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Kaiserreich
Liberalismus-Kolloqium: Forschungsperspektiven auf das Kaiserreich

18. Januar 1871: König Wilhelm I. von Preußen wird im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles zum Deutschen Kaiser ausgerufen.
18. Januar 1871: König Wilhelm I. von Preußen wird im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles zum Deutschen Kaiser ausgerufen. © picture alliance / akg-images | akg-images

Das vom Archiv des Liberalismus jährlich organisierte Liberalismus-Kolloquium fragt anlässlich des Jahrestags der Reichsgründung von 1871 nach dem Spannungsverhältnis von Kaiserreich und Demokratie und zeichnet zwei Nachwuchswissenschaftler aus.

Ist das Kaiserreich noch das, als was es gedeutet worden ist? Bereits seit Monaten streiten Historikerinnen und Historiker auch öffentlich darüber, wie man das 1871 in Versailles proklamierte Kaiserreich charakterisieren soll und welchen Platz es in der deutschen Geschichte einnimmt. Spätestens mit dem Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses und der Potsdamer Garnisonkirche ist dabei das Papier der Geschichtswissenschaft dem Sandstein der Geschichtspolitik gewichen. Im Liberalismus-Kolloquium 2021 hat das Archiv des Liberalismus gemeinsam mit dem Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena führende Historikerinnen und Historiker zusammengebracht, um verschiedene Forschungsperspektiven zu beleuchten.

Definierbar ist nur Das, was keine Geschichte hat“, heißt es bei Friedrich Nietzsche. Der Streit um das Kaiserreich tobt vor allem deshalb so heftig, weil Kernbegriffe der politischen Sprache der Gegenwart ihre Bedeutung nur aus der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gewinnen. Was Freiheit meint, wird klar, wenn man auf den Mauerfall des 9. Novembers 1989 blickt; was Unfreiheit bedeutet, erkennt man am Novemberpogrom 1938. Doch wie das Kaiserreich in unser Verständnis von liberaler Demokratie hineinwirkt, erschließt sich nicht auf Anhieb. Zweifelsohne gibt es Kontinuitätslinien, die von den liberalen Gedanken des Staatsrechtlers Hugo Preuß über das Bürgerliche Gesetzbuch bis zum Reichstagsgebäude reichen, in dem der 20. Deutsche Bundestag soeben seine Arbeit aufgenommen hat. Pickelhaube, Junkertum und Obrigkeitsstaat scheinen dagegen mit einer modernen Demokratie kaum vereinbar – und verdichten sich, in der Interpretation von Eckart Conzes neuestem Buch, zu dunklen Schatten, die bis 1933 und Auschwitz reichen. Die vom Kolloquium aufgeworfene Frage, ob sich das Kaiserreich auf dem Weg zur liberalen Demokratie befand, wurde dementsprechend auch höchst unterschiedlich beantwortet. Dies zeigte sich vor allem in der Abenddiskussion, in der sich Conze, Dominik Geppert, Sonja Levsen und Anne Chr. Nagel den „Neuen Kontroversen um das alte Reich“ widmeten, die zuvor bereits in den Feuilletons aber auch auf plus.freiheit.orggeführt worden waren. Die fünf Sektionen des Kolloquiums befassten sich jeweils mit einem Kernthema, das die große Debatte in handlichere Teilaspekte aufschlüsselte. Unter der Überschrift „Kaiserreich und nation-building“ nahmen sich Oliver Haardt, Wolther von Kieseritzky, Michael Dreyer und Frank Lorenz Müller der staats- und verfassungsrechtlichen Dimension an. Der deutsche Föderalismus, dem Haardt jüngst eine vielbeachtete Monographie gewidmet hat, ist, wie sich nicht nur in der Coronapandemie gezeigt hat, ein wirkmächtiges Erbe des Kaiserreichs, dessen Institution – der Bundesrat – bis heute überdauert hat. Dass es sich für die Politik lohnt, selbst über einzelne Teilsätze zu streiten, wies Haardt dann auch in seinem Vortrag über die Verfassungsdebatten des Reichstags nach, in denen die „Samenkörner“ für die sich stetig fortschreitende Entwicklung des deutschen Einheitsstaates gepflanzt wurden. Müllers Betrachtung des Verhältnisses von Krone und Liberalismus im europäischen Vergleich zeigte eine weitere Ambivalenz des Freiheitsbegriffes. So seien die Spielarten des Liberalismus in Deutschland und die Monarchie keineswegs stets als Gegensatz begriffen worden, ebenso wenig wie nicht jede Demokratie automatisch auch liberal sei. Krone und Liberalismus hätten außerdem beide den „gefährlichen Treibstoff des Nationalismus“ verwendet.

Auch die zweite Sektion zu „Öffentlichkeit, Partizipation und konstitutionellem System“ zeigte Ambivalenzen auf. Andreas Biefang, Christoph Jahr und Hedwig Richter beleuchteten parlamentarische Möglichkeiten und autoritäre Grenzen des Kaiserreichs. Noch deutlicher zeigten sich Licht und Schatten in der dritten Sektion zu „Emanzipation – Inklusion und Exklusion.“ Andreas Fahrmeir, Kerstin Wolff, Uffa Jensen und Ulrich Sieg befassten sich hier mit Gleichberechtigung, Antisemitismus und Staatsbürgerschaft. Wolffs Einsicht, dass die politische Partizipation von Frauen nicht nur an den Buchstaben des Wahlgesetzes, sondern auch an den Rauchschwaden und Bierwolken des Stammtisches scheitern kann, war dabei eine besonders greifbare Lehre aus der Geschichte.

Die vierte Sektion zu „Kommunikation und Globalisierung“, an der sich Anne C. Nagel, Dirk van Laak, Carsten Burhop und Christoph Nonn, beteiligten, lenkte den Blick auf Fragen der Modernität des Kaiserreiches, beispielsweise im Infrastruktur-Liberalismus oder der Wissenschaft, und verortete die Debatte zugleich im internationalen Kontext. Sie schärfte das Verständnis von Liberalismus als globalem Ordnungskonzept. Auch die fünfte Sektion, „Liberale, Nation und Europa“, in der Jens Hacke, Jürgen Frölich und Henning Türk das Nachleben des Kaiserreichs von der Zwischenkriegszeit bis zur Europäischen Union diskutierten, ermöglichte neue Einsichten. Hier zeigte sich vor allem, wie Liberale die demokratischen Transformationsprozesse ausgestalteten. In der Weimarer Republik trugen Liberale – darunter auch Friedrich Naumann selbst – zum Wandel vom Kaiserreich zu einem demokratisch-liberalen Parlamentarismus bei. In der Bundesrepublik verabschiedeten sich Theodor Heuss, Walter Scheel und andere schließlich ganz von einem engen „Reichsbegriff“ und halfen, Deutschland fest im demokratischen Westen zu verankern.

Der Höhepunkt des Kolloquiums war die Verleihung des Wolf-Erich-Kellner-Gedächtnispreises des Jahres 2020 an Tobias Müller (Greifswald) und des Jahres 2021 an Margarete Tiessen (Cambridge/Chemnitz). In den Arbeiten der beiden Preisträger zeigt sich, dass Freiheit und Fortschritt keine Automatismen der Geschichte sind. Müller weist in seiner Arbeit nach, dass der amerikanische Populismus des 19. Jahrhunderts mit seinen durchaus emanzipatorischen Zügen nichts mit der Demagogie der Gegenwart zu tun hat. Tiessens Arbeit zum Kreis um den jüdischen Verleger Samuel Fischer wiederum schärft nicht nur den Blick für eine wichtige Quelle der liberalen Demokratie, sondern zeigt auch die Fragilität von Freiheit auf, wenn sie nicht gegen Hass, autoritäres Denken und Antisemitismus verteidigt wird.

Insgesamt belegte das Kolloquium, wie vielfältig das Kaiserreich in der aktuellen Forschung gedeutet wird und wieviel die gegenwärtigen politischen Debatten über die Demokratie und ihre Gefährdungen vom Blick auf das Kaiserreich profitieren können.