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Analyse
Ukraine: Korruption im Herzen der Justiz

Demonstranten Verfassungsgericht Ukraine
Demonstranten protestieren vor dem ukrainischen Verfassungsgericht gegen die Entscheidung. © picture alliance / ZUMAPRESS.com | Aleksandr Gusev

Mit seiner Eilentscheidung vom 27. Oktober 2020 hat das Verfassungsgericht der Ukraine wesentliche Antikorruptions-Institutionen außer Betrieb gesetzt und das Land damit in die schwerste Verfassungskrise seit der Revolution der Würde gestürzt. Juristische Lage und Interessenskonstellationen sind hochkomplex, einfache Lösungen gibt es nicht. Die Ukraine steht an einer gefährlichen Wegscheide.

Das Verfassungsgericht gab mit seiner Entscheidung einem Antrag von Abgeordneten der pro-russischen Oppositionsplattform „Für das Leben“ und der dem Oligarchen Ihor Kolomoiskij nahestehenden Parlamentsgruppe „Für die Zukunft“ statt. Es erklärte die von sämtlichen Staatsbediensteten eingeforderten elektronischen Vermögenserklärungen für verfassungswidrig, setzte die Strafbarkeit illegaler Bereicherung außer Kraft und schränkte die Befugnisse der Nationalen Agentur für Korruptionsprävention (engl. Abkürzung NAPC) erheblich ein. Insbesondere die E-Deklarationen hatten sich als probates Mittel etabliert, eklatante Missverhältnisse zwischen Einkommen und Vermögenswerten von Personen im Staatsdienst aufzudecken und somit Ermittlungen wegen Korruptionsverdacht anzustoßen. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts ist ein Frontalangriff auf die Antikorruptions-Institutionen, die seit 2014 mit viel Mühe und unter großem zivilgesellschaftlichen und internationalen Druck geschaffen wurden. Auch vor dem Spruch der Verfassungsrichter waren die Antikorruptions-Institutionen immer wieder in jeder erdenklichen Weise in ihrer Arbeit und Unabhängigkeit behindert wurden. Mit ihrer Aushebelung werden jetzt die finanzielle Unterstützung der Ukraine durch IWF und EU sowie die Visafreiheit mit der EU in Frage gestellt.

Reaktion Selenskijs – schnell und umstritten

Präsident Wolodymyr Selenskij reagierte prompt, rief eine Sitzung des Sicherheits- und Verteidigungsrates ein und ließ das NAPC anweisen, das verfassungsgerichtliche Urteil zu ignorieren und die bereits abgeschaltete Plattform für E-Deklarationen umgehend wieder zugänglich zu machen. Er brachte außerdem einen Gesetzentwurf ein, der die Entscheidungen rückgängig machen und die Entlassung aller 15 Verfassungsrichter ermöglichen würde. Dass diese Schritte ihrerseits selbst verfassungswidrig sind (ein Verfassungsrichter kann etwa nur durch eine Zweidrittel-Mehrheit seiner Kollegen entlassen werden) und zudem keinen Lösungsweg für einen Neustart des Gerichts aufzeigen, macht die Angelegenheit zu einer ernsten Krise. Einige Beobachter sehen darin den Versuch Selenskijs, seinen Zugriff auf die Verfassungsorgane weiter auszubauen. Gegen beide Seiten, die Verfassungsrichter und Selenskij, stehen Vorwürfe der Machtusurpation im Raum.

Cui bono – wem nützt das Verfassungsgerichtsurteil?

Der Hintergrund des Urteils scheint offensichtlich, wenn man bedenkt, wer es getroffen hat. Gegen mehrere Verfassungsrichter – nur vier stimmten gegen den Entschluss – wie auch gegen einige der antragstellenden Parlamentarier sind Untersuchungsverfahren wegen teils schwerwiegender Korruptionsvorwürfe anhängig, sie können persönlich von dem Urteil profitieren. Unter ihnen ist der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Oleksandr Tupitzkij, der etwa 2018 unter Verletzung ukrainischen Rechts ein Grundstück auf der russisch besetzten Krim erworben und nicht deklariert hat.

Eine ungute Rolle dürfte zudem der Vorsitzende des berüchtigten Kyjiwer Bezirksverwaltungsgerichts, Pawlo Wowk, spielen, gegen den das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (NABU) wegen organisierter Kriminalität, illegaler Bereicherung und Bestechung ermittelt und den es inzwischen auf eine Fahndungsliste gesetzt hat. Er hintertreibt die Korruptionsbekämpfung auf allen Ebenen, etwa durch Versuche, den als unabhängig geltender NABU-Leiter Artem Sytnyk juristisch aus dem Amt zu drängen. Einem abgehörten Telefonat ist sein erklärter Anspruch zu entnehmen, neben seinem Gericht auch das Verfassungsgericht zu „besitzen“.

In Wirklichkeit spiegelt das Eigeninteresse korrupter Staatsdiener aber wohl nur die Oberfläche des Problems. Einschlägige Antikorruptions-Organisationen wie das Anti-Corruption Action Centre (AntAC) oder DE JURE sehen vielmehr einen Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung der Ukraine und einen Versuch, das Land im Sinne Moskaus zu destabilisieren. Nicht zuletzt könnte ein Wegfall der westlichen Unterstützung das Land aus finanzieller Not zurück in den russischen Orbit treiben. Jeder Lösungsvorschlag muss daher neben der juristischen Machbarkeit den größeren (geo)politischen Kontext im Blick behalten.

Pest oder Cholera – mögliche Lösungsansätze

Während inzwischen mehrere Gesetze zur Lösung der Krise ins Parlament eingebracht oder von Antikorruptions-Organisationen vorgelegt wurden, ist über keinen von ihnen bisher abgestimmt worden – offenbar, weil sich jeweils keine Mehrheit finden lässt. Und in der Tat sind überall zu Haken finden. Der Selenskij-Vorschlag etwa verletzt selbst die Verfassung und wäre damit eine juristische Zeitbombe. Der DE JURE-Vorschlag, das Quorum im Verfassungsgericht zu erhöhen und die derzeit freien Richterpositionen mit unabhängigen Personen nachzubesetzen, ist zwar ein legaler Weg, würde aber die desaströse Entscheidung des Gerichts nicht auflösen und eine grundlegende Reform des Justizsystems weiter auf die lange Bank schieben. Der Entwurf des Parlamentspräsidenten Dmitri Rasumkow, per Gesetz die E-Deklarationen einfach wieder in Kraft zu setzen, schützt diese nicht vor einem erneuten Angriff des Verfassungsgerichts. Mehrere legal korrekte Lösungsvorschläge von AntAC haben wenig Chance auf Umsetzung. Immerhin haben offenbar die vier Verfassungsrichter, die gegen den Eilentscheid gestimmt hatten, den einstweiligen Boykott der Sitzungen angeboten, was das Gericht mangels Quorum bis zu einer weiteren Lösung handlungsunfähig und damit unschädlich machen würde. Damit ließe sich womöglich verhindern, dass noch weitere Reformgesetze – konkret wurden offenbar bereits das Landmarktgesetz und das Bankengesetz ins Visier genommen – gekippt werden und die Ukraine endgültig in die Janukowitsch-Zeit zurückkatapultiert wird. Alle um eine Lösung bemühten Akteure sehen sich aber mit einem grundsätzlichen Dilemma konfrontiert: Die übermächtige – eigentlich nur unabhängige – Stellung des Verfassungsgerichts kann nur durch eine Verfassungsänderung beschnitten werden, der das Gericht selbst zustimmen müsste.

Eine Zwischenbilanz

Die aktuelle Verfassungskrise bringt schmerzhaft ins Bewusstsein, dass es sowohl Petro Poroschenko als auch sein Nachfolger Selenskij versäumt haben, die wichtigste aller Reformen konsequent anzugehen: eine Justizreform, an deren Ende unabhängige Institutionen und Gerichte mit unabhängigen, professionellen und nicht korrupten Richtern stehen. Die Folge dieses Versagens ist nun zu besichtigen: Trotz formal vorhandener demokratischer Verfassungsorgane funktioniert die Gewaltenteilung nicht. Checks and Balances versagen vor den zutiefst verwurzelten informellen Netzwerken und Spielregeln, die Grundlage ungestrafter persönlicher Bereicherung wie externer Einflussnahme sind.

Die internationalen Partner der Ukraine, namentlich die Venedig-Kommission des Europarates und die Botschafter der G7-Staaten, haben Unterstützung zur Krisenbewältigung angeboten. Bei aller berechtigter Suche nach einer juristisch nicht angreifbaren Lösung werden sie berücksichtigen müssen, dass die derzeitige Lage für die Ukraine auch sicherheitsrelevant ist. Politik kommt also mit ins Spiel. Das macht die Aufgabe nicht leichter.