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Impulspapier

Regeln statt Macht – Globalisierung im Systemwettbewerb

Nach einer Hochphase der Globalisierung, die auf das Ende des Kalten Krieges folgte, steckt die Weltwirtschaft seit mehr als zehn Jahren in einer Dauerkrise (Klement 2021). Zunächst stagnierten Handels- und Finanzströme infolge der globalen Finanzkrise, dann störte die Pandemie Lieferketten und nicht erst seit dem russischen Angriffskrieg steigt der Einfluss von Geopolitik auf wirtschaftliche Kooperation. Für lange Zeit galt die wirtschaftliche Verflechtung von Volkswirtschaften als wichtiger Grundsatz, um Konflikte zu verhindern und demokratische Transformation in autokratischen Ländern voranzubringen. Doch im gleichen Maße, in dem wirtschaftliche Beziehungen durch geopolitische Konflikte gestört werden und selbst das Verhältnis zwischen ökonomisch, engverflochtenen Staaten aggressiver wird, verliert auch der Leitgedanke „Wandel durch Handel“ zunehmend an Bedeutung und verkehrt sich in einigen Fällen sogar ins Gegenteil.

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Gefährliche Abhängigkeiten

Vor allem die Volksrepublik China hat in den vergangenen Jahren versucht diese ökonomische Verflechtung auszunutzen, um sogar im Ausland Kritik an den eigenen Menschenrechtsverletzungen zu unterdrücken oder jeglichen Zweifel an der Ein-China-Politik verstummen zu lassen. Betroffen waren zuletzt Litauen und Australien, gefährdet ist aber im Prinzip jedes Land, das in Abhängigkeit von dem kommunistischen Ein-Parteien-Staat steht. Die chinesische Staatsführung hat in den vergangenen Jahren hart dafür gearbeitet, andere Staaten abhängiger von der eigenen Wirtschaft zu machen und selber unabhängiger von der Weltwirtschaft zu werden (Sommer 2019; Shikwati et al. 2022). Auch Russland verfolgt diesen Kurs der asymmetrischen Abhängigkeit spätestens seit der Krim-Annexion 2014. Der Kreml nutzt nun Europas enorme Abhängigkeit von russischen Öl- und Gaslieferungen, um den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu finanzieren und Zwietracht unter Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu säen. Anstatt mäßigend auf Putins Regime einzuwirken, trägt die enge wirtschaftliche Verflechtung so teilweise sogar zu einer Verschärfung des Konfliktes bei. Über Jahrzehnte haben zudem westliche Finanzplätze als Zufluchtsort für Kleptokraten gedient und dadurch dazu beigetragen, dass autoritäre Regime und ihre Unterstützer ihr Geld sicher anlegen konnten (Burgis 2020). Die engen geschäftlichen Beziehungen mit Autokratien führen dabei nicht selten zu mehr Zugeständnissen gegenüber ihren Herrschern, anstatt zu positiven Veränderungen für die Bevölkerung in den autokratischen Staaten.

Aufgrund dieser Entwicklung die positiven Effekten wirtschaftlicher Verflechtung zu vergessen und von der internationalen Arbeitsteilung abzurücken wäre falsch.

Zunehmend entscheiden sich liberale Demokratien aber ihre Märkte auf eine Art zu regulieren, die einseitige Abhängigkeiten von autoritären Regimen reduzieren. Sie stehen dabei vor der Herausforderung, sich vor unfairen Handelspraktiken, staatskapitalistischer Investitionspolitik und einem Nexus aus organisierter Kriminalität und Kleptokratie zu schützen aber gleichzeitig ihre wirtschaftliche Offenheit aufrechtzuerhalten; also nicht durch Protektionismus und fehlgeleitete Industriepolitik selbst marktwirtschaftliche Standards zu untergraben. Es wäre eine weitere Gefahr für die regelbasierte Weltwirtschaftsordnung, wenn auch marktwirtschaftliche Demokratien mit Abschottung auf die Bedrohung durch autoritäre Regime reagieren. Die Globalisierung wird sich zweifelsohne verändern, aber sie darf nicht enden. Doch dafür müssen demokratische Staaten ein gemeinsames Vorgehen im Umgang mit autoritärem Staatskapitalismus finden. Ziel sollte dabei ein fairer, regelbasierter wirtschaftlicher Wettbewerb sein, der liberale Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fördert und globale Standards für den Umgang mit neuen Technologien schafft.

Mehr Geopolitik bedeutet nicht mehr Abschottung

Im Kern geht es um ein koordiniertes, strategisches Handeln liberaler Demokratien. Voraussetzung ist ein Verständnis für langfristige und geopolitische Implikationen wirtschafts- und finanzpolitischer Entscheidungen. Die Privatisierung eines Hafens, die Investition eines dubiosen Geschäftsmannes oder die Vergabe eines Auftrages für die Telekommunikationsinfrastruktur an Unternehmen aus autoritären Staaten kann sich in Zeiten eines zunehmenden Systemwettbewerbes nicht nur an kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen orientieren. Zukünftige Konsequenzen für den Fortbestand einer funktionierenden Marktwirtschaft und der liberalen Demokratie müssen im Blick gehalten werden. Das bedeutet kein Abrücken von den Prinzipien stabiler Finanzen und offener Märkte, zentrale Erfolgsfaktoren des globalen Westens seit dem Ende des zweiten Weltkrieges. Der Systemwettbewerb zwischen liberaler Demokratie und staatskapitalistischen Autokratien ist vor allem ein Wettbewerb, um das bessere Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell für die Herausforderungen unserer Zeit.

Eine engere Kooperation liberaler Demokratien sollte daher damit beginnen, die eigenen Abwehrkräfte zu stärken. Institutionen, Finanzmärkte und Lieferketten müssen gegen überbordenden Einfluss autoritärer Staaten und deren Unternehmen gestärkt werden. Das gilt nicht nur für privatwirtschaftliche Unternehmen, sondern auch Universitäten und kritische Infrastrukturen, wie die Telekommunikationsnetzwerke und Energiesysteme. Im Rahmen der G7 sind dafür im vergangenen Jahr vor allem zwei Fragen für die engere Kooperation von Demokratien diskutiert worden: Der Zugang zum Aufbau von 5G-Mobilfunknetzwerken und die Gestaltung globaler Lieferketten. Beides sind wichtige Aspekte eines wirksamen Schutzes kritischer Infrastrukturen und der Vermeidung asymmetrischer Abhängigkeiten. Gleichzeitig sind diese Problemfelder gerade im Kontext der zunehmenden Eskalation des Systemwettbewerbes nur ein kleiner Ausschnitt der zu diskutierenden Fragen.

Die Kooperation von Demokratien sollte dabei als Baustein für eine regelbasierte Wirtschaftsordnung dienen. Denn auch die heutige liberale Weltwirtschaftsordnung mit ihren internationalen Institutionen hat nicht direkt als globale Ordnung begonnen, sondern hat sich im Laufe der Zeit auf immer mehr Länder ausgedehnt. Vor dem Ende des Kalten Krieges konnten die Staaten des Warschauer Paktes nicht Teil globaler Handelsabkommen werden oder Unterstützung von der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds erhalten. Ein neuer Anlauf ist notwendig, um die Widerstands- und Funktionsfähigkeit der Demokratie aber auch der liberalen Weltwirtschaftsordnung im Wettbewerb mit staatskapitalistischen Autokratien zu stärken. Das mündet im Idealfall langfristig in einem offenen Wirtschaftsraum liberaler Demokratien, der durch die Marktgröße, in der Lage ist, globale Standards zu setzen. Auf dem Weg dahin wird es flexiblere und kleinere Formen der Zusammenarbeit geben, auch eine Organisation im Rahmen einer globalen demokratischen Allianz ist denkbar.

Kritische Infrastruktur und zentrale Lieferketten

Beim Schutz kritischer Infrastruktur geht es um deren Resilienz und nicht darum ausländische Investitionen zu beschränken oder zu verhindern. Dafür bedarf es unter anderem einer strategischen Investitionsprüfung, die langfristig dafür sorgt, dass für die Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens, zentrale Einrichtungen nicht in die Hände von autoritären Staaten geraten. Denn im Gegensatz zu rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen sind staatskapitalistische Systeme eher in der Lage, die zentrale Stellung ihrer Unternehmen in Lieferketten oder kritischer Infrastruktur auszunutzen. In Bereichen wie Sport, Kultur und Wissenschaft baut die chinesische Regierung bereits Druck auf oder interveniert proaktiv, um Kritik an Menschenrechtsverletzungen oder insgesamt chinesischer Politik zu unterbinden (Hamilton/Ohlberg 2020). Alles deutet daraufhin, dass chinesische Unternehmen und die Volksrepublik davor auch bei Lieferketten und kritischer Infrastruktur nicht zurückschrecken.

Die kritische Infrastruktur umfasst auch lebenswichtige Bereiche wie die Versorgung mit Strom und sauberem Trinkwasser sowie eine funktionierende und sichere Informations- und Kommunikationstechnik. Engere wirtschaftliche Kooperation unter marktwirtschaftlichen, demokratischen Staaten kann dazu beitragen dieses Erpressungspotential zu verringern. Liberale Demokratien sollten gemeinsame Standards für die Investitionsprüfung und Subventionskontrolle vereinbaren, um die Widerstandsfähigkeit kritischer Infrastrukturen, insbesondere solche mit Implikationen für die Funktionsfähigkeit demokratischer Prozesse, zu stärken. Zudem können sie durch gezielte Kooperation in Forschung und Entwicklung gemeinsam technologische Lösungen voranbringen, die einseitige Abhängigkeiten verhindern. Ähnliches gilt für die Lieferketten von Produkten, die zentral für die eigene Volkswirtschaft sind. Der russische Angriffskrieg, aber auch die Pandemie, haben vor Augen geführt, wie gefährlich einseitige Abhängigkeiten bei Rohstoffen, Lebensmitteln und Medizinprodukten sind. Eine engere demokratische Zusammenarbeit trägt dazu bei, dass auf Nachfrage-, genauso wie auf Angebotsseite Lieferketten diversifiziert und an verlässlicheren Handelspartnern ausgerichtet werden, ohne den Wohlstand in Demokratien zu gefährden.

Gemeinsam gegen Korruption und Kleptokratie

Die personenbezogenen Sanktionen gegen Russlands kleptokratische Elite haben das Ausmaß, in dem illegales Geld staatliche Strukturen in liberalen Demokratien korrumpiert hat, für die breite Öffentlichkeit sichtbar gemacht. Denn russische Oligarchen genauso wie andere Kleptokraten haben in der Vergangenheit von einer zurückhaltenden Strafverfolgung im Bereich der Wirtschaftskriminalität profitiert. Der Finanzplätze wie London, Zürich und New York haben sich als lukrative Zufluchtsorte für illegales Geld etabliert und gefährliche Abhängigkeiten geschaffen (Michel 2021; Bullough 2022). Das sorgt für falsche Zurückhaltung demokratischer Staaten gegenüber autokratischen Eliten und Staaten, anderseits schadet es der Bevölkerung in Autokratien. Gerade in staatskapitalistischen Systemen tritt Korruption häufiger auf (Kurlantzick 2016). Ihre Bekämpfung wird strukturell vernachlässigt oder systematisch untergraben. Je größer die Rolle des Staates in der Wirtschaft und je geringer der wirtschaftliche Wettbewerb ist, desto anfälliger sind Staaten für Korruption. Laut Weltbank werden jährlich von Einzelpersonen und Unternehmen rund eine Billionen US-Dollar Bestechungsgelder gezahlt (Power 2021: 21). Korruption ist dabei zugleich eine der größten Schwachstellen autoritärer Regime. Unabhängig vom System, in dem Menschen leben, erntet Korruption weitreichende Kritik und führt nicht selten zu Protesten gegen das herrschende Regime.

Der gemeinsame Kampf gegen Korruption und Kleptokratie ist ein lohnenswerter für liberale Demokratien. Das beginnt damit Geldwäsche und illegale Investitionsmöglichkeiten für Kleptokraten und organisierte Kriminalität in westlichen Finanzzentren entschieden und konzertiert zu bekämpfen. Die personenbezogenen Sanktionen gegen Putins Oligarchen und die transatlantische Task Force zur Durchsetzung dieser Sanktionen sollten der Startschuss für eine koordinierte Kampagne liberaler Demokratien gegen schmutziges Geld sein. Die Vereinigten Staaten haben in den vergangenen Jahren bereits zahlreiche Erfolge bei der Bekämpfung illegaler Finanzströme zu verzeichnen (Zarate 2013). US-Präsident Biden hat bereits angekündigt, Korruption zu einem Thema für die nationale Sicherheit zu machen. Gemeinsam mit anderen liberalen Demokratien können Instrumente entwickelt werden, um Korruption zu bekämpfen. Mindeststandards in der Korruptionsbekämpfung können beispielsweise als fester Bestandteil von Handels- und Investitionsabkommen etabliert werden und nationale Sicherheitsbehörden liberaler Demokratien bei der Durchsetzung von Anti-Korruptionsabkommen stärker zusammenarbeiten.

Globalisierung sicher für Demokratien

Die wirtschaftliche Globalisierung wird durch die Zunahme geopolitischer Konflikte und eines Systemwettbewerbs zwischen liberalen Demokratien und staatskapitalistischen Autokratien enorm herausgefordert. Die institutionelle Resilienz der regelbasierten Weltwirtschaftsordnung muss gestärkt werden. Dabei sollten liberale Demokratien viel stärker als bisher auf die Einhaltung globaler Regeln pochen. Dafür bedarf es einer engeren Abstimmung unter liberalen Demokratien in internationalen Organisationen wie der Welthandelsorganisation genauso wie fokussierten plurilateralen Abkommen, die Lücken bei multilateralen Abkommen oder deren Durchsetzung füllen. Zur Gewährleistung fairer Wettbewerbsbedingungen in allen Wirtschaftsbereichen ist zum Beispiel ein gemeinsames Vorgehen bei subventionierten Unternehmen sowie Staatsunternehmen sinnvoll. Das – in der Europäischen Union bewährte – Instrument der Beihilfenkontrolle wird nun auch auf Drittstaaten ausgeweitet. Ähnlich wie bei dem plurilateralen WTO-Übereinkommen zum öffentlichen Beschaffungswesen können liberale Demokratien Standards für staatliche oder staatlich subventionierte Unternehmen vereinbaren, um einen fairen Wettbewerb sicherzustellen. So können gemeinsame Regeln für den Wettbewerb festgelegt werden. Die Offenheit von Märkten sollte sich nicht nur an den Prinzipien Reziprozität und der Inländergleichbehandlung orientieren, sondern auch sicherstellen, dass der Wettbewerb nicht verzerrt wird. Hierfür können auch neue Institutionen wie eine internationale Monopol- und Wettbewerbskommission sinnvoll sein. Der Weg über plurilaterale Abkommen wäre auch bei Durchsetzung von Menschenrechts- und Arbeitsstandards möglich. Ein gemeinsames Abkommen zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht in Lieferketten kann durch entsprechende Marktmacht globale Standards setzen und dadurch sowohl Menschenrechte als auch fairen unternehmerischen Wettbewerb stärken. Die Europäische Union beweist seit Jahren, wie sie durch einen großen Binnenmarkt und gemeinsame Regulierung globale Standards setzen kann und die amerikanische Handelspolitik blickt bereits mit großem Interesse auf die Gesetzgebung der EU in dem Bereich (Bradford 2020).

Differenzierter Multilateralismus

Das bedeutet, dass es neben dem bisherigen inklusiven, multilateralen Ansatz, der den Anspruch hat alle Staaten miteinzubeziehen, einen neuen Multilateralismus braucht. Dieser Multilateralismus muss effektiver darin sein, Regeln für freien und fairen Handel durchzusetzen, Menschenrechte und Demokratie zu schützen und nicht durch einige, wenige Akteure blockiert werden können. Im Idealfall überlappen sich beide Formen von Multilateralismus in vielen Themenfeldern. Aber um die Resilienz der Globalisierung im Systemwettbewerb zu stärken, müssen Demokratien für einen effektiveren Multilateralismus arbeiten. Das heißt auch, in der Lage zu sein, Staaten, die demokratische und rechtsstaatliche Standards nicht einhalten aus Abkommen und Organisationen zur Not auch wieder auszuschließen. Damit die Welt in dieser neuen Phase der Globalisierung sicher für Demokratien ist, braucht es zuvorderst eine engere und entschlossene Kooperation unter Demokratien, die die liberale Weltwirtschaftsordnung stärken und weiterentwickeln (Ikenberry 2020). Das schließt die Stärkung der Welthandelsorganisation und ihres Streitschlichtungsmechanismus genauso ein wie den Aufbau neuer Institutionen und Kooperationsformen. Eine solches Vorgehen verbindet wirtschaftliche Offenheit und Multilateralismus mit Resilienz und einer Stärkung von Demokratien im Systemwettbewerb