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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Corona
Angst vor der Mutation

Die Bundesregierung weigert sich, einen Plan für den Ausstieg aus dem Lockdown vorzulegen. Das ist ein schwerer Fehler.
Karl-Heinz Paqué

Was sich derzeit politisch in Deutschland abspielt, ist ein Drama besonderer Art. Die Nation befindet sich in einem Lockdown, der immerhin inzwischen rund zehn Wochen alt ist. Zunächst war seine Wirkung auf die Infektionswelle eher schwach. Inzwischen sieht das ganz anders aus. In den letzten Wochen ging es mit den Zahlen der Neuinfektionen steil herunter. Die sogenannte 7-Tage-Inzidenz – die Zahl der Infektionen je 100.000 Einwohner – ging bundesweit auf 64,2 zurück. Dies liegt schon recht nah an dem Ziel von 50, das als Schwellenwert für drastische Lockerungen avisiert wurde. Inzwischen gibt es hierzulande 100 Landkreise, deren 7-Tage-Inzidenz die 50 unterschreitet, zum Teil sogar deutlich. Wir erinnern uns: Die 50er-Inzidenz wurde bereits im Mai vergangenen Jahres als Grenzwert festgelegt. Er ist etabliert und auch in der Bevölkerung weitgehend akzeptiert. Im Beschluss der jüngsten Ministerpräsidentenkonferenz führen die Entscheidungsträger nun jedoch einen neuen Grenzwert auf, nach dem „der nächste Öffnungsschritt bei einer stabilen 7-Tage-Inzidenz von höchstens 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner durch die Länder erfolgen“ kann. Mit diesem verschärften Grenzwert könnten Coronamaßnahmen aktuell in 35 Stadt- und Landkreisen gelockert werden. Die „Erfolgsregionen“ mit niedrigen Inzidenzwerten unter 50 oder 35 sind übrigens über das Land relativ gleichmäßig verteilt, wie die einschlägige RKI-Karte sehr schön zeigt. Es gibt also durchaus große Fortschritte in der Breite, nicht nur in ausgewählten norddeutschen Landstrichen, die in dieser Hinsicht vorangingen.

7 Tage Inzidenz RKI
Aktuelle Karte der 7-Tage-Inzidenz des Robert-Koch-Institutes (Stand 12.02.2021) © Robert-Koch-Institut

Eigentlich ein Erfolg: Der Trend stimmt, das Durchschnittsniveau nähert sich dem Zielwert, in fast allen Regionen ebbt die Infektionswelle ab oder ist bereits ausgelaufen. Angesichts der niedrigen Infektionsrate in zahlreichen Landkreisen wären regionale Lockerungen und eine flexible Handhabung der Maßnahmen nur konsequent. Zeit also zur schrittweisen Rückkehr in die Normalität? Mitnichten, so jedenfalls die Bundesregierung und die Länderchefs. Die Verschärfung des Grenzwerts von 50 auf 35 zeigt, dass die Bundesregierung Lockerungen zu diesem Zeitpunkt um jeden Preis verhindern möchte. Auch verzichtet sie auf die Vorlage eines Stufenplans zum Ausstieg aus dem Lockdown – im Sinne eines Wenn-Dann-Szenarios, wie es Schleswig-Holstein und die FDP-Bundestagsfraktion vorgelegt haben. Von Perspektiven oder gar Öffnungsvisionen möchte zu diesem Zeitpunkt niemand sprechen.

Dafür gibt es einen zentralen Grund: die Angst vor der Mutation. Die Tatsache, dass sich auch in Deutschland eine Mutante von Covid-19 festgesetzt hat, die offenbar deutlich ansteckender ist als das Original, lässt vor allem die Kanzlerin erstarren. Eine fatale Vorgehensweise, die den Begriff „Strategie“ nicht verdient! Denn sie lässt die Menschen im Land völlig im angstvollen Ungewissen. Motto: Es könnte ja alles noch viel schlimmer kommen. Dabei ist der gesellschaftliche Druck zur schrittweisen Öffnung zu Recht enorm. Die Kanzlerin hat dem in dieser Woche, was Schulen und Kitas betrifft, demonstrativ nachgegeben – allerdings nicht ohne die Verantwortung komplett auf die zuständigen Länder zu schieben. Die Botschaft war dabei klar: Wenn was schiefläuft, seid Ihr Schuld.

Kurzum: Die Angst vor der Mutante beherrscht die Gemüter. In der Tat ist Vorsicht geboten. Man konnte in Großbritannien, Irland, Portugal und Südafrika erleben, wie die Mutationen die Infektionszahlen kurzzeitig massiv in die Höhe trieben. Allerdings ließ sich dort auch beobachten, wie im Zuge des Lockdowns die Zahlen wieder scharf zurückgingen:

Mutationen 7-Tage-Inzidenz
© www.corona-in-zahlen.de

Chancen- und waffenlos ist die Gesellschaft also wohl auch beim Auftreten einer Mutation nicht, insbesondere dann, wenn man ihre Gefährlichkeit aufgrund internationaler Erfahrung antizipieren kann. Letztendlich kann mit den Mutationen so umgegangen werden wie mit dem „Original“. Auf eine stark ansteigende Inzidenz muss mit scharfen Maßnahmen reagiert werden – eine qualitative Änderung der Maßnahmen ist dadurch aber grundsätzlich nicht notwendig. Man muss mit dem Virus leben, ob mutiert oder nicht, und sich darauf einstellen.

Wichtig ist vor allem: Die Mutation darf den Weg zur Öffnung nicht verstellen, auch nicht in der Wirtschaft. Mit klugen Hygienekonzepten muss es stufenweise allen Dienstleistern wieder erlaubt werden zu öffnen. Sonst kommt es zu jenen absurden – und wohl verfassungswidrigen – Ungleichbehandlungen, wie sie gerade jetzt beschlossen wurden: Friseure sollen ab 1. März öffnen dürfen, andere (körpernahe) Dienstleister nicht. Wieso das? Was unterscheidet den Friseur von Nagelstudio und Schönheitssalon? Entscheidend muss doch die Überzeugungskraft des Hygienekonzepts sein, egal wo.

Tatsächlich müssen Wirtschaft und Gesellschaft Schritt für Schritt in die Normalität zurückgeführt werden – und zwar mit all jenen Schutz- und Vorsichtsmaßnahmen, die im letzten Sommer über Monate offenbar vernünftig funktionierten. Dabei bleiben Restrisiken, aber mit diesen muss man leben und sie durch genaue Beobachtung sowie, wenn nötig, schnelles Eingreifen abtöten. Dazu zählt natürlich auch eine angemessene regionale Differenzierung je nach Infektionslage – genau so, wie es im letzten Sommer geschah.

Und dann muss endlich die Impfwelle rollen, hoffentlich mit Kraft und Macht im zweiten Quartal. Es ist dies dann der wirkliche Re-Start der deutschen Wirtschaft. Sie ist dazu mit beeindruckender Geschwindigkeit in der Lage, wie der kräftige Wachstumsschub zwischen den Lockdowns im dritten Quartal 2020 zeigte. Dazu muss aber ein Startschuss gegeben werden, der in frustrierender Weise auf sich warten lässt. Geht dies so weiter, wird es zu langfristigen Schäden kommen – vor allem am Arbeitsmarkt, wo viele derzeitige Kurzarbeiter in der dauerhaften Arbeitslosigkeit landen könnten. Das wäre dann wirklich ein Desaster. Noch ist dies durch mutiges entschlossenes Handeln zu verhindern. Aber die Uhr tickt. In dieser Woche jedenfalls wurde eine große Chance verpasst.