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Österreich
Blaupause oder Wolkenkuckucksheim?

Chancen und Risiken der schwarz-grünen Koalition in Österreich
Foto: Kurz und Kogler bei der Präsentation des Koalitionsvertrages

Kompromisse lassen sich auf zwei Weisen erreichen. Entweder weichen alle Beteiligten – oft nur soweit wie unabdingbar - von ihren eigenen Grundsätzen ab, gehen aufeinander zu und finden irgendwo zwischen den ursprünglichen Positionen eine Einigung. Oder aber, sie ergreifen die Flucht nach vorne und suchen das Heil in gemeinsam getragenen völlig neuen Vereinbarungen „out of the box“. Letzterem, weit progressiveren Weg jenseits alter politischer Trampelpfade und ausgetretener Ideologien folgt das Wirtschaftsprogramm von ÖVP und Grünen in Österreich. Es könnte für deutsche Koalitionsverhandlungen zum Vorbild werden.

Die entscheidende Neuerung des türkis-grünen Koalitionsvertrags liegt darin, dass sich angesichts der krassen Unterschiede in der ideologischen Ausrichtung ÖVP und Grüne darauf beschränken, die gemeinsamen Ziele zu definieren – „im vollen Bewusstsein, dass es in allen politischen Feldern neue Wege braucht“. Durch den Verzicht, alles und jedes bereits vor Übernahme der Regierungsverantwortung klären und fixieren zu wollen und stattdessen Manches bis das Meiste im vagen zu halten, ergeben sich Freiräume bei der Suche nach pragmatischer Umsetzung vollmundig abgegebener Versprechungen. 

Vorgelegt wird eine Acht-Punkte-Agenda, die im wahren Sinne „öko-logisch“ sein will, also zwischen ökologischen und ökonomischen Notwendigkeiten keine Gegensätze, sondern eine gemeinsame Logik sieht. „Der Schutz der Umwelt und eine starke Wirtschaft dürfen kein Widerspruch sein. Unser Wirtschaftsstandort kann noch dynamischer werden, wir können mehr und bessere Jobs schaffen, wenn wir in Nachhaltigkeit investieren“ – so steht es in der Präambel des Regierungsprogramms, das darauf abzielt, Österreich zum europäischen Klimavorreiter und bis spätestens 2040 - und damit zehn Jahre früher als die EU insgesamt - klimaneutral zu machen.

Die von ÖVP und Grünen angestrebte Symbiose von Ökologie und Ökonomie liest sich aus deutscher Warte wie eine Blaupause für künftige Koalitionsverhandlungen in Berlin. Verdeutlicht wird, dass bei beiderseitig gutem politischen Willen zwischen „konservativ“ und „grün“ keine unüberbrückbaren Gegensatz bestehen. Bei den ökologischen Zielen kann man sich einigen, nicht zuletzt, weil »nachhaltig das neue Konservativ ist«, wie es Winfried Kretschmann, Deutschlands erster und (noch) einziger grüner Ministerpräsident so treffend ausgedrückt hat. 

Hat man sich zuerst einmal auf das große Ganze verständigt, sollte es danach leichter fallen, Einvernehmen bei den Mitteln zur Umsetzung zu erzielen und jenen Instrumenten den Vorzug zu geben, die ermöglichen, ökologische Ziele mit dem ökonomisch effektivsten Nutzen-Kosten-Verhältnis und mit den geringsten wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen zu erreichen. Spätestens hier öffnet sich bei einer Koalitionsbildung auch eine Tür für liberale, marktorientierte Maßnahmen jenseits simpler Verbote oder plumper ideologiegeprägter Gebote. Denn über diesen Zugang müssten klima- und umweltschonende Innovationen ins Zentrum aller Anstrengungen gerückt werden, ohne die eine ökologische Transformation nicht gelingen kann – nicht in Wien und ebenso wenig in Berlin.

Der Pragmatismus, sich auf gemeinsame Ziele zu konzentrieren, jedoch das konkrete „Wie, Wer und Was“ auf spätere Entscheidungsprozesse zu vertagen, durchzieht das gesamte Kapitel „Wirtschaft & Finanzen“ des türkis-grünen Regierungsprogramms. Die ÖVP hatte im Wahlkampf versprochen, „keine neuen Steuern“ zu erheben. Für die Grünen hingegen war ein ökologischer Umbau des Steuersystems unverzichtbare Kernforderung. Der nun vereinbarte Kompromiss liefert vorerst eine Win-Win-Situation, da gleichzeitig Steuern substanziell gesenkt, wie der klimaschädliche CO2-Ausstoss verteuert werden. „Ziele sind: eine Entlastung der Menschen, eine Senkung der Steuer- und Abgabenquote, eine ökologisch-soziale Reform mit Lenkungseffekten zur erfolgreichen Bekämpfung des Klimawandels sowie der Erhalt und Ausbau von Innovationskraft, Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Wirtschaft.“ 

Wie allerdings die gemeinsam geteilten Ziele konkret erreicht und die Steuersenkungen in den öffentlichen Haushalten aufgefangen werden sollen, bleibt vorerst komplett offen. Fest steht lediglich, dass „unverzüglich“ eine „Task Force ökosoziale Steuerreform“ einberufen wird, die einen Umsetzungsfahrplan zu erarbeiten und zu klären hat, ob eine CO2-Steuer oder ein flächendeckendes Emissionshandelssystem den Vorzug erhalten soll. 

Der österreichische Koalitionskompromiss ist deshalb besonders elegant gelungen, weil die Steuerentlastung unmittelbar wirksam wird, eine aufkommensneutrale Bepreisung klimaschädlicher Emissionen jedoch erst ab 2022 erfolgen soll. Da Haushalte mit geringeren Einkommen (und Kindern) in besonderem Ausmaß sofort spürbar mehr Netto vom selbsterwirtschafteten Brutto haben werden, kommt die (konservative) ÖVP nicht ansatzweise in den Ruch, einseitig die Besserverdienenden oder gar vor allem die „Wirtschaft“ und die „Kapitalisten“ zu privilegieren. Dass ebenso eine Vielzahl von Maßnahmen zur (auch bürokratischen) Entlastung der Unternehmen umgesetzt wird, degeneriert da im öffentlichen Diskurs zur kaum beachteten und wenig kritisierten politischen Nebensächlichkeit. Unerklärlich bleibt hingegen, wieso man die Chance auf einen kompletten Ausgleich der kalten Progression (die dazu führt, dass bei höheren Nominaleinkommen automatisch ein höherer Steuersatz zur Anwendung kommt, so dass die effektive Steuerbelastung überproportional steigt) nicht wahrgenommen hat, sondern lediglich (ein weiteres Mal!) „eine adäquate Anpassung der Grenzbeträge“ prüfen will. Das nährt den Verdacht, dass es der türkis-grünen Regierungskoalition im Herzen nicht wirklich um eine Entlastung der Massen geht.

Aus dem Wirtschaftsprogramm von ÖVP und Grünen lässt sich eine gerade für Deutschland bedeutsame Lehre ziehen. Einfach schlicht allgemeine Steuer- und Abgabenentlastungen zu fordern, führt ins politische Abseits. Wer Steuersenkungen auf seine politischen Fahnen schreibt, muss sich offensiv und pro aktiv vom Vorwurf befreien, damit nur seine eigene Klientel nicht aber die Bevölkerung insgesamt bedienen zu wollen. Deshalb gilt es, zuallererst und am stärksten die Masse der kleinen und mittleren Einkommen zu entlasten, um dann in einem weiteren Schritt auch Steuern für höhere Einkommen und Unternehmen abzusenken. Gesellschaftliche Mitte und wirtschaftlicher Mittelstand, Geringverdienende und Kleinbetriebe in Handwerk und Gewerbe ist der Alltag zu erleichtern, so dass sich deren Einsatz und Leistung direkt und unmittelbar mehr lohnt, dann und nur dann haben Steuersenkungsinitiativen für alle Schichten Aussicht auf Erfolg. 

Dazu gehören, wie in Österreich beabsichtigt, neben einer allgemeinen Absenkung der Steuerbelastung für Einkommen und Unternehmen eine generelle Vereinfachung des Steuersystems und eine Verbreiterung der Steuerbasis (durch ein konsequentes Vorgehen „gegen internationale Steuerverschiebungen bzw. gegen jede Art von Missbrauch, Steuerbetrug und Steuervermeidung“). Je komplexer und intransparenter das Steuersystem, umso ungerechter sind dessen Folgen – Ärmere können sich teure Steuerberatung schlechter leisten und bei der Steuererklärung lässt sich Arbeitseinkommen weniger manipulieren als andere Einkommensformen. Und ebenso richtig sind der von ÖVP und Grünen angestrebte Bürokratieabbau und die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung. Bürokratie- und Verwaltungskosten belasten kleinere Betriebe und Einzelpersonen weit stärker als Großbetriebe.

Aus der Delegation der Gestaltungsmöglichkeiten an die laufende Regierungsarbeit ergeben sich gleichzeitig Chancen wie Risiken. Einerseits haben Experten und Technokraten nun gute Trümpfe in der Hand, mit ökonomisch effizienten Instrumenten, verursacher- und nutzergemäße Preise für ökologische Belastungen durchzusetzen. Andererseits kann jederzeit an Einzelfragen Streit entflammen, der Knall auf Fall die Regierungsfähigkeit in Frage stellt und ein Ende des österreichischen Experiments zur Folge hat.

Die politische Alltagspraxis wird nun künftig zeigen müssen, ob die vollmundigen Absichtserklärungen von ÖVP und Grünen tatsächlich mehr Wert sind als das Papier des Koalitionsvertrags, auf dem sie jetzt stehen. Da bestehen beträchtliche Zweifel. Denn verblüffend ist, dass sich nirgendwo auf den 326 Seiten des Regierungsprogramms etwas zur Finanzierung der versprochenen Absichten findet. Zum Pensionssystem wird lediglich lapidar behauptet, dass es „zwar immer wieder Adaptionsbedarfe, aber keine grundlegende Neuausrichtung“ gäbe. Das wirkt angesichts der auch in Österreich voranschreitenden demografischen Alterung der Bevölkerung und den dadurch absehbar steigenden Belastungen für kommende Generationen eher zukunftsblind als vorausschauend.

An einigen Stellen der türkis-grünen Koalitionsvereinbarung erfolgen zwar Hinweise darauf, dass die Finanzierung sichergestellt werden soll, ohne aber auch nur im Ansatz konkret zu werden, wie das in der Praxis geschehen müsse. So wird in der Präambel zwar explizit herausgehoben, dass „Nachhaltigkeit auch heißt, auf einen ausgeglichenen Staatshaushalt zu achten.“ Und im Finanzteil bekennen sich ÖVP und Grüne „zu dem wirtschaftspolitischen Ziel eines ausgeglichenen Bundeshaushalts“ und dazu, „die Schuldenquote der Republik weiter in Richtung Maastricht-Ziel von 60% zu senken.“ Wie das mit Steuersenkungen ohne Einschnitte andernorts möglich sein soll, wird nicht beantwortet. Allerdings lässt man sich die Hintertür offen, von den hehren Zielen einer schwarzen Null abweichen zu können – einmal „abhängig von konjunkturellen Entwicklungen und Erfordernissen“ und ganz grundsätzlich, um „die notwendigen Klima- und Zukunftsinvestitionen sicherzustellen“. Gut möglich, dass man da auch einen Dreh finden wird, erkennbar ansteigende Kosten der demografischen Alterung als begründete Ausnahmen einer nachhaltigen Finanzpolitik zu verschleiern.

Das Fehlen wegleitender Ideen oder gar konkreter Vorschläge der Finanzierung degradiert das türkis-grüne Regierungsprogramm auf die Charakterzüge eines Wolkenkuckucksheims. Es bleibt völlig unklar, wie die Quadratur des Kreises gelingen soll - also einerseits Steuersenkungen und andererseits höhere Staatsausgaben für Maßnahmen zugunsten von Ökologie und Ökonomie, klimaschonende Infrastruktur und moderne Digitalisierung, beste Bildung und mehr Sicherheit und Gerechtigkeit ohne strukturelle Defizite der Staatshaushalte möglich gemacht werden können. 

Für die deutsche Politik folgt aus den Leerstellen der türkis-grünen Koalitionsvereinbarung, dass die österreichische Blaupause möglichen Koalitionspartnern in Berlin bei Verhandlung und Kompromissfindung von Hilfe sein kann, nicht jedoch für deren spätere Regierungsarbeit. Um wirklich nachhaltig - also ohne Belastung der Kindeskinder - sowohl eine öko-logische Transformation der Wirtschaft zu stemmen als auch ökonomisch der Masse der Bevölkerung mehr Netto vom Brutto zu sichern, bedarf es mehr als bloßer Luftschlösser.