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Israel
Der Tag nach dem Krieg: Die Kluft zwischen Mehrheit und Minderheit überwinden

„Standing Together“ demonstriert für gleiche Rechte für die arabische Bevölkerung Israels
© picture alliance / Anadolu | Mostafa Alkharouf

Am 14. Mai 1948 erklärte der Staat Israel seine Unabhängigkeit als jüdischer und demokratischer Staat mit gleichen Rechten für alle Bürger. Damals zählte die Bevölkerung etwas mehr als eine Million Menschen, die Mehrheit davon Juden, die Minderheit Muslime, Christen und Drusen. Durch Einwanderung aus der ganzen Welt wuchs die jüdische Bevölkerung schnell an. Es war daher naheliegend, dass diese Mehrheit die israelische Gesellschaft prägen und die Institutionen des neuen Staates führen sollte.

Israel wurde als liberaldemokratischer Staat gegründet. Er respektiert jede Religion und jeden Menschen unabhängig von seiner Zugehörigkeit. Trotzdem entstand im Laufe der Jahre eine große Kluft zwischen Juden und der arabischen Minderheit.[1] So fühlten sich die israelischen Araber stets machtlos, wenn es darum ging, politische Prozesse wie die Gesetzgebung zu beeinflussen.

Im Gegensatz dazu entschied sich die drusische Minderheit für eine Partnerschaft mit dem Staat Israel und dem jüdischen Volk. Dadurch wurden die Wurzeln der drusischen Gemeinschaft in Israel gestärkt. So waren drusische Männer ab 1956 zum Militärdienst verpflichtet, während der arabisch-palästinensische Teil der Gesellschaft davon befreit blieb.

Seit der Staatsgründung ist die arabische Bevölkerung in Israel in ihrer Identität zwischen der Loyalität zu Israel und der Identifikation mit der palästinensischen Sache gespalten. Die meisten arabischen Mitglieder des israelischen Parlaments Knesset haben sich jahrzehntelang geweigert, mit einer israelischen Regierung zusammenzuarbeiten. Dadurch wurden sie selbst und die gesamte arabische Bevölkerung Israels politisch irrelevant. Dies führte zu Frustration und einem Gefühl der Ohnmacht.

Trotzdem forderten einige politische Stimmen ein Umdenken in der Haltung der arabischen Bevölkerung Israels gegenüber dem Staat. Auch nach den Osloer Verträgen und der Übergabe großer Gebiete an die Palästinenser ließ der Widerstand einiger israelischer Araber gegen staatliche Institutionen nicht nach. Im Gegenteil, die Kluft und Entfremdung zwischen israelischen Juden und israelischen Arabern vertiefte sich.

Dann kam der Terroranschlag vom 7. Oktober, die größte Tragödie in der Geschichte Israels. Die Hamas verübte diesen mörderischen Anschlag und zerstörte damit jahrelange Bemühungen um Frieden. Über 1.200 unschuldige Zivilisten, darunter Frauen, Kinder, Senioren und ganze Familien wurden an einem einzigen Tag grausam ermordet. Dieses Ausmaß an Hass hat die israelisch-arabische Gesellschaft schockiert. Viele führende Vertreter der israelisch-arabischen Gemeinschaft haben die Massaker verurteilt und betont, dass sie den Werten des Islam gänzlich widersprächen. Einige wenige versuchten, die Taten zu rechtfertigen, wurden dafür aber strafrechtlich verfolgt. Dadurch kühlte die geringe Unterstützung für die barbarischen Taten der Hamas in Israel ab.

Ein beträchtlicher Teil der israelischen Araber stellte sich offen auf die Seite der Regierung und bot freiwillig Hilfe an. Sie organisierten Hilfspakete für die überwiegend jüdischen Flüchtlinge aus dem Norden und Süden sowie für Soldaten an der Front. Viele boten auch an, Gäste gemäß den Traditionen und Bräuchen in ihren Häusern und Dörfern aufzunehmen.

Drusische Integration als Vorbild

Umfragen unter der arabischen Bevölkerung Israels zeigen, dass mehr als Dreiviertel von ihnen sich mit dem Staat Israel identifizieren, ihn unterstützen und sich vollständig in die israelische Gesellschaft integrieren wollen. Mansour Abbas, Mitglied der Knesset und Führer einer israelisch-arabischen islamistischen Partei, rief die palästinensischen Gruppierungen dazu auf, die Waffen niederzulegen und in einen intensiven Dialog mit einflussreichen israelischen Personen und Institutionen zu treten. Die Hoffnung ist, einen echten und dauerhaften Frieden zwischen den beiden Völkern zu schaffen.

Gleichzeitig verärgerten das umstrittene Nationalstaatsgesetz und das Kaminitz-Gesetz die arabischen Bürger Israels, insbesondere die Drusen. Diese Gesetze wurden als Bevorteilung der jüdischen Bevölkerung angesehen und führten zu zahlreichen Demonstrationen. Trotzdem meldete sich die drusische Gemeinschaft unmittelbar nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober zum Kampf gegen die Hamas. Heute ist es eindeutig, dass die drusischen Soldaten ein integraler Bestandteil der israelischen Verteidigungsstreitkräfte sind und sich aktiv an der Abwehr der Hamas-Aggression und der Verteidigung des Staates beteiligen.

Die vielen drusischen Soldaten, die in den letzten Monaten gefallen sind, repräsentieren diese Verbundenheit auf schmerzhafte Weise. Es erinnert die israelische Gesellschaft an den einzigartigen Status der Drusen in ihrem Land und rückt die Vernachlässigung der drusischen Minderheit durch israelische Entscheidungsträger in den Fokus der Öffentlichkeit. Die drusische Gemeinschaft hat ihre Loyalität gegenüber dem Staat Israel immer wieder bewiesen. Sie basiert auf Werten, Traditionen und der Zuneigung zu allen Menschen.

Dieses Modell der drusischen Integration kann der arabischen Führung Israels als Vorbild dienen. Sie sollte ihre Anhänger davon überzeugen, den aussichtslosen Weg des Widerstands aufzugeben, der nur weitere Probleme schafft. Ihre veraltete Denkweise hat der arabischen Minderheit in Israel geschadet. Israel ist eine liberale Demokratie, die Meinungsfreiheit und Respekt für alle Bürger – unabhängig von ihrer Zugehörigkeit – gewährleistet.

Der Terroranschlag vom 7. Oktober ist ein deutliches Warnzeichen dafür, wohin uns die Extremisten führen wollen – in den Abgrund. Die Gemäßigten hingegen werden uns auf einen Weg der Zusammenarbeit, der Normalität und des Wohlstands führen.

Fazit

Der mörderische Hamas-Anschlag wird zweifellos die bestehenden Ängste sowohl in der jüdischen Mehrheit als auch in der arabischen Minderheit in Israel verstärken. Auch wird in der israelisch-muslimischen Gemeinschaft das Gefühl der Scham wachsen, weil die Gräueltaten der Hamas von muslimischen Glaubensbrüdern begangen wurden. Diese Taten sind nicht nur in keiner Weise repräsentativ für den Islam, sie verstoßen auch gegen die fundamentalen Grundlagen der Religion.

Nach vielen Gesprächen mit israelisch-arabischen Freunden, sowohl muslimischen als auch christlichen, bin ich jedoch zuversichtlich, dass die schreckliche Tragödie vom 7. Oktober langfristig zu einem Umdenken führen kann. Sie wird bei den israelischen Arabern den starken Wunsch wecken, sich zu integrieren und ein integraler Bestandteil der israelischen Gesellschaft zu werden.

Es ist jedoch ebenso wichtig zu betonen, dass das Streben der israelischen Araber nach Integration allein nicht ausreicht. Auch der jüdische Teil der israelischen Gesellschaft muss dies wollen. Zivilgesellschaftliche Initiativen und staatliche Investitionen sind ebenfalls notwendig. Nur wenn die israelischen Institutionen die israelischen Araber einbeziehen, kann dieses wachsende Zugehörigkeitsgefühl wirklich fruchten.

Die Katalysatoren dieses Wandels waren vor allem Angst, Schock und Abscheu über die Taten vom 7. Oktober. Doch die arabische Bevölkerung Israels hat den intrinsischen Wunsch, Teil dieses demokratischen Landes mit seinen liberalen Werten zu werden – eines Landes, das die Meinungsfreiheit und die Rechte aller seiner Bürger respektiert.

Nadim Amar ist Anwalt sowie Gründer und Vorsitzender der OHR Association, einer israelisch-drusischen Stiftung zur Förderung von Frieden und Bildung.

[1] Gemeint sind die arabischen Palästinenser, die innerhalb der Grenzen des Staates Israel leben und die israelische Staatsbürgerschaft besitzen. Gemeint sind nicht die Palästinenser im Westjordanland unter Herrschaft der Palästinensischen Autonomiebehörde sowie die Palästinenser im Gazastreifen unter Herrschaft der Hamas.