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Folgt in Armenien jetzt der „Systemwechsel“?

Nikol Pashinyan zum Regierungschef gewählt
Armenien: Nikol Pashinyan zum Regierungschef gewählt

Nikol Pashinyan beantwortet die Fragen der Presse

© FNF

Im zweiten Anlauf ist der 42-jährige Nikol Pashinyan vom armenischen Parlament am 8. Mai zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Der Anführer der seit Wochen andauernden Straßenproteste erhielt 59 Stimmen der 105 Abgeordneten. Der Projektleiter der Stiftung für die Freiheit, Peter-Andreas Bochmann hat den Wahlgang im Parlament und den Tag in Eriwan mitverfolgt. freiheit.org sprach mit ihm über seine Eindrücke.

Der 8. Mai schlägt ein neues Kapitel in der jüngeren Geschichte Armeniens auf. Sie waren vor Ort, was sind ihre Eindrücke?

Schon seit dem Morgen lag eine ganz bestimmte Stimmung über der Stadt, geprägt von einer freudigen Erwartungshaltung. Tausende Menschen waren in der ganzen Stadt in Richtung des zentralen Platzes der Republik unterwegs. Mit Bekanntgabe des Ergebnisses brach in der ganzen Stadt Jubel aus. Beobachter gehen davon aus, dass Eriwan selten eine so große Demonstration erlebt hat. Ich hatte die Gelegenheit  direkt im Parlament – mit unzähligen Journalisten und ausländischen Beobachtern - die Sitzung zu verfolgen. Sie dauerte ca. 90 Minuten, dann stand das Ergebnis fest. Mit einigen Stimmen aus der bisher regierenden Republikanischen Partei (HHK) ist Pashinyan zum neuen Ministerpräsidenten gewählt worden, Der Vertreter der HHK hatte vorab  in seiner Rede mitgeteilt, dass sie dieses Vorgehen in der Fraktion abgestimmt hätten. Sie seien zwar skeptisch, wollen aber der Stimmung der Straße folgen. Immerhin ein Hinweis dafür, dass es offensichtlich einen Konsens in der armenischen Gesellschaft darüber gibt, dass Gewalt und Repression zur Beilegung politischer Konflikte keine geeigneten Mittel mehr sind. Das scheint für alle Seiten zu gelten, denn auch Pashinyan hatte immer wieder zu Gewaltlosigkeit und dem Ende von Hassreden aufgerufen. Und im Hinblick auf den politischen Gegner HHK hat er ausdrücklich betont, dass es keine politische Verfolgung der bisher Regierenden geben werde.

Interessanterweise war auch Serzh Tangyan, Leadsänger der US-amerikanischen Band „System of a Down“ (alle Bandmitglieder haben armenische Wurzeln) im Parlament. Wohl ein Zeichen dafür, dass die Diaspora die neuen Entwicklungen in Armenien sehr positiv sieht.

Am 1. Mai ist der erste Wahlgang Pashinyans gescheitert, jetzt im zweiten klappte es mit einer komfortablen Stimmenmehrheit, warum?

Das Abstimmungsergebnis hat sich Ende vergangener Woche schon abgezeichnet. Am 2. Mai gab es ein Treffen von Pashinyan mit Gagik Zarukian, dem Vorsitzenden der Partei "Blühendes Armenien" (BHK) mit 31 Sitzen im Parlament. Die Partei des Geschäftsmannes hatte anschließend die Unterstützung von Pashinyan bekanntgegeben. Zeitgleich fand eine Fraktionssitzung der Republikanischen Partei (HHK) statt. Im Anschluss wurde verkündet, dass deren Abgeordnete die
Kandidatur Pashinyans nicht blockieren würden. Vahram Baghdasarian, der Fraktionsvorsitzende der HHK sagte, dass die Partei keinen eigenen Kandidaten zur Abstimmung bringen würde und jeden Kandidaten unterstützen wird, der von mindestens einem Drittel des Parlaments nominiert wird. Dies war nach der Zusage von Zarukian der Fall. Pashinyan sagte darauf, das Problem sei praktisch gelöst und rief seine Anhänger zum Aussetzen von Streik-, Protest- und Blockade-Aktionen ab dem 3. Mai auf. Am Tag nach der ersten Abstimmung hatte Pashinyan zu einem Generalstreik und umfassenden Blockaden aufgerufen, das Land war an diesem Tag praktisch lahmgelegt.

 

Sie wurden von einer Gruppe georgischer Journalisten begleitet, wie haben diese den Tag in Eriwan erlebt?

Ja, wir haben drei georgische Journalisten aus unserem Trainingsprogramm für Medienvertreter kurzfristig zu einem Programm nach Eriwan eingeladen. Wir arrangierten mehrere Treffen mit Politikern und NGO-Repräsentanten. Sie konnten die Stimmung aktuell verfolgen und berichteten z.T. live für Georgien.

Wie verhält sich Russland?

Armenien gilt als engster Verbündeter Russlands im postsowjetischen Raum. Daran wird sich auch unter einem Ministerpräsidenten Pashinyan nichts ändern. Dies hat er mehrfach betont. Moskau hat sich in den letzten Wochen ausgesprochen zurückhaltend verhalten und die Massenproteste als innerarmenische Angelegenheit bezeichnet. Ein gutes Verhältnis zu Russland ist für Armenien existentiell unter Berücksichtigung des Karabach-Konfliktes und dem äußerst angespannten Verhältnis zum Erzfeind Aserbaidschan. Außenpolitisch wird es unter Nikol Pashinyan kaum Veränderungen geben. Auch wenn er sich um eine besseres Verhältnis zum Westen – und zum Nachbarn Georgien - bemühen will. Dieser Balance-Akt ist allerdings auch schon der bisher regierenden Republikanischen Partei gelungen.

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Wie sehen sie die weitere Entwicklung Armeniens unter einem Regierungschef Pashinyan?

Dreiundfünfzig Stimmen wären zu seiner Wahl notwendig gewesen, 58 Stimmen hat er bekommen. Dies sieht auf den ersten Blick nach einer bequemen Mehrheit aus. Sicher ist das ein Etappensieg, den man vor einige Wochen so nicht erwartet hätte und ein großer Erfolg für Nikol Pashinyan und dem bisher oppositionellen YELK-Block, dem er als Fraktionsvorsitzender vorstand. Dem Block gehört übrigens auch die Bright Armenia Party (BAP) an, die sich für eine Mitgliedschaft bei ALDE interessiert. Es darf aber nicht vergessen werden, dass das bisherige Regierungslager im Parlament nach wie vor über die Mehrheit der Stimmen verfügt und theoretisch gegen den neuen Regierungschef eine Art Blockadepolitik verfolgen könnte. Dies wird auch von weiteren Gesprächen mit Vertretern aller politischen Richtungen abhängen. Pashinyan hat angekündigt, sich auch Minister aus der bisherigen Regierungspartei in seinem Kabinett vorstellen zu können. Das Kabinett muss er in den nächsten zwei Wochen bilden und vorstellen. Die Hoffnungen der Bevölkerung sind riesengroß, Pashinyan wird zum Teil völlig idealisiert. Aber es ist noch nicht klar erkennbar, wie der angekündigte „Systemwechsel“ aussehen wird. Der Kampf gegen die alle Bereiche umfassende Korruption, die Verbesserung der Lebensbedingungen der in großen Teilen verarmten Bevölkerung, diese Ziele sind nicht von heute auf morgen erreichbar. Die funktionierenden Mechanismen der Verflechtung von Politik und Wirtschaft haben jahrzehntelang  „funktioniert“. Es liegt ein großes Stück Arbeit vor der neuen Regierung. Drängend ist die Änderung des Wahlgesetzes, das schnellstmöglich freie und faire Wahlen ermöglichen soll – zum ersten Mal in Armenien.

Kritische Analysten sehen aber auch die Gefahr, dass es nicht schnell zu neuen Wahlen kommen könnte oder dass die laut Verfassung mögliche Auflösung des Parlaments nicht zustande kommt, wenn die immer noch bestehende Mehrheit der Republikanischen Partei doch wieder einen eigenen Kandidaten aufstellt.

Noch ein Wort zur Arbeit der Stiftung in Armenien?

Wir werden natürlich einige unserer geplanten Programme nachjustieren müssen. Es hängt auch davon, ob und wann Neuwahlen stattfinden werden. Aber traditionell werden wir mit unserem ALDE-Partner ANC (Armenian National Congress, zur Zeit außerparlamentarisch) weiterarbeiten, mit der im YELK-Block aktiven Bright Armenia Party (BAP), aber auch mit den NGOs ACGRC (Analytical Centre on Globalization and Regional Cooperation) im Bereich NATO- und EU-Politik sowie EPF (Eurasia Partnership Foundation) im Bereich bilaterale und internationale Beziehungen mit den Nachbarn. Aus der Arbeit der neuen Regierung werden uns sicher auch neue Themen zuwachsen, insbesondere im Hinblick auf die beiden Parteien.

Peter-Andreas Bochmann ist Projektleiter der Stiftung für die Freiheit für den Südkaukasus.