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Nahostkonflikt
Proteste an Universitäten: Austausch statt Polarisierung

Nur durch Austausch kann es gelingen, Spannungen abzubauen und Verständnis aufzubauen. Universitäten spielen dabei eine wichtige Rolle.
Polizisten bei einem propalästinensischen Protestcamp auf dem Campus der Goethe-Universität.

Polizisten bei einem propalästinensischen Protestcamp auf dem Campus der Goethe-Universität.

© picture alliance / Presse- und Wirtschaftsdienst | Bernd Kammerer

Meinungsfreiheit und die Freiheit der Wissenschaft sind untrennbar miteinander verbunden. Artikel 5 des Grundgesetzes vereint beide Rechte. Sein erster Absatz legt fest, dass jeder das Recht hat, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern. Sein dritter Absatz stellt klar, dass Wissenschaft, Forschung und Lehre frei sind. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes, dessen 75-jähriges Inkrafttreten wir diese Woche feiern, haben bewusst beide Aspekte in einem Artikel vereint. Sowohl die Meinungsfreiheit als auch die Freiheit der Wissenschaft basieren auf dem Grundprinzip der Freiheit des Geistes. Beide Freiheiten sind Ausdruck der individuellen Autonomie und der Möglichkeit, unabhängig von staatlicher Kontrolle oder Zensur zu denken, zu sprechen und zu forschen. Artikel 5 schützt Grundrechte, die essenziell für unser demokratisches Zusammenleben sind.

Doch kein Gesetz und auch kein Grundrecht wird in einem luftleeren Raum angewandt. Die Interpretation und Auslegung von Gesetzen schaffen seit jeher Spannungsfelder und kontroverse Diskussionen, nicht nur unter Juristinnen und Juristen, sondern in der gesamten Gesellschaft. Bezüglich Artikel 5 stellt sich beispielsweise die Frage, wo Meinungsfreiheit anfängt und wo sie aufhört. Aktuell lässt sich dies an einigen Universitäten und Hochschulen im Land beobachten, wo Aktivistinnen und Aktivisten Protestcamps errichten, Veranstaltungen stören und die Zugänge zu den Gebäuden blockieren.

Universitäten sind Orte, an denen Menschen nach Wissen und Erkenntnis streben. Sie sind der intellektuellen Freiheit und dem kritischen Denken verpflichtet und fördern die Reflexion über die Gesellschaft und das Individuum. Es ist daher nicht nur richtig, sondern auch notwendig, dass an Universitäten kritisch über aktuelle weltpolitische Ereignisse diskutiert wird, um ein fundiertes Verständnis für deren Hintergründe und Auswirkungen zu erlangen. Dies gilt auch und insbesondere für den Krieg in Gaza, der die Stabilität einer ganzen Weltregion und die Sicherheit von Millionen Menschen bedroht. Es ist wichtig, dass dabei die Meinungen von Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und verschiedenen Perspektiven gleichermaßen gehört werden. Nur durch einen vertieften Austausch kann es gelingen, Spannungen abzubauen und Verständnis für die jeweils andere Seite aufzubauen. Das mag angesichts der vermeintlichen Unversöhnlichkeit im Angesicht der Brutalität des Hamas-Pogroms vom 7. Oktober und der zehntausenden Toten im Gaza-Streifen ein hehrer Wunsch sein – doch wenn es Orte gibt, an denen ein solcher Austausch stets möglich sein muss, dann sind es die Universitäten mit ihrer Diversität an Studierenden und Lehrenden.

Proteste nicht pauschal diffamieren

Einige radikale pro-palästinensische Aktivistinnen und Aktivisten tragen jedoch zum Gegenteil bei, indem sie einen solchen Austausch sabotieren. Wenn sie eine Podiumsdiskussion an der Humboldt-Universität stören, weil eine Richterin aus Israel daran teilnimmt, schaden sie damit ihren eigenen Anliegen. Die Protestierenden ließen sich nicht auf eine vernünftige inhaltliche Diskussion ein, und ignorierten die Tatsache, dass Daphne Barak-Erez als Richterin am Obersten Gerichtshof des Landes die derzeitige israelische Regierung vermutlich kritisch sieht. Schließlich plante Premierminister Benjamin Netanjahu mit seiner Justizreform, die Unabhängigkeit des Gerichts signifikant zu beschneiden. Solche Aktionen vermitteln daher den Eindruck, dass die Protestierenden keine differenzierte inhaltliche Position vertreten, sondern auf Polarisierung aus sind. Dieser Ansatz ist bereits bei den Klimaschützern der Letzten Generation gescheitert, deren Maßnahmen zunehmend auf Ablehnung gestoßen sind und letztendlich dem Klimaschutz mehr geschadet als genutzt haben.

Gleichzeitig ist es nicht hilfreich, jeglichen Protest pauschal zu diffamieren. Meinungsfreiheit ist ein hohes demokratisches Gut, das auch Aussagen schützt, mit denen man nicht einverstanden ist. Auch zugespitzte Formen des Protests wie das Errichten von Camps sind dabei legitim. Ein Gericht in München hat zu Recht das Verbot eines Protestcamps an der Ludwig-Maximilian-Universität aufgehoben und die Errichtung mit Verweis auf die Versammlungsfreiheit erlaubt. Solche Protestformen können sinnvoll und wirksam sein, wenn sie die Breite der Meinungen akzeptieren und sich aktiv gegen eine weitere Polarisierung engagieren.

Das Münchner Urteil zeigt, dass der Vorwurf, man dürfe in Deutschland die israelische Regierung nicht kritisieren, Unsinn ist. Es ist heuchlerisch zu behaupten, man dürfe nichts mehr sagen, während man es tut und gleichzeitig versucht, einer anderen Person wie Richterin Barak-Erez dieses Recht zu nehmen.

Universitäten schaffen Verständigung und Verständnis

Eine rote Linie wird hingegen überschritten, wenn die Aktivistinnen und Aktivisten antisemitische Sprüche skandieren, Israel das Existenzrecht absprechen oder den Terror der Hamas feiern. Dann handelt es sich nicht mehr um Spannungsfelder im Bereich der Meinungsfreiheit, sondern um rechtswidriges Verhalten. Die Universitätsleitungen tun in solchen Fällen gut daran, die Polizei einzuschalten und Protestcamps auflösen zu lassen. Dass jüdische Studierende wieder Angst haben müssen, zur Universität zu gehen, ist beschämend vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und den im Grundgesetz verbrieften Freiheitsrechten. Der Angriff auf einen jüdischen Studierenden der FU Berlin war dabei der Tiefpunkt des Antisemitismus im Umfeld deutscher Universitäten.

Universitäten sind Orte des Austauschs, und viele von ihnen tragen gewinnbringend zur Diskussion über den Nahostkonflikt bei. Sie bieten Ringvorlesungen an, bei denen Gastdozierende verschiedene Themen und Perspektiven vermitteln und mit den Studierenden darüber diskutieren. Andere Universitäten laden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten ein, um Aspekte wie Konfliktlösung, Flucht oder auch Gesundheitsversorgung zu diskutieren. Sie schaffen Verständigung und Verständnis – an beidem mangelt es derzeit sehr.

Im Gegensatz zu vielen Protestierenden erkennen Studierende und Lehrende dieser Universitäten die Komplexität des Konflikts an und arbeiten aktiv gegen Pauschalisierungen, die letztendlich nur zu Ressentiments und weiterer Polarisierung führen können. Sie leben die ihnen in Artikel 5 des Grundgesetzes gewährte Freiheit von Meinung und Wissenschaft auf höchst wirksame Weise aus – ganz im Geiste der Mütter und Väter des Grundgesetzes vor 75 Jahren.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Bundesjustizministerin a.D., stellvertretende Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit sowie Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen.