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Schulschließungen
Fehler und Vorsicht

Leeres Klassenzimmer
© picture alliance / Eibner-Pressefoto | Weber/ Eibner-Pressefoto

Die Schließung von Tausenden Schulen während den Hochphasen der Coronapandemie ist eine der am heftigsten diskutierten Maßnahmen der Pandemiebekämpfung gewesen. Kein Wunder, wurden doch die Bildungs- und Sozialräume von hunderttausenden Schülerinnen und Schüler über viele Monate hinweg massiv eingeschränkt. Ob die Schulschließungen angemessen waren, wurde bereits während der „Lockdowns“ diskutiert. Dass nun auch der als besonders vorsichtig geltende Gesundheitsminister Karl Lauterbach die langen Schulschließungen als „Fehler“ bezeichnet hat, zeigt, dass nun auch der Moment zur kritischen Selbstreflexion gekommen ist.

Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug bekanntlich erst mit der einbrechenden Dämmerung. Erst in der Rückschau kann man politische Entscheidungen, die ja zwangsläufig in einer Situation unvollständiger Information getroffen worden sind, mit Klarheit bewerten. Nun den jeweiligen Akteuren vorzuhalten, sich nicht an dem heutigen Stand der Wissenschaft orientiert zu haben, wäre unredlich. Trotzdem ist es notwendig, auch konkrete Verantwortlichkeiten zu identifizieren und zu fragen, ob nach damaligem Kenntnisstand nicht Alternativen zu bestimmten Maßnahmen wie der Schließung von Schulen gerechtfertigt gewesen wären. Umfassende Bewertungen werden vielleicht erst durch eine Enquete-Kommission oder ähnlichen Untersuchungen möglich werden, doch ein aktuelles Interview der ZEIT mit Ludwig Wieler legt nahe, dass eine rückblickende Evaluation durchaus kritisch ausfallen könnte. „Wir haben immer Empfehlungen abgegeben, mit denen man den Betrieb in Schulen und Kitas hätte laufen lassen können, wenn auch unter Anstrengung“, so Wieler: „Es gab nie nur die Alternative: Entweder wenige Tote oder Schulen offen halten, sondern es gab und gibt immer Alternativen. Der vorhandene Spielraum ist während der ganzen Pandemie nicht ausreichend mit der nötigen Sorgfalt, Ruhe und Sachlichkeit betrachtet worden.“ In der Tat hatte das RKI bereits im Herbst 2020 Vorschläge gemacht, wie ein Wechselunterricht durchzuführen sei, die Kultusminister aller Länder hatten diese allerdings nicht aufgegriffen.

Ängste vor „Durchseuchung“

Zu einem fairen Rückblick gehört allerdings auch dazu, sich das geradezu tragische Dilemma vor Augen zu führen, vor dem die Verantwortlichen standen. Besonders deutlich wird dies mit Blick auf die Perspektiven von betroffenen Eltern. Auf der einen Seite standen (und stehen) jene, die eine Sorge vor der „Durchseuchung“ ihrer Kinder hatten (und haben). Vor allem in den Fällen, in denen Kinder oder nahe Familienangehörige zu sogenannten Risikogruppen gehörten, wurde die Präsenzpflicht als geradezu lebensgefährliche Bedrohung wahrgenommen. In Bündnissen wie „SichereBildungJETZT!“ wurde in Deutschland, aber auch anderen Ländern eine vorzeitige und allumfassende Öffnung der Schulen teils heftig kritisiert. Diese Sorgen hatten durchaus ihre Berechtigung: Im Zeitraum von 2020 bis 2023 starben laut RKI 65 Kinder im Alter von 0 bis 9 Jahren und 50 Kinder im Alter von 10 bis 19 Jahren im Zusammenhang mit dem Coronavirus – für die betroffenen Familien ein furchtbarer Schicksalsschlag und für viele weitere Eltern ein Horrorszenario, welches zu besonderer Vorsicht bei der Infektionsprävention mahnte. Für Lehrkräfte, Eltern und Großeltern war das Risiko eines schweren Verlaufs durch eine Coronainfektion nochmals erhöht. Hinzu kommen die auch heute noch längst nicht vollständig verstandenen Risiken durch „Long Covid“. Verbunden mit der Einsicht, dass die Schließung von Schulen laut Einschätzungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft tatsächlich zur Vermeidung von Infektionen beigetragen haben, ergibt sich zumindest der Befund, dass es für eine vorsichtige Herangehensweise gute Gründe gab.

Die drückende Sorge um die Gesundheit ihrer Kinder motivierte viele Eltern aber auch, das genaue Gegenteil zu fordern. Die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder warnte bereits im Mai 2020 davor, dass Schulschließungen zu einer „bildungspolitischen Katastrophe“ führen würden. Auch für viele Liberale war es wichtig, dass Schulschließungen, so gut es ging, vermieden werden könnten. Auch hier wurde vor allem mit dem Wohlbefinden der Kinder argumentiert: Ohne die Erfahrungen im Sozialraum Schule, so die Argumentation, würden Kinder und Jugendliche in ihrer persönlichen Entwicklung massiv eingeschränkt. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger betonte beispielsweise jüngst die „gravierende Nebenwirkungen“ der Schulschließungen, „wie Gewichtszunahme, psychische Auffälligkeiten und Vereinsamung sowie auf deutliche Lernrückstände bei Kindern und Jugendlichen.“ Auch für diese Sicht gibt es wissenschaftliche Rückendeckung. Eine neue Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung hat vor einigen Tagen dargelegt, dass „pandemiebedingte Restriktionsmaßnahmen und Schulschließungen […] zu einem Anstieg der Depressionssymptome bei Jungen und bei Mädchen in Europa beigetragen“ hätten. Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit hat diese Sorge vor den Auswirkungen auf die mentale Gesundheit der Schülerinnen und Schüler früh Raum gegeben. In einem Gespräch zwischen Annett Witte und der Koblenzer Pädagogikprofessorin Kathinka Beckmann wurde beispielsweise darauf hingewiesen, dass bereits im Dezember 2021 „ein Drittel aller Kinder“ psychische Auffälligkeiten zeigen würde. Dass die Schulschließungen mit diesen teils gravierenden Auswirkungen keinesfalls alternativlos gewesen seien, ist nicht nur eine neue Einsicht von Gesundheitsminister Lauterbach, sondern ist bereits in der damaligen Diskussion immer wieder betont worden.

Für eine endgültige Bewertung der entsprechenden Maßnahmen ist es wohl auch heute noch zu früh. Trotzdem gibt es viele Gründe, den Umgang mit jungen Menschen während der Pandemie kritisch zu sehen. Gerade im Vergleich zu anderen Gruppen sind Kinder und Jugendliche äußerst stark in ihrer Entfaltung eingeschränkt worden, obwohl ihr persönliches Risiko, schwer zu erkranken – zumindest durchschnittlich betrachtet – am geringsten war. Gleichzeitig wurde nie ernsthaft über die breite Anschaffung von Luftfiltern diskutiert, obwohl entsprechende Forderungen schon früh erhoben worden waren. Dass alles getan worden wäre, um jungen Menschen eine möglichst „normale“ Zeit zu ermöglichen, kann sicherlich nicht behauptet werden. Lernrückstände, wie sie beispielsweise die jüngste VERA-Studie nahelegt, sind dabei fast noch das geringste Problem. Viel gravierender dürften verpasste Erlebnisse, Isolation im Elternhaus und trübe Wochen ohne Freunde gewesen sein.

Eine offene und ehrliche Aufarbeitung der Maßnahmen ist also eine dringende politische und gesellschaftliche Pflicht. Ein wichtiges Ziel ist dabei nicht nur das Lernen für die Zukunft, sondern auch die Pflege eines bürgerlich-gemäßigten Diskurses über politische Entscheidungen. Dass die Debatten über Corona-Maßnahmen teils hoch-emotionalisiert waren, ist verständlich. Wenige Dinge berühren so tief, wie die Sorge um die Gesundheit der eigenen Kinder. Trotzdem sind oftmals Grenzen überschritten worden. Dies gilt zum einen für unsägliche Angriffe auf jene, die durchaus mit guten Gründen zur Vorsicht mahnten oder sich für Impfungen einsetzten. Während sachliche Kritik selbstverständlich jederzeit erlaubt sein muss und häufig auch gerechtfertigt ist, ist der raunende Umschwung in absurde Verschwörungsmythen eine Gefahr für die Demokratie. Gleichzeitig waren aber auch viele Angriffe, nicht zuletzt auf Liberale, unangemessen. Selbst vor einigen Monaten wurde liberalen Politikern noch vorgeworfen, „Hauptsache, Leistung“ zu priorisieren und vulnerable Gruppen zu gefährden. Dass es eine ausgewogenere Coronapolitik keinesfalls eine herzlose Durchseuchung ist, zeigt der Blick in die Nachbarländer, wo viele Lockerungen bereits lange umgesetzt waren, ohne das man den Regierungen eine rücksichtslose „Durchseuchung“ hätte vorwerfen können.