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Weizenkrise
Weizen, Phosphat und ein neuer Blick auf Marokko

Weizen

Frau erntet auf ihrem Feld mit einer Sichel Getreide

© picture alliance / imageBROKER | Wigbert Röth

Manchmal lohnt sich ein Blick auf das Lokale, um globaler Zusammenhänge gewahr zu werden. Und so sind es zwei Lokalnachrichten aus Le Havre, Frankreich, und Ferrara, Italien, welche als Vorboten einer neuen strategischen Ausrichtung Marokkos auf dem ökonomischen und geopolitischen Parkett Nordafrikas – und vielleicht auch darüber hinaus – gewertet werden können. In beiden Städten hat die norwegische Yara International, ihres Zeichens die weltweit zweitgrößte Düngemittelherstellerin, seit Mitte März die Produktion von landwirtschaftlichem Dünger mehr als halbiert. Diese Nachrichten reihen sich in eine Welle von Produktionsrückgängen, -unterbrechungen oder gar Fabrikschließungen ein, mit welchen europäische Düngerhersteller auf die anhaltend hohen Energiepreise reagieren. Mitten in einer drohenden globalen Nahrungsmittelkrise müssen diese Ausfälle dringend anderswo kompensiert werden. Marokko scheint sich als Rettungsanker zu empfehlen, denn das nordafrikanische Königreich weiß: Auf den Äckern dieser Welt reift seine geopolitische Zukunft heran.

Die MENA-Region am Rande einer Nahrungsmittelkrise

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine am 24. Februar dieses Jahres wächst die Sorge um eine weltweite Versorgungsknappheit im Lebensmittelbereich, insbesondere was Weizenprodukte betrifft. Russland ist der weltweit führende Weizenexporteur, die Ukraine steht an fünfter Stelle. Zusammen bilden die beiden Kriegsparteien die Kornkammer diverser importabhängiger Drittstaaten, viele davon im Nahen Osten und Nordafrika (MENA). Für Letztere ist die Situation auch deshalb so kritisch, da ihre Bevölkerung einen Großteil des täglichen Kalorienbedarfs über Brot deckt. So wird in Marokko beispielsweise mit rund 288 kg pro Person und Jahr rund viermal so viel Weizen wie im globalen Durchschnitt konsumiert. Bei einer Verknappung drohen daher rasch weitreichende Konsequenzen. Tatsächlich sind die Weizenexporte aus Russland und der Ukraine nach Nahost in den vergangenen Monaten stark zurückgegangen, was – entgegen der Behauptungen Russlands – hauptsächlich an der durch das Kriegsgeschehen erschwerten Logistik liegt. So sorgt insbesondere die Blockade der Schwarzmeerhäfen durch Russland für einen de facto Exportstopp ukrainischen Weizens. Und während auf diplomatischer Ebene nach Lösungen gesucht wird, leeren sich in vielen nordafrikanischen Ländern die Kornspeicher zusehends.

Am stärksten ins Gewicht fallen gegenwärtig allerdings (noch) nicht eine tatsächliche Unterversorgung mit Weizen, sondern die extremen Preisanstiege für Weizen und andere Güter auf den Weltmärkten. Gestiegene Preise werden jedoch in vielen MENA-Staaten nur partiell an die Konsumenten weitergegeben, denn Brot als Grundnahrungsmittel ist oft staatlich subventioniert. Diese künstliche Niedrighaltung des Brotpreises verhinderte bisher eine massive Teuerung – und dadurch auch politische Unruhen – in der Region, ließ aber gleichzeitig auch die Staatsschulden gewisser Staaten wie Ägypten explodieren. Letzteres sieht sich nun sogar gezwungen, als Reaktion auf die hohe Staatsverschuldung diverse profitable Staatsbetriebe zu privatisieren. Die Interessenten stammen hauptsächlich aus den Golfstaaten.

Marokko – Gleiche Vorzeichen, mehr Spielraum

Ein Blick auf die Konsumentenpreise zeigt: Marokko weist den deutlich geringsten Preisanstieg (5.3%, im Vergleich zu 14.5% in Ägypten oder 8% in Algerien) in Nordafrika auf. Als weltweit zwölftgrößter Weizenimporteur und rund einem Fünftel davon russischer und ukrainischer Provenienz, steht die Versorgungsfrage dennoch im Kern marokkanischer Handelspolitik. Die Erhöhung der gesetzlich vorgeschriebenen fünf Monate Weizenreserven, ein Exportverbot für heimisches Getreide sowie die vollständige Aufhebung von Importzöllen auf Getreide und andere Grundnahrungsmittel bildeten die Eckpfeiler der Krisenpolitik der ersten Monate. Erschwerend kommt nun aber eine Rekord-Dürre in Marokkos Süden hinzu, welche die heimische Weizenproduktion im Jahr 2022 laut Prognosen des US-Amerikanischen Foreign Agriculture Service (FAS) um bis zu 70% einbrechen lässt. Unter dem Strich muss das Königreich damit 2022 deutlich mehr Weizen zu deutlich höheren Weltmarktpreisen einkaufen und dabei sogar noch weitestgehend auf zwei seiner Hauptimportquellen verzichten.

Letztere zu ersetzen, steht im Kern der gegenwärtigen marokkanischen Außenhandelsdiplomatie. Dies gestaltet sich jedoch nicht einfach, zumal die regionale Nachfrage riesig ist, und eine Vielzahl von Anbauländern – darunter der weltgrößte Weizenproduzent Indien – als Antwort auf die allgemein unsichere Versorgungslage Exportstopps verhängt haben. Die bereits laufenden Sondierungsgespräche mit Indien waren damit geplatzt, und Marokko orientiert sich seither deutlich stärker nach Südamerika. Als Teil einer regionalen Charmeoffensive hat sich die Arab-Brazil Chamber of Commerce einer Intensivierung der Getreideexporte Brasiliens in die MENA-Region verschrieben. Und dies mit durchschlagendem Erfolg. So wird gegenwärtig rund die Hälfte brasilianischen Exportweizens in den MENA-Staaten konsumiert, insbesondere in Ägypten, dem Sudan, Saudi-Arabien und Marokko. Letzteres hat seine Weizenimporte aus Brasilien im Vergleich zum Vorjahr um rekordhohe 632% gesteigert. Auf mittlere Sicht hin dürfte es Marokko damit durchaus gelingen, Versorgungsengpässe nachhaltig zu umschiffen. Damit steht das Königreich ungemein besser da als seine regionalen Nachbarn. Wie die jüngsten Daten des International Food Policy Research Institute (IFPRI) zeigen, sind gegenwärtig nur rund 15.4% aller durch Marokko importierten Kalorien von Sanktionen oder Restriktionen betroffen, während der Libanon mit 46.19%, Tunesien mit 33.75% und Ägypten gar mit 54.22% zu kämpfen haben. Hungersnöte sind damit in Marokko nicht zu erwarten.

Was bleibt, ist die finanzielle Belastung durch die Weltmarktpreise. Diese wirkt sich jedoch in Marokko zumindest was den Weizen anbelangt, kaum auf die Endkonsumenten aus. Denn auch das Königreich Marokko weiß um die politische Brisanz steigender Preise auf Grundnahrungsmittel und hat sich trotz Liberalisierungsversuchen der internationalen Finanzinstitutionen bis heute erfolgreich gegen eine vollständige Aufhebung der Brotsubventionen gewehrt. So ist das königliche Office National Interprofessionel des Céréals et Légumineuses (ONICL) mit der Aufgabe betraut, Weizenpreise zu überwachen und durch staatliche Subventionen im Bereich zwischen 260-280 USD pro Tonne zu halten. Dies ergibt einen Referenzpreis für Brot von 1.2 MAD (ca. 0.11 EUR) pro kleinem Laib. Bei einer normalen Preis- und Versorgungslage ist das finanziell relativ unbedenklich, umso mehr, da Marokko mittel- und längerfristig durch ambitionierte Agrarprogramme und Handelsregulierung heimischen Weizen stärker zu etablieren sucht. Aufgrund der extrem hohen Weltmarktpreise für Importweizen (bis zu 453 USD pro Tonne) beliefen sich nun die Subventionskosten in Marokko bereits auf über 3 Mrd. MAD (ca. 284 Mio. Euro) in den ersten vier Monaten des Jahres. Diese Kombination aus hohen heimischen Ernteausfällen und steigenden Weltmarktpreisen hat mittelfristig das Potenzial, das Land vor makroökonomische Probleme zu stellen, zumal Marokkos Wirtschaftsleistung ohnehin traditionell stark von Wetterereignissen abhängig bleibt. Eine Möglichkeit, diesen Aussichten zu begegnen, bietet sich in der heimischen Düngemittelindustrie.

Düngemittel –Marokkos neue alte Schlüsselindustrie

Im Zusammenhang mit der globalen Nahrungsmittelversorgungslage rückt auch die Verfügbarkeit von Düngemitteln zusehends in den Fokus ökonomischer und strategischer Überlegungen. Düngemittel wie Stickstoff, Phosphor und Kalium wurden ab den 1960er-Jahren im Zuge der „Grünen Revolution“ weltweit eingesetzt und führten zu einem beispiellosen Anstieg der Nahrungsmittelproduktion. Ohne Letztere ist eine Ernährung der rasant steigenden Weltbevölkerung nicht mehr zu garantieren. Der kanadische Umweltwissenschaftler Vaclav Smil geht sogar davon aus, dass gegenwärtig rund 3 Mrd. Menschen einzig und allein durch den Einsatz von Düngemitteln ernährt werden können. Russland ist führend in der Düngemittelherstellung, produziert (zusammen mit Weißrussland) rund 40% der weltweiten Kalisalze. Der weißrussische Düngemittelkonzern Belaruskali ist gegenwärtig mit Sanktionen belegt, für sein russisches Gegenstück Uralkali gilt dies nicht. Durch die Sanktionen gegen russische Finanz- und Logistikinstitute ergibt sich jedoch bereits eine spürbare Verknappung im Handel mit Düngemitteln. Da die Düngerherstellung zudem extrem energieaufwendig ist, erklärt sich die Vervierfachung der Düngerpreise seit Jahresbeginn gleich mit doppelter Kausalität. In diesen Zusammenhang reihen sich auch die eingangs erwähnten Produktionseinstellungen europäischer Düngerproduzenten ein. Es scheint insofern nicht weit hergeholt, von einer globalen Düngemittelkrise zu sprechen. Eine Krise, die jedoch Marokko nicht nur kaum direkt beeinträchtigt, sondern sich im Gegenteil sogar als veritable Chance entpuppen könnte.

Seit Jahrzehnten investiert Marokko in großem Stil in den Phosphatabbau in den nördlichen Gebieten der völkerrechtlich umstrittenen Westsahara. Die staatliche Office Chérifien des Phosphates (OCP) sitzt auf schätzungsweise 70% weltweiter Phosphatvorkommen und dominiert mit 54% Marktanteil in Afrika, 41% in Europa und 46% in Südamerika den weltweiten Phosphatabsatz. Rund ein Fünftel marokkanischen Exportumsatzes fiel im 2020 auf die OCP, ab 2022 soll diese Zahl noch einmal deutlich wachsen. So hat die OCP bereits angekündigt, die heimische Phosphatproduktion bis 2023 um 3 Mio. Tonnen auszubauen. Ein wesentlicher Teil dieser Produktionszuwächse geht denn just auch an jenes Land, welches sich als derart flexibel in seinen Weizenexporterhöhungen erweist: Brasilien. Nur durch die Marokkanischen Phosphatlieferungen bewahrt sich Brasilien (vorerst) vor einer notgedrungenen Freigabe der nationalen Düngesalzbestände in indigenen Amazonasregionen und damit einer Entscheidung mit weitreichenden Folgen für diese wertvollen Natur- und Kulturreservate.

In den Führungszirkeln des Königreichs Marokko ist man sich bewusst: Ein Ausbau der Phosphatproduktion trifft die sprichwörtlichen zwei Fliegen mit einer Klappe. Nicht nur kann es dadurch gelingen, die durch den Weizenpreis gefährdeten Staatsfinanzen im Gleichgewicht zu halten, sondern auch gleichzeitig selbst an geopolitischem Gewicht zuzulegen. Phosphatproduktion als Katalysator für eine wirtschaftliche Hegemonialstellung Marokkos in der Region ist indes keine neue Strategie. Bereits seit einigen Jahren engagiert sich das Königreich bei seinen südlichen Nachbarn mit Entwicklungshilfe, die stark an die Phosphatverarbeitung gebunden ist. So werden bis 2025 mehrere Düngemittelproduktionsstätten in West- und Ostafrika in Betrieb gestellt, welche hinsichtlich Rohmaterial stark nach Marokko orientiert sind. Mit den jüngst angekündigten Phosphatproduktionsstätten der OCP in Sao Luis, Brasilien, manifestiert sich dieses neue Selbstbewusstsein auch überregional. Brasilien – ebenso wie eine Vielzahl Westafrikanischer Staaten – bezog seine Düngemittel bisher vorwiegend aus Russland.

Damit sich diese Phosphatoffensive Marokkos jedoch nachhaltig in eine wirtschaftspolitische Strategie übersetzen lässt, muss das Königreich eine Lösung für die Abhängigkeit der heimischen Phosphatproduktion von fossilen Energieträgern finden. Die Herstellung von phosphathaltigen Düngemitteln geschieht bis dato fast ausschließlich mittels Erdöl als Energieträger. Bei den gegenwärtigen Ölpreisen schwinden jedoch auch im phosphatreichen Marokko die Nettoerträge der Produktion, daran wird auch die im Bau befindliche Erdgaspipeline aus Nigeria wenig ändern. Stattdessen hängt die Zukunft marokkanischer Dominanz auf dem Düngemittelmarkt wohl davon ab, wie gut es dem Königreich gelingt, sein gewaltiges Potential erneuerbarer Energien abzurufen und insbesondere auch für die heimische Industrie den Versuch zu wagen, importierte fossile Energie durch grünen Wasserstoff zu ersetzen. Damit bleibt festzuhalten: Während in Europa die Düngerfabriken ihre Tore schließen, hat der russische Ukrainekrieg eine Transformation zur grünen Wirtschaft für den selbsterklärten Klimavorreiter Marokko um eine wirtschafts- und geopolitische Dimension erweitert.

 

Damian Berger studiert Politik und Wirtschaft in der MENA-Region am Londoner King’s College und absolviert derzeit ein fellowship im Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung in Rabat, Marokko.

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