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Repressive Gesetzesentwürfe in Zeiten von Corona

Menschenrechtsverletzungen auf der parlamentarischen Agenda in Ungarn und Polen
Andrzej Duda und Viktor Orbán
Der polnische Staatspräsident Andrzej Duda und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán  © picture alliance / PAP

Die zunehmend autokratischen Tendenzen, die sich in Polen und Ungarn während der Corona-Krise beobachten lassen, versetzen die Europäischen Union in Alarmbereitschaft. Da Straßenproteste derzeit verboten sind, befürchten Menschenrechtsaktivisten, dass die Pandemie von den nationalkonservativen Regierungen in beiden Ländern genutzt wird, um deren Macht zu festigen und Demokratie und Menschenrechte zu untergraben. Die Herausforderung der COVID-19-Krise darf nicht als Ablenkung von Gesetzesmaßnahmen genutzt werden, die darauf abzielen, die Menschenrechte einzuschränken oder bestimmte Personengruppen zu stigmatisieren.

Abtreibungsverbot in Polen

Hinter der Kulisse der Pandemiebekämpfung arbeitet die polnische Regierung weiter an einer regressiven Gesetzgebung, in dem sie zwei Bürgerinitiativen auf die Agenda gesetzt hat, die die Rechte auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung einschränken und das Leben und die Gesundheit von Frauen und Jugendlichen gefährden.

Das polnische Unterhaus (Sejm), das von Jarosław Kaczyńskis regierender konservativer Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) dominiert wird, stimmte am 16. April dafür, einen Gesetzesentwurf zur Verschärfung der Abtreibungsregeln im streng katholischen Land den Ausschüssen zur weiteren Arbeit zu übermitteln.

Polen hat bereits eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze in Europa, das den Schwangerschaftsabbruch nur im Falle von Vergewaltigung, Inzest, Missbildungen oder unheilbarer Krankheit des Fötus oder einer ernsthaften Gesundheitsbedrohung der Mutter erlaubt. Die ultrakonservative Bürgerinitiative zielt darauf ab, den Schwangerschaftsabbruch zu verbieten, selbst wenn der Fötus schwerste Behinderungen hat und nicht lebensfähig ist, was der häufigste Grund für Abtreibungen in Polen ist.

Nachdem ein ähnlicher Versuch zur Verschärfung des Abtreibungsgesetzes im Jahr 2016 nach massiven Protesten Zehntausender Frauen zunächst vom Parlament abgelehnt wurde, ist die Gesetzesvorlage inmitten der Corona-Krise wieder auf die Agenda gehoben worden – zu einem Zeitpunkt also, da die Versammlungsfreiheit aufgehoben ist.

Monika Rosa, Parlamentsabgeordnete der liberalen Partei Nowoczesna, sieht das Timing für den Gesetzesentwurf bewusst gewählt: „Die polnische Regierung nutzt den Ausbruch der Pandemie aus, um diese gefährlichen Gesetze zu erlassen. Sie setzt auf die derzeit eingeschränkte Protestfähigkeit von Frauen. Sie will so die kollektive Stimme der Frauen zum Schweigen bringen, die als einzige in dieser Angelegenheit die Autorität besitzen sollten, Entscheidungen über ihren Körper zu treffen.“

Menschenrechtsverteidiger warnen davor, dass die Gesetze zur Einschränkung oder Kriminalisierung von Abtreibungen Frauen dazu bringen, nach Alternativen zu suchen, die ihr Leben und ihre Gesundheit gefährden könnten.

Die neue Einschränkung des Abtreibungsgesetzes wurde von einer ultra-konservativen katholischen Gruppe vorgeschlagen. Der polnische Präsident Andrzej Duda, ein Verbündeter der regierenden Partei PiS, sagte, er würde das Gesetz gerne unterzeichnen, sobald es „seinen Schreibtisch erreicht“. Duda kann sich laut Umfragen gute Chancen bei seiner Wiederwahl im Mai ausrechnen. Viele vermuten, dass die polnische Regierung gerade deshalb darauf beharrt, die Präsidentschaftswahl trotz der bestehenden Corona-Notstandsmaßnahmen durchzuziehen.

Haftstrafe für Sexualkunde-Unterricht in Polen

Ein weiterer Gesetzesentwurf auf der parlamentarischen Agenda könnte zur Folge haben, dass Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, wie Lehrern, Autoren und Gesundheitspersonal, und auch Organisationen, die Sexualkunde oder Informationen über sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte anbieten, Gefängnisstrafen drohen.

Die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) interpretiert eine umfassende Aufklärung über Sexualität und Bemühungen zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter als Angriffe auf „traditionelle“ Familienwerte und Bedrohungen für Kinder. Sie verwendet solche Argumente, um Gruppen, die für Frauen- und LGBT-Rechte kämpfen, zu diffamieren.

In Zeiten wie diesen und in einem Land, in dem die sexuellen und reproduktiven Rechte bereits äußerst streng begrenzt sind, ist die Aufklärung über Sexualität von entscheidender Bedeutung. Eine umfassende Sexualerziehung ist unerlässlich, um jungen Menschen dabei zu helfen, Entscheidungen über Dinge wie einvernehmlichen Sex und Konsens zu treffen, sexuell übertragbare Infektionen wie HIV zu verhindern, ungewollte Schwangerschaften und Müttersterblichkeit zu verringern und Menschen zu helfen, ein gesundes, sicheres und produktives Leben zu führen.

Informationskampagnen, flächendeckende Tests, Investitionen in Krankheitsforschung, Unterstützung für das medizinische Personal, Verfügbarkeit von Medikamenten und Schutzmitteln, Rücksichtnahme gegenüber Mitmenschen und Überwindung von Stigmatisierung und Diskriminierung haben sich bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie als erfolgreich erwiesen. Es ist an der Zeit, dass man über die sexuelle und reproduktive Gesundheit redet und sexuell übertragbare Krankheiten mit denselben Mitteln bekämpft. Parlamentarier sollten sich daran erinnern, dass der Zugang zur Gesundheitsversorgung, einschließlich Informationen zur reproduktiven Gesundheitsversorgung, ein Menschenrecht ist.

Dunja Mijatović, Menschenrechtskommissarin des Europarates, fordert das polnische Parlament auf, die beiden Gesetzesentwürfe abzulehnen. "In dieser außergewöhnlichen Zeit der COVID-19-Pandemie müssen sich Politiker und Entscheidungsträger der Versuchung widersetzen, solche Maßnahmen durchzusetzen, die mit den Menschenrechten unvereinbar sind", fügte die Kommissarin hinzu.

In den wenigen Wochen bis zu den polnischen Präsidentschaftswahlen am 10. Mai wächst in der EU die Sorge, dass nationalistische und populistische Kräfte die Corona-Krise als Deckmantel nutzen könnten, um die bereits fragilen Demokratien fester in den Griff zu bekommen. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sicherte sich bereits das Recht, sein Land per Dekret auf unbestimmte Zeit zu regieren.

Angriff auf die Rechte von Transgender-Personen in Ungarn

Am 31. März legte die ungarische Regierung unter Viktor Orbán dem ungarischen Parlament einen Gesetzentwurf vor, der es Transgender-Personen u.a. unmöglich machen würde, ihr Geschlecht legal zu ändern.

Die Kategorie „Geschlecht“ würde durch “Das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht“ im nationalen Register und in Ausweisdokumenten ersetzt werden. Sollte das Gesetz gebilligt werden, wäre eine nachträgliche Änderung dieses Eintrags ausdrücklich untersagt. Da Daten in offiziellen Dokumenten wie Personalausweisen, Führerscheinen und Reisepässen aus dem nationalen Register entnommen werden, würde sich die Verabschiedung des Gesetzes auch auf diese auswirken.

Human Rights Watch erklärt, welche Herausforderungen dieser Gesetzentwurf für Transgender-Personen darstellt: „Wenn Regierungen Trans-Personen zwingen, Dokumente mit sich zu führen, die nicht ihrer Identität und ihrem Erscheinungsbild entsprechen, ist jede Situation, in der Dokumente angefordert oder das Erscheinungsbild unter die Lupe genommen wird, potentiell mit Gewalt und Erniedrigung verknüpft.“ Dies setzt Transgender-Personen potenzieller Diskriminierung in Bezug auf Beschäftigung, Wohnen, Zugang zu Waren und Dienstleistungen sowie behördliche Verfahren aus.

LGBTIQ-Rechte und die sogenannte „Gender-Ideologie“ sind häufige Angriffsziele von rechtsextremen und konservativen Politikern. Die nationalkonservative Regierung unter Viktor Orbán hat zuvor eine Maßnahme eingeführt, die das Studienfach Geschlechterforschung (Gender Studies) aus den Universitäten des Landes verbannt hat.

Was die EU jetzt tun muss

Die Institutionen der Europäischen Union sollte das Abtreibungsverbot, die Sexualkunde-Einschränkung und das neue Transgender-Gesetz in die lange Liste der zu überprüfenden Menschenrechts- und Rechtsstaatlichkeitsverletzungen durch die polnische und ungarische Regierung aufnehmen und das Verfahren nach Artikel 7, das die politische Sanktionierung eines EU-Mitgliedstaats ermöglicht, dringend vorantreiben. Sie sollten auch die demokratische Situation in Polen und Ungarn dauerhaft beobachten und über diese berichten.

Insbesondere in der derzeitigen Situation sollten alle pro-europäischen Kräfte im Europäischen Parlament genau hinschauen und jeden Versuch, die in Corona-Zeiten erteilten Befugnisse für die eigenen politischen Zwecke zu missbrauchen, klar und mutig verurteilen. Der Schwerpunkt der Regierungen während der Pandemie sollte darauf liegen, die Gesundheit und die Rechte der Menschen zu schützen, nicht sie zu gefährden. Während einige Länder über eine langsame Rückkehr zur Normalität und den Erholungsprozess für ihre von der Corona-Pandemie angeschlagene Wirtschaften sprechen, könnte die Erholung der demokratischen Institutionen in Polen und Ungarn noch lange andauern.

 

Toni Skorić ist Projektkoordinator für Mitteleuropa und die baltischen Staaten im Stiftungsbüro in Prag.