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China Spektrum
Debatten jenseits der offiziellen Regierungslinie

China
© picture alliance / EPA | MARK R. CRISTINO

Chinas Regierung betreibt eine rigide Informationspolitik. Die Führung um Partei- und Staatschef Xi Jinping (习近平) versucht durch gezielte Steuerung von Nachrichten- und Informationsvermittlung sowie digital perfektionierte Zensur vor allem den Diskurs über sensible Themen, etwa den Krieg in der Ukraine, die Corona-Pandemie oder Gewalt gegen Frauen, zu kontrollieren.

Oberflächlich betrachtet gelingt das: Öffentlich sichtbare Proteste sind in China selten, werden meist nur von kleinen und relativ homogenen sozialen Gruppen initiiert und bleiben regional begrenzt. Und doch bringen Chinas Internetnutzer:innen ihren Unmut gegen Regierungsentscheidungen, Überwachung und Behördenversagen immer wieder in sozialen Medien zum Ausdruck. Manche dieser Äußerungen finden weite Verbreitung. Auf lokale Vorfälle bezogene Hashtags, Videos oder zugespitzte Posts erhalten schnell bis zu einer Million Klicks. Dadurch erzeugen sie virtuelle, aber dennoch wirkmächtige Stimmungsbilder. Diese fordern die chinesische Regierung mit ihrem allumfassenden Kontrollanspruch heraus – und können sie durchaus unter Druck setzen.

Chinas Führung unter Xi Jinping unternimmt deshalb viel, um Meinungsvielfalt und öffentliche Debatten einzudämmen. Besonders eng ist der Spielraum für Dissens im Vorfeld des im November dieses Jahres anstehenden Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas (KPC). Auf diesem soll Xi in seinen Ämtern bestätigt werden. Schwierige Entscheidungen, wie Reformen des Staatssektors oder Prioritätensetzungen in der Außenpolitik, sollen nicht durch öffentlichen Druck in Frage gestellt werden.

Schritt für Schritt engte die Führung unter Xi bestehende Freiräume ein. Alle Medien, die nach einer von Xi schon 2016 ausgegebenen Parole den „Familiennamen Partei“ tragen (媒体姓党), müssen der Parteilinie folgen. Im Oktober 2016 ordneten die Behörden die Schließung der beliebten pluralistischen Debattenplattform „Consensus“ (共识网) wegen „Verbreitung nicht korrekter Denkweisen“ an. Eine Reihe weiterer Diskussionswebseiten und öffentlicher Konten auf der Plattform WeChat folgten in den vergangenen Jahren. An den Universitäten durften kritische Köpfe wie der Rechtsprofessor Xu Zhangrun (许章润) oder die ehemalige Dozentin der obersten KP-Parteischule, Cai Xia (蔡霞), nicht mehr öffentlich sprechen oder wurden sogar ins Exil gedrängt. Vorlesungen an Hochschulen werden heute per Video überwacht und aufgezeichnet. [1]

Betreiber von Online-Plattformen müssen selbst aktiv zensieren und entsprechende Richtlinien der zentralen Propagandaabteilung umsetzen. Die chinesische Regierung kombiniert zudem (halb)automatisierte Zensurfilter mit Handarbeit, um die vielen, oft sehr kreativen, kritischen Wortspiele zu unterbinden. Initiator:innen von WeChat-Gruppen werden für Inhalte, welche die „nationale Sicherheit“ oder die „öffentliche Ordnung“ bedrohen bzw. das „Vaterland diffamieren“, strafrechtlich haftbar gemacht. Netizens sind angehalten, „illegale Informationen“ bei Chinas Cyberverwaltung (Cyberspace Administration of China, CAC) zu melden. [2]

Während von offiziellen Linien abweichende Stimmen eingehegt werden, sind Nationalismus, flammende Bekenntnisse zur Kommunistischen Partei und Angriffe auf vermeintliche Verräter und Feinde des Volkes salonfähig geworden. Kampagnen von den „kleinen Pinken“ (小粉红), wie junge nationalistische Online-Kommentatoren oft genannt werden, greifen auch internationale Unternehmen und Akteure an, wenn diese im Verdacht stehen, das Ansehen Chinas zu beschädigen. Oft erhalten sie bei derartigen Aktionen Rückendeckung von staatlichen oder staatsnahen Medien und Accounts.[3]

Die Mischung aus Zensur, Einschüchterung und daraus folgender Selbstzensur hat in der vergangenen Dekade das Spektrum des Sagbaren verengt. [4] Doch gerade dort, wo Chinas Bürger:innen persönlich betroffen sind, wird die staatliche Kontrolle brüchig. So zeigen die kritischen Reaktionen in chinesischen sozialen Medien auf Ereignisse um die Corona-Pandemie, dass die Zensurmaßnahmen der Regierung nicht alles erfassen. Sichtbar wurden zum Beispiel kritische Reaktionen auf die Zensur und den späteren Tod des Arztes Li Wenliang (李文亮), der als einer der ersten eindringlich vor der Gefahr durch Covid-19 gewarnt hatte. Auch die mit äußerst rigiden Mitteln in verschiedenen chinesischen Städten durchgesetzten Lockdowns zur Umsetzung der „dynamischen Null-Covid-Strategie“ werden in Chinas sozialen Medien teils harsch kritisiert – und die Zensurbehörden haben Schwierigkeiten, die Äußerungen schnell aus dem Netz zu tilgen.

Manchmal erzielen die Zensoren sogar das Gegenteil dessen, was sie erreichen wollen. Dies war der Fall bei dem bekannten Influencer Li Jiaqi (刘佳琦), der am 3. Juni in seinem Livestream ein Stück Schokoladenkuchen in Form eines Panzers ins Bild rückte – und dann zensiert wurde. Auch wenn Li sich seines “Fehlers” wohl nicht bewusst war, Content-Moderatoren sahen die Aktion als Anspielung auf die Niederschlagung der Protestbewegung auf dem Tiananmen-Platz am 4. Juni 1989 und walteten ihres Amtes. Doch gerade diese Zensuraktion machte offenbar viele Zuschauer neugierig und ließ sie zum Ereignis recherchieren, über das im offiziellen China heute geschwiegen wird. [5]

Die Beispiele zeigen: die ideologischen Gleichschaltungsversuche der chinesischen Regierung und der Kommunistischen Partei Chinas sind fragil angesichts einer diversen und wortstarken Gesellschaft. Chinas Bürger:innen haben und formulieren eigene Vorstellungen von ihrer Zukunft, die sich nicht decken mit dem Machtanspruch ihrer Regierung, alles zu kontrollieren. Für hiesige Beobachter ist es für ein vorausschauendes und tiefergehendes Verständnis der Volksrepublik jenseits offizieller Parolen deshalb wichtig, über zentrale Debatten, ihre Dynamiken und Protagonist:innen in China gut informiert zu sein.

 

Dies ist ein Auszug aus dem aktuellen China Spektrum, welches in Kooperation mit dem Mercator Institute for China Studies (MERICS) und dem China-Instituts der Universität
Trier (CIUT)
erarbeitet wurde.

 

[1] Über Xu Zhangrun siehe China Heritage (2019). „Xu Zhangrun 許章潤 Archive“. 16. April. https://chinaheritage.net/xu-zhangrun-%e8%a8%b1%e7%ab%a0%e6%bd%a4/. Zugriff am: 06.07. 2022; Über Cai Xia siehe Kuo, Lily (2020). „China‘s Cai Xia: former party insider who dared criticise Xi Jinping”. 21. August. The Guardian. https://www.theguardian.com/world/2020/aug/21/china-cai-xia-former-part…. Zugriff am: 06.07.2022

[2] Vgl. Kirchner, Ruth und Thomas Reichart (2018). „Situation von Medien und Internet“. Bundeszentrale für Politische Bildung. 07. September. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/275566/situation-von-medi-en…. Zugriff am: 06.07.2022

[3] Als sich H&M Besorgnis über Vorwürfe der Zwangsarbeit im Zusammenhang mit der Baumwollproduktion in Xinjiang äußerte, hagelte es Kritik von dem kommunistischen Jugendverband Chinas (KJVC), chinesischen Staatsmedien und nationalistischen Nutzern sozialer Medien, vgl. Reuters (2021). „H&M‘s Xinjiang labour stance raises social media storm in China“. 24. März. https://www.reuters.com/article/china-xinjiang-cot-ton-idCAL4N2LM24D. Zugriff am: 06.07.2022

[4] Vgl. Merics (2017). “Ideas and ideologies competing for China‘s political future”. 05. Oktober. https://merics.org/en/report/ideas-and-ideologies-competing-chinas-poli…. Zugriff am: 06.07.2022.

[5] Ni, Vincent (2022). “Li Jiaqi: Chinese influencer’s career hangs in balance after ‘tank cake’ stream”. 09. Juni.The Guardian. https://www.theguardian.com/world/2022/jun/09/li-jiaqi-chinese-influenc…. Zugriff am: 06.07.2022.