EN

"America first" richtig verstanden

Der amerikanische Protektionismus könnte die Welthandelsordnung zerstören. Dagegen muss sich Europa wehren.

Die amerikanische Handelspolitik gibt Rätsel auf: Was will Donald Trump wirklich? Und wenn er tatsächlich ernst macht mit seinen protektionistischen Drohungen, was kann Europa dagegen tun, um den globalen Freihandel zu retten? Dazu äußert sich unser stellvertretender Vorstandsvorsitzender Professor Karl-Heinz Paqué. Der Beitrag erschien zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 23. Juli 2017:

 

Karl-Heinz Paqué seit 2018

Karl-Heinz Paqué seit 2018 Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Beim Fußball spielen alle mal foul. Beim internationalen Handel ist das genauso. Weder die Amerikaner noch die Europäer sind da Kinder von Traurigkeit. Es gibt auf allen Seiten viele Griffe in die protektionistische Trickkiste, und gerade die hochentwickelten Industrienationen verstehen sich darauf, diese auch clever und kunstgerecht einzusetzen. Seit Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 1995 gibt es aber einen Schiedsrichter, der allgemein anerkannt ist und über das Spiel wacht, wenn es brenzlig wird. Sein sperriger Name: Dispute Settlement Body (DSB). Dieses Gremium zur Streitbeilegung tagt nur auf Antrag eines Mitgliedstaates, der sich in seinen Rechten verletzt sieht.

Es folgt einem klar definierten Verfahren und kommt innerhalb einer engen Frist von maximal 12 bis 15 Monaten zu einer endgültigen Entscheidung. Sie ist bindend für die beteiligten Staaten. Wird sie nicht befolgt, kann die Partei, die in ihren Rechten verletzt ist, ihrerseits hohe Strafzölle erheben – und zwar auch auf die sensibelsten Produkte, die ihr einfallen, völlig unabhängig vom eigentlichen Streitgegenstand. Die Erfahrungen mit diesem System sind ausgezeichnet. Seit 1995 war die Streitschlichtung mehr als 400 Mal aktiv. In mehr als der Hälfte der Fälle waren dabei die Vereinigten Staaten als Kläger oder Beklagte beteiligt, in mehr als 150 Fällen die Europäische Union.

Da jeder weiß, was an empfindlicher Strafe auf dem Spiel steht, ist es in fast zwei Dritteln der Fälle zu einer vorzeitigen Einigung gekommen, sobald sich abzeichnete, in welche Richtung das Schiedsgericht tendiert. Es wird also munter gefoult, aber der Schiedsrichter hat eine bemerkenswert große und stabile Autorität – auch ohne die Existenz einer Art Weltregierung. Der Grund ist einfach: Das nationale Eigeninteresse sorgt für die Wirksamkeit der Abschreckung.

Was genau heißt nun Donald Trumps „America First“ für die Handelspolitik?

Es gibt zwei Varianten der Deutung dieser protektionistischen Botschaft, eine harmlose und eine gefährliche. Die harmlose lautet, dass Trump eine Welle von DSB-Verfahren ankündigt, die Autorität der WTO bei der Streitschlichtung aber nicht hinterfragt. Man ist geneigt, ihm zuzurufen: „Nur zu, Mister President.“ Es kann überhaupt nicht schaden, wenn die staatlichen Praktiken zugunsten der chinesischen oder der europäischen Stahlindustrie mal auf den Prüfstand kommen – vielleicht wird da wirklich unfair getrickst. Das Gleiche gilt für die europäische und allemal die deutsche Automobilbranche, die mit Diesel-Gate hinlänglich gezeigt hat, zu was sie fähig ist. Solange Trump den Schiedsspruch geduldig abwartet und akzeptiert, ist gegen eine DSB-Anrufung überhaupt nichts einzuwenden.

Gefährlich wird es allerdings, sollte Trumps „America First“ heißen, dass er sich um die WTO-Schiedsgerichtsbarkeit nicht schert. Das wäre der Fall, wenn er einfach Verletzungen anderer behauptet und gegen die vermeintlichen Handelsgegner mit Zöllen oder nichttarifären Barrieren einseitig losschlägt. Seine Rhetorik, die zeitweise recht martialisch ausfällt, hört sich genauso an. Aber die konkreten Taten sind bisher ausgeblieben. Sollten sie tatsächlich kommen, so kann die Antwort Europas nur lauten: Anrufung des DSB-Schiedsgerichts und Drohung mit legitimen, aber harten Gegenmaßnahmen – und schließlich auch deren Durchführung, wenn es denn nicht anders geht.

Wichtig ist dabei, dass in der Europäischen Union Einigkeit über ein gemeinsames Vorgehen besteht. Das ist ein gewaltiger Test der europäischen Handlungsfähigkeit. Aber wenn sie besteht, wäre es ein Leichtes, eine für die Amerikaner schmerzhafte Antwort zu finden. Die Europäer könnten passgenau mit Strafzöllen auf jene amerikanischen Exportprodukte antworten, die politisch besonders sensibel sind und quantitativ ins Gewicht fallen.

Der Blick in die Statistik des transatlantischen Handels zeigt, dass der jährliche Export der Vereinigten Staaten in die Europäische Union einen Wert von fast 300 Milliarden Dollar hat. Die Produktpalette reicht von der Hochtechnologie bis zu Standardkonsumgütern. So sind die wichtigsten Exportprodukte der Vereinigten Staaten nach Deutschland neben der Mikroelektronik die Erzeugnisse der chemischen und pharmazeutischen Industrie sowie Maschinen, Tabakwaren und – man höre und staune – Kraftfahrzeuge.

Da die Exportbranchen in Amerika viel stärker als in Europa lokal konzentriert sind, ließe sich mit gezielten Strafzöllen beträchtlicher politischer Widerstand gegen Trumps Protektionismus über die regional zuständigen Gouverneure und Kongressabgeordneten mobilisieren:

  • Kalifornien und Massachusetts würden für ihre Informationstechnologie kämpfen,
  • die Südstaaten für ihre Tabakwirtschaft,
  • der Nordosten für Chemie und Pharmazie.
  • Selbst die Politik im Autostaat Michigan käme ins Grübeln, da Trumps Importschutz im Gegenzug die Exporte der eigenen amerikanischen Kraftfahrzeuge erschweren würde.

Es muss dabei klar sein: Eine solche Auseinandersetzung kann letztlich nicht im gemeinsamen transatlantischen Interesse liegen. Genau deshalb stehen die Chancen vielleicht gar nicht so schlecht, dass selbst Donald Trump irgendwann von seiner protektionistischen Agenda abrückt: nicht aus Einsicht, wohl aber aus dem Eigeninteresse Amerikas.

Ein politisches Restrisiko bleibt

Es könnte wirklich zu einem veritablen Handelskrieg kommen. Aber es geht auch um sehr viel, nämlich um die Frage, ob sich die Vereinigten Staaten an ein internationales Regelwerk halten, das sie selbst maßgeblich mitgeprägt haben. Die Welthandelsorganisation ist kein Spielzeug, das man so lange benutzt, wie einem der möglichst freie Handel in den Kram passt – und dann wegwirft, wenn das nicht mehr der Fall ist.Wer das tut, gefährdet das Regelwerk. Und wer das auch noch als große und mächtige Wirtschaftsmacht wie Amerika tut, der zerstört mutwillig eine zentrale Säule der globalen Freiheits- und Friedensordnung. Er räumt den Platz für andere, die liebend gern in die Rolle der globalen Führungsmacht in der WTO hineinschlüpfen. Das undemokratische China steht bereit, genau das zu tun.

Es bleibt also die Grundfrage: Was genau will Trump?

Will er nur wie viele amerikanische Präsidenten vor ihm dem alten Hang der Amerikaner zum Protektionismus im Rahmen der bestehenden Ordnung ein Stück weit nachgeben? Und will er dabei, wie mancher seiner Vorgänger auch, auf eine Neubewertung etwa deutscher Leistungsbilanzüberschüsse und staatskapitalistischer Praktiken in China hinarbeiten? Oder will er, anders als frühere Präsidenten, zurück zu einer Welt ohne eine funktionsfähige internationale Handelsordnung? Das sind weiterhin offene Fragen, auch nach dem G-20-Gipfel in Hamburg.