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Antisemitismus
Interview mit dem Historiker David Motadel zu Hamas und deutscher historischer Verantwortung

Amin el-Husseini

Amin el-Husseini, der Mufti von Jerusalem, kollaborierte mit den Nationalsozialisten und lebte 1941–1945 in Berlin

© picture alliance/United Archives | -

Der Historiker David Motadel, Autor von “Für Prophet und Führer: Die islamische Welt und das Dritte Reich” lehrt als Professor für Internationale Geschichte an der London School of Economics. Er studierte Geschichte an den Universitäten Freiburg, Basel und Cambridge, und wurde in Cambridge promoviert. Sein Buch schildert die Geschichte der Millionen Muslime unter deutscher Herrschaft. Eindringlich zeigt er, wie der NS-Staat und andere Großmächte den Islam für politische Zwecke vereinnahmten. Ein Standardwerk zur deutsch-islamischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Im Interview mit freiheit.org ordnet er die aktuellen Herausforderungen in Deutschland aus dem Terrorakt der Hamas ein.

Der schrecklichen Terrorakt der Hamas am 7. Oktober hat auch in westlichen Demokratien Antisemitismus insbesondere im Bezug zu Israel erschreckend sichtbar gemacht. Wie ernst ist die Lage aus Ihrer Sicht?

Es ist erschütternd zu sehen, wie die Terroranschläge der Hamas vom 7. Oktober von vielen in den westlichen Demokratien gerechtfertigt wurden. Ich habe das gesellschaftsübergreifend beobachtet, auch an unseren Universitäten. Die Verrohung des politischen Diskurses ist erschreckend.

In Deutschland scheinen sich aktuell Identitätsgräben aufzutun. Juden erleben seit dem 7. Oktober eine neue Dimension von aggressiven Antisemitismus, auch auf deutschen Straßen. Aber auch viele Muslime haben im Nachgang das Gefühl unter Generalverdacht zu stehen Antisemiten zu sein. Wie bewerten Sie die gesellschaftliche Situation als Sozialwissenschaftler?

Der Konflikt bietet eine Projektionsfläche für die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen. Es gibt viele andere blutige Konflikte auf der Welt, die die Menschen hier nicht annähernd so stark mobilisieren – die Vertreibung von Armeniern aus Bergkarabach, Saudi-Arabiens brutaler Krieg im Jemen, Chinas Konzentrationslager in Xinjiang, Myanmars Unterdrückung der Rohingya zum Beispiel haben bisher im Westen zu keinen Großdemonstrationen geführt. Die Situation in Israel-Palästina hingegen emotionalisiert Menschen weltweit erstaunlich stark. Für die selektive Fokussierung auf diesen Konflikt in den westlichen Demokratien gibt es eine ganze Reihe von Gründen, die ich hier nun aus Zeitgründen nicht alle anführen kann. Zum einen gibt es natürlich Diaspora-Gruppen, die das Thema auf die Tagesordnung rücken. Nicht zu ignorieren bei der selektiven Fixierung auf Israel als „Judenstaat“ sind häufig auch antisemitische Ressentiments. In Deutschland kommt hinzu, dass wir durch den Holocaust eine besondere historische Verantwortung gegenüber Israel haben.

Sie haben über die gezielte Beeinflussung und Vereinnahmungsversuche des Islam durch die Nationalsozialisten geforscht und veröffentlicht. Spielt diese Beeinflussung auch noch heute eine Rolle für den Antisemitismus in muslimisch-geprägten Gesellschaften?

Da bin ich skeptischer. Auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges, in den Jahren 1941 - 1942 – als deutsche Truppen in muslimisch bevölkerte Gebiete auf dem Balkan, in Nordafrika, auf der Krim und im Kaukasus einmarschierten und sich dem Nahen Osten und Zentralasien näherten – begann man in Berlin, den Islam als politisch bedeutsam wahrzunehmen. Das NS-Regime versuchte nun zunehmend, Muslime zum Kampf gegen angeblich gemeinsame Feinde zu mobilisieren – gegen das Britische Empire, die Sowjetunion, Amerika und die Juden.

In der NS-Propaganda, besonders in der arabischen Welt, spielten natürlich – ebenso wie in der deutschen Auslandspropaganda insgesamt – antisemitische Themen eine große Rolle. Diese wurden häufig mit Angriffen auf die zionistische Migration nach Palästina verbunden.

Die Frage nach der Rezeption der NS-Propaganda in muslimischen Gesellschaften ist nicht pauschal zu beantworten. Einige der muslimischen Verbündeten der Nazis – vor allem der Mufti von Jerusalem – teilten den Judenhass des NS-Regimes. In den Kriegsgebieten selbst – also auf dem Balkan, in Nordafrika oder in den Ostgebieten – war das Bild komplizierter. In vielen dieser Gebiete hatten Muslime und Juden lange zusammengelebt. Und in einigen Fällen halfen Muslime Juden, sich vor den Deutschen zu verstecken.

Am Ende waren die deutschen Versuche, muslimische Verbündete zu gewinnen, weniger erfolgreich, als in Berlin erhofft. Allzu oft wurde die pro-muslimische deutsche Politik von der Gewalt der deutschen Kriegsführung und Besatzungspraxis überschattet. Hinzu kam, dass es Berlins Behauptungen, die Muslime zu beschützen, an Glaubwürdigkeit fehlte. Und zuletzt waren Deutschlands Feinde – also vor allem das britische Empire, aber auch die Sowjetunion – häufig sehr viel erfolgreicher darin, Muslime zu rekrutieren: Hunderttausende kämpften für die Alliierten – vor allem in den Kolonialtruppen der Briten und de Gaulles Freien Franzosen – und trugen damit zur Befreiung Europas bei.

Wie groß ist dabei die historische Verantwortung Deutschlands für Antisemitismus in muslimisch-geprägten Gesellschaften zu bewerten?

Einige meiner Kollegen behaupten, dass die NS-Propaganda in der arabischen Welt während des Zweiten Weltkriegs nachhaltig zum heutigen arabischen Antisemitismus beigetragen hat. Nachweisen lässt sich dies nicht.

Tatsächlich ist aber Antisemitismus in vielen muslimischen Ländern heute ein Problem. Eine wichtige Rolle spielt dabei natürlich der politische Konflikt zwischen Israelis und den Palästinensern. In diesem Konflikt greifen manche im Nahen Osten auf antisemitische Parolen zurück und schüren Judenhass. Der Antisemitismus wird gewissermaßen zur ideologischen Waffe der Antizionisten. In Europa, wo der Antisemitismus geistesgeschichtlich viel tiefer verwurzelt ist, ist es häufig umgekehrt: Viele Antisemiten nutzen hier wohlfeile Israel-Kritik und Antizionismus, um ihren Judenhass zu verschleiern. Beide Entwicklungen sind tief menschenfeindlich.

Die Zunahme des Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland ist ebenfalls ein Problem. Bereits 2017 veröffentlichten das American Jewish Committee Berlin und die Lawrence und das Lee Ramer Institute for German-Jewish Relations eine Studie zu „Einstellungen von Geflüchteten aus Syrien und dem Irak zu Integration, Identität, Juden und Shoah“ die nahelegte, dass sowohl Antizionismus als auch Antisemitismus unter Flüchtlingen weit verbreitet ist. Dieser Entwicklung müssen wir offensiv entgegentreten. Es muss klar sein, dass Menschenhass in unserer Gesellschaft keinen Platz hat.

Gleichzeitig dürfen wir uns als Deutsche nicht selbstgefällig zurücklehnen. Es mag für den ein oder anderen in diesem Land moralisch erleichternd, ja vielleicht sogar therapeutisch sein, dass sich endlich einmal nicht die Deutschen für Antisemitismus verantworten müssen – dass endlich einmal die Anderen „schuld“ sind. Die Debatte um islamischen Antisemitismus gibt ihnen als Deutschen die Möglichkeit, mit dem Finger auf den „antisemitischen Orientalen“ zu zeigen, Schuldgefühle nach außen zu projizieren und als Deutsche einmal auf der richtigen Seite zu stehen. Moralische Überheblichkeit ist jedoch unangebracht. Es waren nicht Muslime, die 6 Millionen Juden ermordet haben – es war die Generation unserer Väter, Großväter und Urgroßväter. Antisemitismus und Rassismus bleiben in Deutschland vor allem auch ein deutsches Problem. Das erschreckende Erstarken der rechtsextremen AfD, aus deren Reihen NS-Verbrechen von Beginn an relativiert und bagatellisiert wurden, zeigt dies in bedrückender Weise.

Was raten Sie aus unserer innergesellschaftlichen Konfliktlogik rauszukommen?

Das Denken in Lagern muss aufgebrochen werden. Viel zu viele Menschen unterstützen blind nur eine Seite – Team Israel oder Team Palästinenser, wie bei Fußballmannschaften. Auf beiden Seiten wird dann viel verkürzt, der Konflikt selektiv wahrgenommen. Der Israel-Palästina-Konflikt ist natürlich viel zu komplex – mit Opfern auf beiden Seiten – als dass so ein Camp-Denken weiterhelfen oder uns gar einer Lösung näherbringen könnte, im Gegenteil. Wir sollten der anderen Seite mehr zuhören, mehr Empathie zeigen.

Antisemitismus – unter Muslimen und Nicht-Muslimen – und Hass gegen Muslime sollte zudem auf verschiedenen Ebenen robust bekämpft werden. Zunächst muss das Schüren von Hass oder gar der Aufruf zur Gewalt strafrechtlich mit aller Härte verfolgt werden. Noch wichtiger und nachhaltiger ist aber natürlich Bildung. Schulen und andere Bildungseinrichtungen müssen Kinder und Jugendliche über Antisemitismus und antimuslimische Ressentiments – und allgemeiner über Stereotype und Vorurteile gegenüber Minderheiten –aufklären und sensibilisieren. Leider hat die Bundesregierung hier nun vor, stark zu kürzen, wie etwa im Budget für die Bundeszentrale für Politische Bildung. Das ist verantwortungslos. Nie war der Sozialwissenschafts- und Geschichtsunterricht wichtiger als heute. Sie sind das Fundament einer freiheitlichen Gesellschaft.

Der Historiker David Motadel, Autor von “Für Prophet und Führer: Die islamische Welt und das Dritte Reich” lehrt als Professor für Internationale Geschichte an der London School of Economics. Sein Buch schildert die Geschichte der Millionen Muslime unter deutscher Herrschaft. Eindringlich zeigt er, wie der NS-Staat und andere Großmächte den Islam für politische Zwecke vereinnahmten. Ein Standardwerk zur deutsch-islamischen Geschichte im 20. Jahrhundert.