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Israel
Der Tag nach dem Krieg: Wie wird sich Israels Gesellschaft verändern?

Menschen nehmen an einer Mahnwache bei Kerzenlicht teil

Menschen nehmen an einer Mahnwache bei Kerzenlicht in Tel Aviv teil.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Oded Balilty

Wie sehr man in hundert Jahren auch assimiliert sein mag, ein einziger Pogromtag wird einen zehnmal so weit zurückwerfen. Und dann wird das arme Ghetto bereit sein, dich wieder aufzunehmen.

Mihail Sebastian, Seit zweitausend Jahren, 1934

Wir brauchen eine Vision, die sowohl jüdisch als auch menschlich ist. Nicht zwei getrennte Visionen (…), sondern eine Vision der Erlösung und des Aufstiegs – vollständig, umfassend, und alle menschlichen Bestrebungen und höchsten Werte einschließend.

David Ben-Gurion, Eine Antwort an die Diskutanten, 1954

Der rumänische Schriftsteller Mihail Sebastian, selbst jüdischer Abstammung, ließ in seinem bahnbrechenden Roman „Für zweitausend Jahre“ aus dem Jahr 1934 eine seiner Figuren die oben genannten Worte sprechen. Heute, nur wenige Wochen nach Beginn des Krieges, erscheinen diese Worte unwahrscheinlich wahr.

Der barbarische Angriff der Hamas vom 7. Oktober zwang erstmals seit 80 Jahren jüdische Mütter dazu, ihre Kinder zu verstecken. Aus Angst vor Mördern, die sie wie Tiere jagen, mussten sie sich in abgedunkelten Räumen verbergen. Die israelischen Streitkräfte hatten dabei versagt, das Leben der Menschen in Israel zu schützen. In den Universitäten und sozialen Medien gibt es seither einen starken Anstieg antisemitischer Hetze. All das lässt nicht nur das Trauma der Pogrome und des Holocausts wiederaufleben, sondern versetzt die Juden auch direkt zurück in die jüdische Geschichte.

Die Gewissheit, dass wir uns in einer anderen Zeit befinden und die Geschichten älterer Verwandter nur noch schwindende Vergangenheit sind, wurde zerstört. Noch vor wenigen Monaten waren wir überzeugt, dass das jüdische Volk endlich seinen Platz in der Welt gefunden hat – sei es durch den unabhängigen Staat Israel oder durch die vollständige Integration in die liberalen Gesellschaften Europas und der USA. Wir glaubten, dass wir in einer neuen Ära leben und endlich dem ewigen Fluch des staunenden Juden entkommen sind. Doch nun wurde uns der Boden unter den Füßen weggerissen.

Neue Solidarität und Ihr Bedeutung für die Gesellschaftsentwicklung

In Israel ist eine neue Solidarität zu beobachten. Nach fast einem Jahr intensiver zivilgesellschaftlicher Auseinandersetzungen über die Justizreform und dem Gefühl einer gemeinsamen Volkszugehörigkeit zwischen Juden in Israel und den USA sollte dies nicht nur als Reaktion auf eine kollektive Bedrohung verstanden werden. Es ist vielmehr die plötzliche Erkenntnis über ein gemeinsames Schicksal, ein gemeinsames Erwachen aus unterschiedlichen Träumen in eine beunruhigende Realität. Das Ghetto, wie Mihail Sebastian es ausdrücken würde, heißt uns wieder willkommen.

Eine israelische Frau schreibt eine Botschaft der Liebe und Unterstützung auf ein auf dem Boden ausgelegtes Banner für die geschätzten 200 israelischen Geiseln, die in Gaza in Tel Aviv, Israel, festgehalten werden.

Eine israelische Frau schreibt eine Botschaft der Unterstützung auf ein auf dem Boden ausgelegtes Banner für die israelischen Geiseln, die in Gaza in Tel Aviv, Israel, festgehalten werden.

© picture alliance / abaca | Middle East Images/ABACA

Wie auch immer wir die internen Entwicklungen in Israel in den kommenden Jahren analysieren wollen, müssen wir berücksichtigen, dass die Idee eines bedrohten jüdischen Volkes einen zentralen Platz in der kollektiven Psyche der Israelis eingenommen hat. Angesichts dieses Verständnisses und dem Trauma eines Überraschungsangriffs, bei dem über tausend israelische Bürger getötet wurden, können wir mehrere gesellschaftliche Entwicklungen erwarten.

Erstens wird es einen politischen Rechtsruck unter den jüdischen Bürgern in Israel geben. Die Hoffnung auf eine friedliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts und das Vertrauen in potenzielle palästinensische Partner werden schwinden. Der ethnozentrische Nationalismus wird zunehmen und die extreme, offen rassistische Rechte wird bei den Wahlen an Einfluss gewinnen.

Wenn die Anschläge der Hamas unter einer zentristischen oder linken Regierung stattgefunden hätten, wäre die politische Linke für Jahrzehnte weggefegt worden. Die Katastrophe ereignete sich jedoch unter der am stärksten rechtsgerichteten Regierung in der Geschichte Israels. Daher nur wenige der Illusion erliegen, dass die Rechte einen Königsweg zur Lösung der aktuellen Krise kennt. Die rechtsextreme Regierung wurde von den meisten Israelis schon vor dem Hamas-Angriff als kolossaler Misserfolg betrachtet. So bleibt der Linken und der Mitte noch eine Stimme in der politischen Arena, die sie klug einsetzen müssen.

Parallel dazu werden wir eine stärkere Konsolidierung der jüdischen Identität beobachten können. Diese äußert sich in einer gestiegenen Solidarität zwischen Juden unterschiedlicher Gruppen, einer größeren Wertschätzung für jüdische Traditionen sowie einer geringeren Toleranz gegenüber muslimischen Äußerungen im öffentlichen Raum.

Der Tag nach dem Gaza-Krieg

Regenbogen über Tel Aviv am Strand

Die ehemalige liberale Knesset-Abgeordnete Ksenia Svetlova wirft einen Blick auf mögliche Szenarien nach dem Ende des Gaza-Kriegs. Dann stehen Israel, Hamas und die Arabischen Nachbarstaaten vor neuen Herausforderungen. Auch wenn die Hamas-Kalkulation scheitert, können nur zivilgesellschaftliche Beziehungen zu einer stabilen Nachkriegsordnung im Nahen Osten führen.

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Auswirkungen des Hamas-Angriffs auf politische und religiöse Spaltungen

Noch am 6. Oktober waren die Israelis in Fragen der Religion und des Staates tief gespalten. Die Ablehnung der religiösen Zionisten und Ultraorthodoxen, die für den Angriff auf die israelische Justiz und den Obersten Gerichtshof verantwortlich gemacht wurden, war so stark wie seit den Neunzigerjahren nicht mehr. Ohne den Hamas-Anschlag wären der Schutz der säkularen Öffentlichkeit und des israelischen Justizsystems die zentralen Themen der nächsten Wahlen gewesen. Dabei hätte ein Fokus auf der Gleichberechtigung von Frauen, den Rechten von LGBT und liberaleren Beziehungen zwischen Religion und Staat gelegen.

Diese Agenda wird nun in den Hintergrund treten müssen, nicht nur wegen der offensichtlichen Sicherheitsfragen. Die Israelis fühlen sich jüdischer und werden daher toleranter gegenüber den Religiösen sein, die als Bewahrer der Tradition gelten. Natürlich sind die Missstände nicht vergessen. So wird die nächste Regierung mit einer geringeren Zahl an religiösen Vertretern[1] voraussichtlich die Haushaltsmittel für Ultra-Orthodoxe kürzen müssen, da Israel sonst keine wirtschaftliche Zukunft hat. Es wird wahrscheinlich auch begrenzte Reformen in Bezug auf die Rechte von LGBT geben. Schließlich wird der israelische Staat – angesichts der vertieften Beziehungen zu US-amerikanischen Juden – die jüdischen Konfessionen „Reformisten“ und „Konservativsten“ offiziell anerkennen. Eine umfassendere Änderung des sogenannten „Status quo“ von Religion und Staat wird jedoch noch auf sich warten lassen.

Der Tag nach dem Krieg: Die Kluft zwischen Mehrheit und Minderheit überwinden

„Standing Together“ demonstriert für gleiche Rechte für die arabische Bevölkerung Israels

Nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober stehen Israel und seine arabische Bevölkerung vor einer entscheidenden Wendung. Der Anschlag erschüttert das Land, aber birgt auch die Möglichkeit, die Kluft zwischen jüdischer Mehrheit und arabischer Minderheit zu überwinden. Der Weg zur Einheit erfordert jedoch nicht nur den Willen der israelischen Araber zur Integration, sondern auch aktive Unterstützung seitens der jüdischen Mehrheit und staatlicher Institutionen.

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In Israel wird es eine große Zahl Menschen geben, die zur Ausübung religiöser Traditionen zurückkehren. Diese Menschen sind säkulare Juden, die sich dem Religionsgesetz anschließen und orthodox werden. Eine ähnliche Welle gab es bereits nach dem Jom-Kippur-Krieg im Jahr 1973, und wir können nun eine weitere erwarten. Obwohl die Auswirkungen auf die Wahlen nicht signifikant sein werden, stellt dies doch ein bedeutendes soziales und kulturelles Phänomen dar. Es wird die israelische Gesellschaft noch weiter in Richtung verstärkter religiöser Interessen und ethnozentrischer politischer Haltungen rücken.

Auf der anderen Seite ist mit einer Einwanderung von liberaleren Juden aus den USA und Europa nach Israel zu rechnen. Auch diese Bewegung wird zahlenmäßig nicht überproportional hoch sein, doch könnte sie die wenigen reformierten und konservativen Gemeinden in Israel beleben und den Diskurs über die jüdische Identität erweitern. Davon könnten insbesondere säkulare Israelis profitieren, die jüdische Traditionen übernehmen möchten, jedoch die Orthodoxie aus sozialen und politischen Gründen als unattraktiv empfinden.

Neue Wege des sozialen Aktivismus in Israel: Chancen und Herausforderungen für eine vielfältige Gesellschaft

Aus Perspektive des sozialen Aktivismus wird Israel voraussichtlich von verschiedenen Initiativen belebt werden, die ehrgeizige soziale Ziele und Projekte verfolgen. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass Gush Emunim, eine Aktivistengruppe, die aus der religiös-zionistischen Öffentlichkeit hervorging und 1974 die Siedlerbewegung ins Leben rief, als solche Unternehmung begann. Damals war der Wunsch, den in der Krise steckenden Zionismus wiederzubeleben (d.h. Pioniergeist, Pro-Aktivität, Kreativität, Hoffnung), deutlich spürbar. Er wird es auch heute sein.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die religiös-zionistische Öffentlichkeit plant, ihre Präsenz in säkularen Gemeinden durch den Ausbau der „Torah Nucleus“-Gruppen (hebr. Garin Torani) zu verstärken, um den „Geist der Nation zu erwecken“. Zudem werden neue Gemeinden rund um den Gazastreifen entstehen – in der Annahme, dass ihr Bau in Gaza nicht zugelassen wird, ebenso wenig wie der Wunsch, sich in die zerstörten, aber säkularen Kibbuzim dort einzuschleusen. Auch Aktivitäten rund um den Tempelberg und die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem werden zunehmen.

Aus liberaler Perspektive ist zu erwarten, dass die „Brothers in Arms“ eine Initiative zur Wiederbelebung des Zionismus anführen werden, basierend auf einem republikanischen Ethos und einem Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit. Die Nichtregierungsorganisation wurde als zivile Widerstandsgruppe gegen die Netanjahu-Regierung gegründet. Während des Gaza-Krieges hat sie sich in eine Hilfsgruppe zur Unterstützung der israelischen Streitkräfte verwandelt. Beide Unternehmungen wurden mit viel Motivation und organisatorischem Geschick durchgeführt. Die „Brothers in Arms“ nutzen die emotionale Bindung der Menschen an ihre jüdische Identität. So fördern sie eine konstruktive, republikanische und liberale nationale Vision, die für einige Juden die Religion ersetzen kann.

Es ist zu hoffen, dass solche Aktivitäten mit anderen Projekten und sozialen Gruppen verbunden werden, um die Vision eines humanistischen Judentums und einer liberalen Öffentlichkeit zu präsentieren. Dies könnte zum Aufbau einer „Modellgesellschaft“ beitragen – ein Bestreben, das schon immer Teil der zionistischen Bewegung war. Wie David Ben-Gurion sagte: Wir brauchen eine Vision, die sowohl jüdisch als auch menschlich ist.

Der Tag nach dem Krieg: Wie die Zivilgesellschaft die israelisch-palästinensischen Beziehungen gestalten kann

Ein arabischer Junge fährt im Osten Jerusalems auf einem Rad am Trennwall zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten entlang.

Während der Krieg in Nahost weiter tobt, steht die Welt vor der Frage, wie die israelisch-palästinensischen Beziehungen weitergehen sollen. Von der Herausforderung der Zwei-Staaten-Lösung bis hin zur Kraft der Versöhnung inmitten von Konflikten: Yarden Leal-Yablonka, stellvertretende Generaldirektorin des Peres-Zentrums für Frieden und Innovation in Tel Aviv, beschreibt die Hoffnung und die Herausforderungen, denen sich die Menschen in dieser Region gegenübersehen.

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Politik der „Konfliktbewältigung“ ist gescheitert

All diese Entwicklungen müssen im Kontext des steigenden internationalen Drucks für eine Zweistaatenlösung betrachtet werden. Spätestens nach dem 7. Oktober muss die Welt erkennen, dass die Politik der „Konfliktbewältigung“ gescheitert ist und dass das Palästinenserproblem die ganze Welt instabiler macht. Der klassische israelische Links-gegen-Rechts-Diskurs über die Zukunft der besetzten Gebiete und der Siedlungen, der in den letzten Jahren abgeflaut ist, wird daher wiederaufleben und an Bedeutung gewinnen.

Angesichts all dieser Entwicklungen blicken wir in Israel umkämpften und turbulenten Zeiten entgegen. Eine zentristische, republikanische und liberale politische Kraft wird die aktuelle Regierung ablösen. Sie wird auf starke religiöse und rechte Kreise treffen, die sich noch stärker in einer Hardliner- oder sogar Fundamentalisten-Agenda verankern und von Teilen der Bürger unterstützt werden.

Auf der ideologischen Ebene werden wir Zeuge eines Versuchs, das traditionelle arbeitszionistische Ethos des Mamlachtiyut (Statismus, Republikanismus) wiederzubeleben. Dabei wird der pragmatische und realpolitische Ansatz für den jüdisch-palästinensischen Konflikt betont, während gleichzeitig eine Liberalisierung von Religion und staatlichen Angelegenheiten vorangetrieben wird. Gleichzeitig und im Gegensatz dazu werden bestimmte Akteure eine neue Vision von „Groß-Israel“ verfolgen. Diese beinhaltet ein Streben nach jüdischer Vorherrschaft sowie den Versuch, den liberalen öffentlichen Raum einzuschränken.

Ich fürchte, dass dies der letzte Krieg sein könnte, in dem Israel die volle Unterstützung westlicher Regierungen genießt. Insbesondere dann, wenn Israel sich weigert anzuerkennen, dass die Palästinenser ein Recht auf einen unabhängigen Staat haben. Israel ist kein „kolonialistisches Projekt“ und es gibt Unterschiede zwischen der israelischen Besatzung und der südafrikanischen Apartheid. Doch wenn die stärkere Partei in einem Konflikt sich weigert zu erklären, dass sie daran interessiert ist, ihre Kontrolle über Millionen entrechtete Menschen zu beenden, stehen westliche Liberale vor einer schwierigen Entscheidung. Sie werden keine andere Wahl haben, als sich den radikalen Postkolonialisten anzuschließen und diese Partei zu verurteilen. Ohne westliche Unterstützung jedoch wird die nächste Runde der Gewalt Israel in eine noch viel tiefere Krise stürzen.

Der aktuelle Krieg wird daher nicht nur ein Wendepunkt in der israelischen Politik sein, sondern auch einen regionalen politischen Prozess einleiten. Die Reaktion Israels wird entscheidend sein für seine Zukunft. Es kann sich entweder stabilisieren und einen Weg des Wiederaufbaus und der Rehabilitation einschlagen – oder es setzt den abgründigen Weg fort, den es unter der Regierung Netanjahus eingeschlagen hat. Ein solcher Verfall würde zu Isolation, sozialem und wirtschaftlichem Zusammenbruch und letztendlich zum Ruin führen. Investitionen in eine liberale nationale Alternative können das Land jedoch wieder auf einen Weg führen, mit dem eine Modellgesellschaft in Israel errichtet wird.

Tomer Persico ist Forschungsstipendiat am Shalom-Hartman-Institut und Rubinstein-Stipendiat an der Reichman Universität.

[1] Die derzeitige Regierung hat den größten Anteil an observanten Juden, die eine strenge Auslegung der biblischen Gesetze befolgen, aller Zeiten.