EN

EU-Gipfel
"Der demokratische Umgangston darf nicht verloren gehen"

Europa-Experte Thomas Ilka über den EU-Gipfel

Beim derzeitigen EU-Gipfel in Brüssel ist die Vergabe des Spitzenpersonals das Hauptthema. Was von den Verhandlungen erwartet werden kann und welche anderen Themen auf der Agenda standen, beantwortet Europaexperte Thomas Ilka.

Freiheit.org: Über die Vergabe der Spitzenjobs in den europäischen Institutionen in Brüssel wurde viel diskutiert während des gestrigen Gipfels. Warum gestaltet sich dieser Prozess so schwierig? 

Thomas Ilka: Die Verschiebung der Entscheidungen über das Personalpaket ist keine Überraschung. Weder im Rat, wo die Regierungen der 28 Mitgliedstaaten zusammen kommen, noch im Europäischen Parlament (EP) gibt es klare, einfache Mehrheiten, die zu schnellen Entscheidungen führen könnten. Konservative, Sozialisten, und Liberale stellen Regierungschefs, im EP kommen noch die Grünen als Machtfaktor hinzu. Während bislang Konservative und Sozialisten die Top-Jobs zu zweit verabredet haben, sind jetzt mehrere Stimmen bei den wichtigen Weichenstellungen beteiligt. Dadurch dauern die Prozesse länger.

In Zeiten, in der die öffentliche Debatte Social-Media-getrieben ist und das Publikum gegenüber der Politik immer öfter eine Haltung des Entscheidung-bitte-jetzt-sofort-und-nur-so-wie-ich-es-gerne-hätte einnimmt, ist das eine schwer zu vermittelnde Botschaft. Aber in Demokratien braucht politisches Handeln Zeit zur Kompromissbildung.

Mit Margarethe Vestager hat sich eine liberale Top-Politikerin um den Posten als Kommissionschefin beworben. Dem liberalen belgischen Ministerpräsident Charles Michel und dem niederländischen Ministerpräsident Mark Rutte werden Chancen auf die EU-Ratspräsidentschaft eingeräumt. Auch im Europaparlament hat sich mit der Wahl des Rumänen Dacian Cioloș zum Vorsitzenden der liberalen "Renew Europe" Fraktion einiges getan. Welche Resultate können sich die Liberalen vom Gipfel erhoffen?

Mark Rutte sprach gestern Nacht von einem Halbzeitergebnis. In der zweiten Spielhälfte müssen die Liberalen jetzt die Übersicht und Ruhe bewahren, um im richtigen Moment den entscheidenden Konter zu fahren. Die Spieler dazu hat die liberale Mannschaft. Nun muss die Zeit bis zum 30. Juni, dem nächsten Gipfel der Staats- und Regierungschefs, genutzt werden. Wer auf welcher Position zum Zuge kommt ist heute pure Spekulation.

Eines aber bleibt wahr: Europa muss jetzt seine Institutionen personell klug und materiell stark besetzen. Bei allem harten Ringen um Personen und die Sache darf der demokratische Umgangston dabei nicht verloren gehen. Denn Konsensbildung und gemeinschaftliches Handeln werden auch in den nächsten fünf Jahren der Schlüssel zum Erfolg bleiben. In Vielfalt geeint. Darauf kommt es an. Und die Liberalen werden dabei durch ihre Position in der Mitte der Gesellschaft eine zentrale Rolle spielen.

Außer der Personaldebatte: Welche inhaltlichen und strategischen Aspekte haben auf diesem Gipfel eine Rolle gespielt? Wie wird es nun weitergehen?

Neben den Top-Jobs ging es um Geld, Klima und Sicherheit. Die Chefs wollen bis Ende des Jahres eine Einigung zum Mittelfristigen Finanzrahmen, also dem Budget der EU für die Jahre 2021-27, erzielen. Das ist sehr ambitioniert. Die meisten Beobachter der EU-Szene rechnen damit, dass dieses Thema erst in der zweiten Jahreshälfte 2020 unter deutscher Führung geklärt wird. Beim Klima gab es eine große Mehrheit, aber keine Einstimmigkeit für eine europäische Klimaneutralität bis 2050. Das zeigt, wie lang und kompliziert der Weg in dieser zentralen Frage bleibt. Mit Blick auf die innere und äußere Sicherheit verabredeten die Chefinnen und Chefs die Fortsetzung der Sanktionen gegen Russland, ein starkes Signal der Einigkeit. Des weiteren ging es um Maßnahmen gegen Desinformation und Cyber-Attacken zum Beispiel auf die Wahlen in den einzelnen Mitgliedstaaten. Freitagvormittag stehen unter anderem noch die Bankenunion und das Eurozonen-Budget auf der Tagesordnung. Die Agenda ist voll, es geht eben bei weitem nicht nur um Personal.

Am 2. Juli wird der oder die Präsident/Präsidentin des EP gewählt. Bis dahin muss das Tableau stehen. Der Druck steigt also. Im Ergebnis kommt es darauf an, dass die Beteiligten eine Lösung finden, die nicht nur kurzfristig politische Entlastung verschafft. Die EU und ihre Institutionen brauchen Spitzenpersonal, das die nächsten fünf Jahre kraftvoll und vom ersten Tage an die europäische Agenda vorantreiben kann.

 

Thomas Ilka ist Regionalbüroleiter des Europäischen Dialog in Brüssel.