EN

75 Jahre Grundgesetz
Das Grundgesetz, die Lektionen aus Weimar und neue Gefahren nach 75 Jahren

Hans Vorländer zu 75 Jahre Grundgesetz.

Wie sich die Zeiten zu wiederholen scheinen. Nach 75 Jahren wird in Deutschland wieder über die Wehrhaftigkeit der Demokratie diskutiert. Äußere und innere Herausforderungen lassen die demokratische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland angreifbar erscheinen. Die Sorge besteht, dass damit das gefährdet sein könnte, was vor 75 Jahren mit der Verkündung des Grundgesetzes begann: eine freiheitliche Ordnung, mit einer Verfassung konstituiert, die die Achtung der Menschenwürde an den Anfang des Textes stellt und die Grundrechte zu schützen sucht gegen die Bedrohungen, denen individuelle und kollektive Freiheiten ausgesetzt sind.

Das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremistischer Kräfte setzt heute, im 75. Jahr des Grundgesetzes, die Frage nach einem Parteiverbot genauso wie die Möglichkeit einer individuellen Grundrechteverwirkung von Personen, die gegen die freiheitliche demokratische Ordnung agieren, auf die Tagesordnung. Auch Institutionen wie das 1951 eingerichtete Bundesverfassungsgericht sehen sich potentiellen Gefährdungen ihrer Unabhängigkeit ausgesetzt. Die Widerstandsfähigkeit, die Resilienz der grundgesetzlichen Ordnung ist zum Thema geworden. Das überrascht, waren die letzten Jahrzehnte doch von der Überzeugung geprägt, dass die Demokratie Deutschlands, die mit dem Grundgesetz von 1949 begründet worden war und die sich mit der Vereinigung von Weststaat und DDR 1990 auch auf Ostdeutschland erstreckte, in sich gefestigt und unangefochten ist und somit auch stürmischen Zeiten Stand halten würde.

Das mag auch so sein, doch sicher ist es nicht. Demokratien sind in der Geschichte der politischen Ordnungen stets labile Einrichtungen gewesen, herausgefordert und oftmals zerstört von autokratischen, totalitären und diktatorischen Strömungen. Die Auflösung der Weimarer Republik, der Staat des Nationalsozialismus und der Holocaust zeigen, wie schnell aus einer auf Freiheit, Selbstbestimmung und zivilem Konfliktaustrag angelegten Ordnung ein menschenverachtendes, gewalttätiges und kriegerisches Regime erwachsen kann. Die Weimarer Demokratie hat sich aus innen heraus selbst zerstört. Es gab zu wenige Demokraten, dafür eine autoritäre politische Kultur und politische Extremismen, die die Weimarer Verfassung erst durchbrachen und dann gegenstandslos werden ließen. Hitler baute die Reichsverfassung so um, wie es heute Rechtspopulisten tun oder zu tun beabsichtigen – und sich dabei einer Anscheinslegalität bedienen, die trügerisch ist und verschleiern soll, dass trotz der Einhaltung formaler Prozeduren demokratische Verfassungen den Tod totalitärer Strangulierung sterben.

Lektionen aus der Geschichte

Die Überlegungen im Herrenchiemseer Konvent und die Diskussionen im Bonner Parlamentarischen Rat ließen früh erkennen, dass das Grundgesetz in fundamentaler Weise Lektionen aus der Geschichte ziehen und den westdeutschen Teilstaat mit verfassungsrechtlichen Mitteln sicher für die Demokratie machen sollte. Das Grundgesetz sollte sich von den Vorgängerverfassungen unterscheiden und dabei Institutionen und Schutzvorkehrungen schaffen, die ein nochmaliges Scheitern einer freiheitlichen Republik verhinderten.

Im Grundgesetz konnte damit der Entwurf für eine stabile politische Ordnung, für ein demokratisches Deutschland gesehen werden. So hatte der Parlamentarische Rat Konsequenzen aus dem Scheitern der Weimarer Republik zu ziehen versucht, als er für wesentlich erachtete Strukturdefekte der Weimarer Reichsverfassung, vor allem die Dualstruktur von parlamentarischem und präsidentiellem System, überwand. Das parlamentarische Regierungssystem sollte durch die Einfügung des konstruktiven Misstrauensvotums und die „kanzlerdemokratische" Zuschneidung von Stellung und Befugnissen des Regierungschefs krisenfest gemacht werden. Den Parteien, in Weimar noch als „extrakonstitutionelle Erscheinungen" (Heinrich Triepel) behandelt, wurde in Artikel 21 eine besondere Privilegierung im Prozess der politischen Willensbildung erteilt. Die Wehrhaftigkeit des Grundgesetzes war ebenfalls das Ergebnis einer kritischen Rezeption der Weimarer Verfassung, deren vermeintlicher Werterelativismus für die Machtübernahme Hitlers mitverantwortlich gemacht wurde. Deshalb beschloss der Parlamentarische Rat eine inhaltliche Unabänderbarkeit (Art. 79, sog. „Ewigkeitsgarantie") für die grundlegenden freiheitlichen und demokratischen Verfassungsprinzipien, die zugleich „wehrhaft" gegen antidemokratische Kräfte, vor allem verfassungswidrige Parteien, behauptet werden sollten, um pseudolegalen Machtübernahmen „streitbar" entgegentreten zu können.

Vorrang der Verfassung und der durch sie gewährleisteten Grundrechte

Als Reaktion auf den Nationalsozialismus hatte das Grundgesetz auch den Rechtsstaat besonders akzentuiert und ausgebaut. Vor allem die unmittelbare Geltung der Grundrechte, die Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt, dieGarantie des Rechtschutzes und die Verfassungsbindung des Gesetzgebers ließen die Demokratie des Grundgesetzes zu einer konstitutionellen Demokratie werden, die keinen Zweifel am Vorrang der Verfassung und der durch sie gewährleisteten Grundrechte zuließ. Darin und im stark repräsentativen Zuschnitt des politischen Entscheidungsprozesses brachte sich eine institutionelle Skepsis gegenüber plebiszitären Formen der Ausübung von Volkssouveränität zum Ausdruck. Und auch der Mehrheitsdemokratie wurden Zügel angelegt, die Grenzen des Volkswillens und des Parlaments liegen in der Gewährleistung der Grundrechte. Damit sollte auch dem demokratischen Paradoxon gewehrt werden, dass sich die Demokratie – durch Mehrheitswillen – selbst abschaffen kann.

Dass das Grundgesetz so etwas wie eine Gegenverfassung zum Scheitern der Weimarer Republik und zum Nationalsozialismus sein sollte, stellte besonders sein Artikel 1, der die Würde des Menschen für unantastbar erklärte, in aller Deutlichkeit heraus. Auch und besonders die dann 1951 erfolgende Einrichtung eines gesonderten Verfassungsgerichtes erwies sich als folgenreich, weil die Verfassungsgerichtsbarkeit dem Grundgesetz institutionelle Wirksamkeit und Geltung verlieh und es qua autoritativer Interpretation fortentwickelte. Es sollte in der Folge nicht nur mit seiner Rechtsprechung im Bereich der kommunikativen Freiheitsrechte demokratische Entwicklungshilfe für die junge Bundesrepublik geben, es wurde über die Zeit zu einem machtvollen (Veto-)Player im Regierungssystem und über das – im Jahre 1969 im Grundgesetz verankerte – Institut der individuellen Verfassungsbeschwerde zu einer Art „Bürgergericht“ (Jutta Limbach). Auch sollte es dem Verfassungsgericht obliegen, über die Grenzmarken demokratischer Auseinandersetzung und Entscheidungshandelns zu wachen, Parteien zu verbieten und Grundrechtsverwirkungen festzustellen.

Eine damals nicht absehbare Erfolgsgeschichte

Was aus der Perspektive des Jahres 2024 wie eine Erfolgsgeschichte aussieht, war 1949 keineswegs absehbar. Das Grundgesetz hatte die Bundesrepublik Deutschland aus der Taufe gehoben, mit seiner Verkündung vor 75 Jahren, am 23. Mai 1949, war die westdeutsche Republik gegründet. Aber das Grundgesetz war nur die Verfassung eines Teilstaates, weshalb es auch nicht Verfassung, sondern, als Ausdruck seines transitorischen Charakters, „Grundgesetz" genannt wurde. Mit der Wiederherstellung der deutschen Einheit sollte seine Existenz beendet sein und durch eine Verfassung, die das gesamte deutsche Volk in Freiheit beschließen sollte, ersetzt werden. Dass es dann anders kam und die Vereinigung der beiden Staaten über Artikel 23 und den Beitritt der DDR zum Geltungsgebiet des Grundgesetzes erfolgen sollte, war im Wesentlichen dem engen Zeitfenster für den Vereinigungsprozess geschuldet. Eine verfassunggebende Versammlung, die eine neue, gesamtdeutsche Verfassung erarbeitet und dann dem Volke zur Abstimmung vorgelegt worden wäre, kam nicht zustande. Damit wiederholte sich, was auch 1949 schon der Fall war: Wo keine plebiszitäre Zustimmung erfolgte, musste sich das Grundgesetz seine Anerkennung erst über die Zeit in der Bevölkerung erwerben.

Das Grundgesetz war fernab einer teilnehmenden Öffentlichkeit entstanden. Nur einige wenige überregionale Tageszeitungen berichteten regelmäßig über den Gang der Beratungen. Die Grundgesetzdiskussionen standen im Schatten dessen, was der Wirtschaftsrat in Frankfurt am Main an grundlegender wirtschaftlicher Neuordnung bereits mit der Währungsreform von 1948 eingeleitet hatte. Dieser hatte sich wesentlich größerer öffentlicher Aufmerksamkeit erfreut, weil er mit seinen wirtschaftlichen Maßnahmen, die den Abbau der Zwangswirtschaft und die ökonomische Regeneration verfolgten, die Alltagssorgen und -probleme der Bevölkerung sehr viel stärker tangierte. Der Prozess der Bestellung der Mitglieder des Parlamentarischen Rates wie der Zustimmung zum Bonner Grundgesetz hatte sich zudem über die einzelnen Länder und ihre Parlamente vollzogen. Allein die sich in der ersten Bundestagswahl im August 1949 dokumentierende hohe Zustimmung zu den politischen Kräften, die den Verfassungsgebungsprozess getragen hatten, konnte als populare Ratifizierung post festum gedeutet werden.

Steigende Anerkennung nach schwierigem Beginn

Nach seiner Verkündung besaß das Grundgesetz zunächst auch keinen hohen Identifikationswert. Als Übergangsverfassung für ein westdeutsches Provisorium sollte es eine solche Funktion auch gerade nicht einnehmen. Seine raison d’être bestand darin, dass es auf etwas Anderes, nämlich auf die eigene Überwindung und eine zukünftige Verfassung Gesamtdeutschlands, verwiesen und damit seinen Geltungsanspruch unter den Vorbehalt der Vorläufigkeit gestellt hatte. Das Grundgesetz war Erinnerung an den Verlust nationalstaatlicher Einheit und zugleich Auftrag und Mahnung, wie es in der Präambel hieß, „die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden".

Im neu gegründeten Weststaat war es zudem so, dass das Grundgesetz rund 40 Prozent der Bevölkerung gleichgültig war. Nur 21 Prozent waren an der Verfassung interessiert. Auch 1955 kannte mehr als die Hälfte ihre Verfassung nicht. Immerhin hielten schon damals 30 Prozent das Grundgesetz für „gut", 14 Prozent zeigten sich unentschieden und nur fünf Prozent der Befragten fanden es „nicht gut". Im Übrigen war eine Mehrheit der Westdeutschen bis Anfang der 1950er Jahre der Überzeugung, dass das totalitäre, diktatorische Regime der Vergangenheit durchaus auf einer guten Idee beruht habe, diese aber nur schlecht und unzureichend ausgeführt worden sei. Von einer demokratischen Verfassungskultur konnte bis weit in die 1950er Jahre hinein nicht die Rede sein.

Somit erwarb sich das Grundgesetz erst allmählich seine Anerkennung in der Bevölkerung. Ganz entscheidend trugen die großen Verfassungskonflikte, zuerst um die Wiederbewaffnung und die Westintegration, dann um die Notstandsverfassung und die Reformpolitik der 1970er Jahre, dazu bei, dass der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ein zentraler Platz im Selbstverständnis der Demokratie zukam. Die Identifikation mit dem Grundgesetz ging sogar so weit, dass die Bundesrepublik, der eine nationalstaatliche Identifikation verwehrt gewesen war, über die Verfassung eine neue Form des Patriotismus, den „Verfassungspatriotismus", für sich entdeckte. Aus dem Provisorium war ein Definitivum geworden – just in dem Moment, als das Grundgesetz seine Funktion eigentlich erfüllt hatte und einer neuen, gesamtdeutschen Verfassung hätte Platz machen müssen. Die Ironie der Geschichte aber wusste dies zu verhindern. Aus der Übergangsverfassung war das Grundgesetz somit 1990 zur deutschen Verfassung geworden.

Ein Glücksfall

Retrospektiv wird man feststellen müssen, dass das Grundgesetz ein Glücksfall für die zweite deutsche Demokratie gewesen ist. Es hat sich bewährt. Und das lag nicht allein an den Verfassungsnormen, deren symbolischer Gehalt für das Selbstverständnis gleichwohl nicht überschätzt werden kann. Es waren auch die Institutionen und politischen Kräfte, die sich ganz überwiegend an das Grundgesetz gehalten und es zur Grundlage ihres politischen Handelns gemacht haben. Das verlief nicht immer konfliktfrei, auch bedurfte es oftmals der streitschlichtenden, korrigierenden und ermahnenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das es zugleich verstand, die verfassungsmäßige Ordnung in vielfältiger Weise fortzuentwickeln. Nicht zuletzt sein hohes Ansehen hat auch zu der beständig großen Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zum Grundgesetz als Spielregelwerk des Politischen und als Forum gesellschaftlicher Selbstverständigung beigetragen. Zwei Mal hat das Verfassungsgericht Parteien verboten – 1952 die Sozialistische Reichspartei, eine Nachfolgerin der NSDAP, und 1956 die Deutsche Kommunistische Partei – und damit den antitotalitären Impetus in der Gründungsphase bestärkt. Als robuste Verfassungsordnung hat sich das Grundgesetz in den letzten 75 Jahren bewährt – und doch wird man sich fragen müssen, ob die eigentliche Bewährungsprobe erst noch bevorsteht.