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Europatag
Europa heute – selbstbewusst bleiben, souveräner werden. Jetzt Politik machen.

Europa im Mai 1945: Ein zerstörter Kontinent, über 50 Millionen Kriegstote, dutzende Millionen Flüchtlinge, Entwurzelte und Geschundene. Hunger, verheerte Landstriche und zerrissene Gesellschaften. Anhaltende Bürgerkriege und Partisanenkämpfe in Italien, auf dem Balkan, in Griechenland und in Osteuropa. Eine politische Geographie von failed states mit dysfunktionalen Justiz- und Finanzwesen, Misstrauen und Rachegelüsten zwischen Nachbarstaaten. Nicht Afrika, Europa war der dunkle Kontinent.

Europa im Mai 2020: Ein Kontinent im Corona-Lockdown, der Brexit vor der Tür, ein schwieriger transatlantischer Partner, China als Rivale gewinnt an Gewicht, tiefes Misstrauen gegenüber Nachbar Russland, das einen heißen Krieg in Europa führt. Klimawandel und Migration als Megathemen, die Europas materielle und politische Ressourcen herausfordern.

Europa am Ende? Nein, denn auch das ist Europa heute: Einer der drei größten Wirtschaftsräume der Welt, Gewinner des kalten Krieges im 20. Jahrhunderts, die Gemeinschaft der EU als Friedens- und Wohlstandswerk ehemaliger Kriegsgegner geschaffen, stetig fortentwickelt und erweitert. Europa, das ist die Realität eines tiefenintegrierten Raumes der Ökonomie und des Rechts, des Lernens und Forschens, der freien Begegnung und des freien Wortes. Ein Sehnsuchtsort für Millionen, die Not entrinnen und den Traum eines besseren Lebens wahrmachen wollen.

Krisenbewältigungsmaschine EU

75 Jahre sind seit dem Ende des 2. Weltkrieges vergangen. Europas Geschichte seither kann als Abfolge von Krisen erzählt werden, freilich – unter dem Strich – bewältigter Krisen. Und immer im Mittelpunkt: die Institutionen und Ressourcen der Europäischen Union – des Europäischen Parlamentes, der Mitgliedstaaten und der EU Kommission.

Welche Lehren lassen sich ziehen, gerade jetzt in den Zeiten der jüngsten Krise, der Coronakrise? Worauf muss Europa sich nun konzentrieren, worauf kann es bauen?

Wir sind in Europa jetzt etwa in Woche 8 des Lockdowns. Unser Leben physischer Distanz zum Nächsten, ohne die routinierte Alltagsmobilität und ohne den geschätzten Alltagskonsum, dehnt die Zeit im persönlichen Empfinden weit über diese zwei Monate hinaus. Überdies wird aus der Ahnung, dass wir erst am Anfang der Pandemie stehen, die Gewissheit, noch lange, auf manchen Gebieten vielleicht für immer, mit neuen Einschränkungen oder Hürden konfrontiert zu sein. Wir brauchen jetzt Mut und Sorgfalt im Alltag und strategische Geduld mit Blick auf die Zukunft.

Europa hat zügig Tritt gefasst

Bestandsaufnahme: Europa hat zügig Tritt gefasst. Wir haben aus der Finanzkrise gelernt. Viel schneller als 2010 ist der Organismus der europäischen institutionellen Zusammenarbeit angefahren. Ja, wir haben unschöne und kontraproduktive nationale Egoismen gesehen. Aber: Was seinerzeit Monate und Jahre brauchte, ist jetzt in Wochen geschehen. Kommission, Parlament und Mitgliedstaaten haben zusammengearbeitet, europäische Programme zum Kurzarbeitergeld stehen, EIB und ESM bringen hunderte von Milliarden Euro schwere Schutzschirme in Stellung, die EZB steht als Garant der Liquidität parat. Es wird gestritten und gearbeitet in Europa. Gut so.

Und es geht weiter: Die Kommission wird in diesen Tagen die roadmap für einen European Recovery Fund in die politische Arena bringen. Das politische Brüssel ist Gastgeber einer Geberkonferenz für die Mobilisierung von Mitteln für ein weltweites Impfschutzprogramm. Wir haben – in Europa und global – mehr Ressourcen denn je. Materiell und immateriell. Mehr Kapital, mehr verfügbares Wissen, mehr Kommunikation als je zuvor. Ergo: mehr und schnellere Lösungen für Probleme.

Aber es geht nicht nur um Geld und Programme: Wir wissen und manche Bürger in Europa haben es bitter erfahren, dass auf eine Finanzkrise eine Wirtschaftskrise, eine soziale Krise und schließlich eine politische Krise folgen kann. Jetzt stehen wir noch mitten in einer gesundheitlichen Krise, der sich jedoch wirtschaftliche, soziale, Finanz- und Politikkrisen teils anzuschließen drohen. Keiner der Entscheidungsträger in Brüssel und den Hauptstädten der Europäischen Union wird sich allerdings einem Automatismus einer solchen Krisenkaskade hingeben.

Auf drei Dinge kommt es jetzt an.

Die Wirtschaft (wieder-)beleben

Erstens: Die Wirtschaft (wieder-)beleben. Industrie, Handel, Dienstleistungen, Agrarwirtschaft, die ganze Breite der über 20 Millionen Unternehmen und ihrer Mitarbeiter in Europa müssen jetzt aus dem Lockdown-Koma geholt werden. Ohne Produktion und Konsum keine Einkommen und keine Investitionen. Und keine Steuereinnahmen. Europa wird mit seinem European Recovery Program Akzente setzen wollen. In Brüssel wie in manchen Hauptstädten hört man dieser Tage viel davon, öffentliche Hilfe nur zu gewähren, wenn künftige Geschäftsmodelle der Unternehmen klimaschutzorientiert werden. In ideologischer Ausschließlichkeit ist das ein gefährlicher Weg, der zu zahlreichen Fehlsteuerungen führen und eine ressourcenverzerrende Kontrollbürokratie erzeugen würde. Im politischen Prozess der europäischen Konsensbildung wird es darauf ankommen, eine kluge Nachhaltigkeitsstrategie der EU mit der schlichten Notwendigkeit Millionen existenzbedrohter Unternehmen mit Abermillionen gefährdeter Arbeitsplätze wieder auf die Beine zu helfen, in geeigneter Weise abzuwägen und zu verbinden. Das Wiederaufbauprogramm wird nur zünden, wenn es auch im Markt ankommt. Denn die Hebelkräfte der privaten Konsum- und Investitionsentscheidungen sind immer noch stärker und innovativer als jedes öffentliche Programm.

Die Krise global begreifen und bekämpfen

Zweitens: Die Krise global begreifen und bekämpfen. Ab 2010, nach der Finanzkrise, gelang der schnelle Wiederaufstieg Europas vor allem deshalb, weil aus China und den USA die Wachstumsimpulse kamen, die die europäische Wirtschaft aufnehmen konnte. Das wird diesmal ungleich schwieriger, da beide Wirtschafts- und Politikmächte mit schweren Rezessionen zu kämpfen haben werden. Für Europa heißt das allerdings gerade nicht vom Pfade der Globalisierung abzuweichen und wirtschaftspolitisches Heil in einer Art Europrotektionismus zu suchen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen vielmehr vehementer denn je für eine regelbasierte, globale Handels- und Wirtschaftspolitik eintreten. Diese Flagge dürfen wir nicht einrollen, auch wenn gegenwärtig kaum eine politische Brise ihr Tuch blähen will. Gerade deshalb gilt: Jede Chance auf der Bühne der internationalen Institutionen, aber auch in den bilateralen Gesprächen mit den USA und China, muss für eine verstärkte Zusammenarbeit und Vertrauensbildung genutzt werden. Dabei wird es wahrscheinlich einfacher sein, die transatlantischen Beziehungen wieder dienstbarer zu machen, gleich wer im November den Kampf ums Weiße Haus gewinnt. Hier sind gemeinsame politische Interessen, Traditionen und Kulturen einfach stärker und leichter mobilisierbar.

Nur gemeinsam können die großen drei – EU, USA und China – übrigens auch eine wirksame Hilfe für Schwellenländer und arme Staaten leisten. Und die ist ethisch geboten, ökonomisch lohnend und politisch klug, gleich ob es um weltweite Lösungen für Fragen des Gesundheitsschutzes, der Digitalisierung oder des Klimaschutzes geht.

Die Überwindung des kalten Krieges im Europa des 20. Jahrhunderts hat über 50 Jahre gedauert. Diese strategische Geduld müssen wir auch hier, bei der Weiterentwicklung der Welt nach Corona, aufbringen – jenseits aller Mühen um Kurzfristmaßnahmen zur Krisenbekämpfung, und entgegen aller Frustrationen, die am Wegrand liegen werden. Diese globale Macht-Konstellation hätte es übrigens auch ohne die Corona-Krise gegeben. Aber wie heißt es doch: „Never waste a good crisis“. Genau, nutzen wir die Gelegenheit, die die Coronakrise bietet, dasjenige, was getan werden muss, intensiver und so es eben geht, schneller zu tun.

Politisches Kapital einsetzen und neu aufbauen

Drittens: Politisches Kapital einsetzen und aufbauen. Jede Krise und ihre Bekämpfung zerstört bewährtes Vertrauen und baut neues Vertrauen auf. Verlierer verlieren, Gewinner gewinnen. In der EU haben die Krisen der vergangenen zehn Jahre tiefe Spuren hinterlassen. Entlang verschiedener Frontlinien sind teils erbitterte Streitigkeiten geführt, Verletzungen geschlagen worden, ist Sprachlosigkeit entstanden. Zwischen Nord und Süd, West und Ost, groß und klein, arm und reich und anderer, manchmal gezielt gesuchter, Typisierungen. Ein wichtiges Mitglied hat es vorgezogen, klein bei zu geben und den Brexit gewählt. Für die Gemeinschaft der EU27 wirkt bisher die gemeinsame Erkenntnis, dass die Gemeinschaft für keinen seiner Mitgliedstaaten ein Nullsummenspiel ist. Sie wissen alle: Gemeinsam sind sie stärker, lassen sich Krisen besser bewältigen, Europas Ziele in der Welt hörbarer artikulieren, geschweige denn umsetzen. Diese gemeinsame Erkenntnis kann in Gefahr geraten. Durch Arroganz, Populismus oder mangelnde politische Führung.

Politisch führen heißt in der Demokratie: zu spüren was in der Luft liegt und auf dem Spiel steht, beides auf den Tisch des Verhandlungsraumes der öffentlichen Meinungen und politischen Parteien zu bringen, schließlich die getroffenen Entscheidungen durch die Tür in die Wirklichkeit zu schieben, um sie dort wirksam werden zu lassen. Das ist auch in der gegenwärtigen Corona-Krise nicht anders. Und nicht einfach.

Politik ist dabei sehr viel mehr als nur Sachverstand, gleich ob derjenige von Virologen oder Ökonomen oder anderen Wissenschaftlern. Wissenschaft wird die Zielkonflikte nicht lösen, vor denen wir stehen. Das muss die Politik tun. Das ist Politik. Und so wird es in den Gesprächen zwischen Staats- und Regierungschefs, Kommission und Parlament, die wir in den kommenden Monaten erleben werden, auch wieder und weiter um Politik gehen. Gut so.