situation von Binnenflucht und internationaler Vertreibung nur verschärfen wird. Solange aber das Assad-Regime am künftigen Geschick für Idlib beteiligt ist, so M.D., besteht für die Menschen in Idlib gar keine andere Möglichkeit als gewaltsam Widerstand zu leisten. Nicht wenige sähen eine friedliche Lösung derzeit nur darin, Idlib als unabhängige Provinz unter die Kontrolle der Türkei zu stellen. Der internationale Wirbel um das Ergebnis des Teheraner Gipfels hatte somit keine Auswirkungen auf die Bürger, die sich trotz der russischen Luftangriffe der letzten Tage noch immer weigern, ihre Stadt zu verlassen.

Die Prognose ist düster

Auch die Handlungsoptionen des syrischen Regimes sind von Kompromisslosigkeit geprägt. Spätestens seit sich die militärische Überlegenheit – durch Russlands Unterstützung – Bahn brach, gilt für die Kriegsparteien Syrien, Russland und Iran nur eine Determinante: Vernichtung der Opposition. Russland will, als wichtigster militärischer Unterstützer Syriens, darüber hinaus dieses – finanziell ausufernde – Engagement zu einem Ende bringen. Es gibt somit keinen Platz für ein oppositionelles Idlib. 

Die offensichtliche Unversöhnlichkeit auf allen Seiten lässt daher nur eine düstere Prognose für die Beilegung der Konfliktsituation zu. Der Sitzung des VN-Sicherheitsrates am Freitag folgten zwar konkrete Apelle zur Vermeidung einer humanitären Katastrophe in Syrien, aber wie so oft in den letzten Jahren werden auch diese letztendlich ins Leere laufen. Denn die Worte de Misturas waren noch nicht verhallt, als die ersten Bürger Idlibs Opfer von russischen Luftschlägen wurden, die bereits jetzt als die gewalttätigsten seit Beginn von Russlands Engagement in Syrien gelten.

Die Konsequenzen sind klar, die Vorzeichen der weiteren Entwicklung sind deutlich erkennbar. Dennoch kommt es zu keinen konkreten Handlungen, welche den Menschen vor Ort helfen. Zwar lässt das internationale Recht ohne eine klare Entscheidung des VN-Sicherheitsrats für die Wahrnehmung der „Responsibility to protect“ keine militärischen Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung von Idlib durch die internationale Gemeinschaft zu. Russland und Iran aber missachteten die Forderung, Sicherheitskorridore zu schaffen und Möglichkeiten der Trennung von Militärs und Zivilisten festzulegen. Die internationale Gemeinschaft steht somit vor der Herausforderung, entweder aktive, zur Not eben auch militärische, Verantwortung für den Schutz des syrischen Volkes zu übernehmen oder den Grundsatz der Staatensouveränität aufrechtzuerhalten – und damit an der Fiktion der Legitimität des Assad- Regimes festzuhalten und den Diktator zusammen mit seinen Verbündeten gewähren zu lassen. Aber was heißt das konkret? Hat sich die internationale Gemeinschaft nun auf eine Intervention „vor Ort“ vorzubereiten, um die humanitäre Krise zu vermeiden? Oder gibt es noch eine Chance für eine friedliche Lösung durch politisch-diplomatischen Druck auf das Assad-Regime und seine Verbündeten Russland und Iran?

Für die Menschen in Idlib bleibt kaum mehr Zeit, diese Fragen zu beantworten.

Lesen Sie hier die Aussage des Aktivisten M.D. transkribiert im Wortlaut.