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Demokratie
Politische Bildung gegen die Verächter der Demokratie

Bauernproteste
© picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

„Der Kaiser ist tot, und die Bauern protestieren – das ist ja wie im Mittelalter“, witzelte ein Spaßvogel in der vergangenen Woche. Aber zum Lachen ist die Situation eigentlich gar nicht. Wir beobachten eine zunehmende Kritik an „der Politik“, die sich aber über aktuelle, einzelfallbezogene Proteste hinausgehend immer mehr und immer öfter gegen das ganze „System“ wendet.

Kritik an den Herrschenden und Postulierung eigener Rechte – das sind Kernbestandteile einer liberalen Demokratie. Protest – so sagte es der Soziologe Armin Nassehi zuletzt in einem Interview - ist eine „Nein-Stellungnahme“. Dieses „Nein“ ungehindert und frei zu artikulieren, in die öffentliche Diskussion einzubringen und an die Herrschenden zu adressieren, um eigene Interessen durchzusetzen, ist Kern der politischen Kultur in einer offenen Gesellschaft.

Die liberale Demokratie, so stellt es Nassehi weiter dar, ist „davon geprägt, dass dieses ‚Nein‘ in die Institutionen integriert wird“. Heißt: Indem diejenigen, die sich negativ betroffen fühlen, auf die Missstände aufmerksam machen, initiieren sie einen Diskussions- und Entscheidungsprozess, in dem sich Gesellschaft und Politik auf Abhilfe des Problems verständigen. Der Unmut, der Ärger und der Protest, der sich in den Aktionen wechselnder Interessengruppen äußert – mal gegen eine vermeintlich unzureichende Klimapolitik, mal gegen vermeintlich schlechte Arbeitsbedingungen in bestimmten Branchen, mal gegen vermeintlich existenzbedrohende gesetzliche Bestimmungen, weitere wären zu nennen – droht jedoch, dieses für den demokratischen Streit elementar wichtige Fundament zu verlassen.

Proteste wenden sich immer häufiger gegen das ganze System, nicht gegen einzelne Entscheidungen. Zum Beispiel: Auch das schnelle Reagieren der Bundesregierung auf die Ankündigung der Bauernproteste, als man die Entscheidung zum Agrardiesel wieder zurücknahm, hat die Bauern nicht vom Losfahren abgehalten. Da geht es wohl um mehr, als um ein paar Cent Agrardieselförderung. Um es positiv zu formulieren: Man fühlt sich von „der Politik“ nicht verstanden. Um es negativ zu formulieren: Man traut „der Politik“ eine Problemlösung nicht mehr zu.

In der Kritik an der Ampel-Koalition und ihrer Regierungspolitik schwingt, noch nicht einmal nur unterschwellig, auch eine Demokratiekritik mit, die das Ganze so gefährlich macht. Aktuelle Ergebnisse bei CIVEY laufender Befragungen verdeutlichen das:

1.) Nur ein knappes Drittel der Befragten ist überhaupt zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie. Dabei sind die Befragten im Osten des Landes deutlich häufiger unzufrieden (69,7 Prozent) als die Befragten im Westen (55,0 Prozent). Und: Unter denjenigen, die in der „Sonntagsfrage“ eine Wahlabsicht äußern, sind die Wählerinnen und Wähler der AfD nur zu 3,5 Prozent (!) zufrieden mit der Demokratie. Mögliche Gründe für die allgemein schlechten Werte werden in der Befragung nicht genannt – aber sie dürften unterschiedlicher Natur sein. Denn: In einer Umfrage aus der gleichen Woche – so berichtet die „Berliner Morgenpost“ – sehen sieben von zehn Bürgern die Demokratie in Gefahr, und 91 Prozent wünschen sich, dass „Deutschland auch in Zukunft eine Demokratie bleibt“.

 

Umfrage
Umfrage

2.) Nur knapp 40 Prozent sind bei CIVEY aktuell der Meinung, dass wir in Deutschland tatsächlich eine „echte Demokratie“ haben. Zugespitzt nach Maximalpositionen: 21,5 Prozent sagen „Ja, auf jeden Fall“ – 34,7 Prozent sagen „Nein, auf keinen Fall“. Auch hier gibt es deutliche regionale Bewertungsunterschiede: Die Befragten im Westen sagen zu 49,1 Prozent insgesamt „Nein“, diejenigen im Osten sagen dies zu 68,8 Prozent. Und unter den Parteianhängern sticht auch hier die Wählerschaft der AfD negativ heraus, wo nur 3,5 Prozent überhaupt eine „echte Demokratie“ erkennen wollen. Auch hier ist die Begründung der Bewertung einer „echten Demokratie“ nicht überprüfbar, sondern nur aus Antworten auf andere Fragen aus diesem Feld zu schlussfolgern.

3.) Eine mögliche Fragestellung, die hier weiterhilft, bezieht sich auf eigene politische Mitwirkung. Nur wenig mehr als ein Drittel der Befragten ist bei CIVEY überzeugt, dass es in Deutschland möglich ist, durch eigenes politisches Engagement etwas zum Besseren zu verändern. Fast doppelt so viele wie „Ja, auf jeden Fall“ (15,6 Prozent) sagen hier „Nein, auf keinen Fall“ (28,2 Prozent). Bei den jüngsten Befragten ist nur insgesamt ein Viertel davon überzeugt, durch eigene politische Mitwirkung etwas verändern zu können. Und auch hier gibt es deutliche regionale Unterschiede: Im Osten des Landes sagen 27,7 Prozent insgesamt „Ja“, im Westen 36,2 Prozent. Und auch hier zieht die Anhängerschaft der AfD die Gesamt-Quote derer, die meinen, politisch etwas bewirken zu können, ordentlich herunter.

4.) Die Skepsis bezieht sich zudem nicht nur auf eine politische Mitwirkung: Nur knapp 13 Prozent der Befragten bei CIVEY sind überhaupt davon überzeugt, dass sie die gesellschaftliche Zukunft aktiv mitgestalten können; 82,5 Prozent glauben dies von sich nicht. Die jüngsten Befragten im Alter zwischen 18 bis 29 Jahren sind hier noch am ehesten zuversichtlich, aber auch bei Ihnen liegt die Zustimmung nur bei insgesamt 17,5 Prozent – von jugendlich-optimistischer Aufbruchsstimmung ist das sehr weit entfernt.

5.) Fast eine absolute Mehrheit der Befragten (49 Prozent) ist nicht überzeugt, dass sie in Deutschland ihre Meinung frei äußern können, gleich 29,1 Prozent sagen „Nein, auf keinen Fall“. Hier äußern insbesondere die 30- bis 39-Jährigen Skepsis, und vor allem die Befragten im Osten des Landes (56,1 Prozent). Und auch hier sind die AfD-Wähler mit 88,9 Prozent besonders überzeugt, zu den Unterdrückten im Land zu gehören – während die Wählerschaften von SPD und Grünen mit ähnlichen Werten gegenteiliger Auffassung sind und für sich in hohem Maße freie Meinungsäußerung sehen. Speziell diese Frage scheint unter dem Stichwort „Meinungs-Mainstream“ ideologisch hoch aufgeladen und möglicherweise eine der Erklärungen für die oftmals recht harsche Demokratiekritik zu sein.

6.) Ein bedenklicher Befund leitet sich aus einer weiteren Frage ab: Knapp 31 Prozent der Befragten glauben nicht, dass politische Wahlen in Deutschland grundsätzlich frei und fair sind, gleich 21,9 Prozent sagen „Nein, auf keinen Fall“. Hierbei tun sich in dieser starken Mindermeinung insbesondere die 30- bis 39-Jährigen, die Befragten im Osten des Landes und die Wählerschaft der AfD (73,9 Prozent!) mit deutlich überdurchschnittlichen Quoten hervor.

Insgesamt äußert sich in den dargestellten Antwortmustern eine bedenkliche Meinungslage, die geeignet ist, das Ansehen von liberaler Demokratie und offener Gesellschaft nachhaltig zu beschädigen. Viele Einschätzungen haben sich von faktenbasierten zu emotionsgetriebenen Meinungslagen entwickelt. In vielen Diskussionen wurden Vernunft und Logik durch einen – wie auch Armin Nassehi es beschreibt – „Unmut gegen die Ampel und das politische System, von dem man nicht mehr glaubt, dass es die richtigen Lösungen finden kann“ ersetzt.

Wohin das führen kann, kann man in einigen europäischen Ländern sehen: Das alles spielt denen in die Hände, die dieses „System“ ohnehin ablehnen, vielleicht sogar verachten, und deshalb daran arbeiten, es abzuschaffen. Es gibt eine politische Richtung, die diese Erosion durchaus mit Sympathie sieht, von deren Bestehen profitiert und sehr wahrscheinlich auch von deren Fortbestehen abhängig ist. Und die deshalb auf vielen Ebenen alles unternimmt, um Zweifel an der Effektivität des demokratischen Staates zu säen und zu stärken, um Proteste zu befeuern und auszuweiten, um die Grundlagen und die Errungenschaften der offenen Gesellschaft zu diskreditieren und um die Repräsentanten des liberalen Staates verächtlich zu machen.

„Systemkritik“, so sagt Armin Nassehi, „kommt momentan generell eher von rechts.“ Was das heißt, und worauf sich das bezieht, kann man, ziemlich unverblümt, jederzeit in den Wahlprogrammen der entsprechenden Parteien nachlesen.

Das geht dann so weit, dass – quasi aus Trotz – rechts gewählt oder zumindest eine entsprechende Wahlabsicht genannt wird, um Protest zu äußern. Der ARD-DeutschlandTrend von Infratest dimap hat Ende September zum Beispiel festgestellt: 80 Prozent der Anhängerinnen und Anhänger der AfD erklären, es sei ihnen "egal, dass die AfD in Teilen als rechtsextrem gilt, solange sie die richtigen Themen anspricht".

An der Meinungslage sind allerdings auch die demokratischen Parteien nicht völlig unschuldig. Man kann durchaus konstatieren, dass die Regierung den Grundsatz Karl Poppers „Alles Leben ist Problemlösen“ nicht ausreichend umsetzt. Man kann durchaus dem großen Liberalen Ralf Dahrendorf folgen und feststellen, dass Konflikt und Streit ein notwendiges Mittel der Politik ist und nicht wegmoderiert werden sollte. Man kann durchaus anmerken, dass es ein Stilmittel liberaler Demokratie ist, für ein Problem mehrere Handlungs- und Lösungsalternativen anzubieten und dazu eine Meinungslage einzuholen. Man kann durchaus beim liberalen Grundprinzip bleiben, dass die Menschen selbst entscheiden können und sollen, wie ihre persönlichen Belange geregelt werden.

Das alles funktioniert natürlich nur in einer funktionierenden Demokratie, die nicht nur im Grundgesetz, sondern im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger verankert sein muss. „Wichtig wäre“, sagte die Parteienforscherin Julia Reuschenbach im ‚Spiegel‘, „dass man mehr politische Bildung für alle ermöglicht und Menschen erklärt, wie wichtig unsere Demokratie ist. Dass man sich mit den Leuten beschäftigt, die nicht wählen gehen.“ Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit stellt sich dieser Aufgabe.