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Zukunft der Demokratie
Der Mutmacher

Soziologe Armin Nassehi im Gespräch mit Wolfgang Gerhardt
Armin Nassehi 1

WAS IST EIGENTLICH RICHTIG UND WAS IST EIGENTLICH FALSCH?

Wolfgang Gerhardt: Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hat neulich in einem Gespräch mit dem Schriftsteller Daniel Kehlmann gesagt: Früher hat man geglaubt, dass es zwischen Krieg und Frieden nichts mehr gibt. Und er sagt dann: Diese alte Ordnung erodiert. Wir treffen auf Faktoren, die Zwischensituationen beschreiben. Und wir können diese Herausforderung kaum mehr kontrollieren, und die Eliten können sie auch nicht mehr beschreiben oder vermitteln.

Armin Nassehi: In der Tat, dem kann man kaum widersprechen. Fast alle Kategorien, mit denen wir heute arbeiten, haben diese Eindeutigkeiten verloren. Was ist schön, was ist nicht schön in der Kunst? Was ist richtig oder gut, und was ist falsch oder böse? Was ist angemessenes Risikoverhalten in der Ökonomie, was nicht? Und natürlich, wenn man auf politische Fragen kommt: Manches Linke ist dem Rechten näher, als man denkt – und umgekehrt. Ich glaube, dass tatsächlich Kategorien infrage gestellt werden. Deshalb ist das Komplexitätsthema so interessant. Komplexität heißt ja nicht einfach, dass die Dinge irgendwie schwieriger geworden sind. Sondern Komplexität – im Sinne eines systemtheoretischen Begriffs – versucht zu beschreiben: Wie viel Bestimmtheit findet in einem System statt, und wie viel Unbestimmtheit?

Gerhardt: Viele Menschen denken, dass man doch mindestens zwischen Krieg und Frieden noch einigermaßen zuverlässig unterscheiden kann. Das scheint ein Irrtum zu sein.

Nassehi: Früher hätten wir gedacht, Bestimmtheit ist besser als Unbestimmtheit. Aber so einfach ist die Welt leider nicht. Zu viel Bestimmtheit ist eine Freiheitseinschränkung, ist eine Kreativitätseinschränkung, ist ein Entwicklungshindernis. Zu viel Unbestimmtheit ist ein Problem, dass man gar keine Ordnung mehr hat, dass man sich nicht auf Erwartungen verlassen kann, dass Strukturen verschwinden.

Gerhardt: Mit den Veränderungsschüben der Gesellschaften geht ein Verlust des Denkens in Wirkungszusammenhängen einher. Die Konsequenzen eigenen Handelns werden nicht nur von der moralischen Kategorie her, sondern im Tempo der Zeit und ihrer Beschleunigungsverhältnisse kaum noch bemerkt, geschweige denn „eingepreist“.

Nassehi: Das politische System hat natürlich eine merkwürdige Position. Die eigentliche Funktion von Politik ist ja gar nicht, die Gesamtgesellschaft zu steuern, im Prinzip über alle Fragen politisch zu entscheiden. Manche behaupten, wir würden in einer demokratischen Gesellschaft leben. Demokratie ist ein Programm des politischen Systems, nicht der Gesellschaft als ganzer. Wie wir lieben, wie wir an die Götter glauben, was wir schön finden, das wird alles nicht demokratisch entschieden. Und ich würde sagen: Gott sei Dank wird es das nicht. Die Politik ist dafür da, ein kollektiv bindendes Entscheiden zu ermöglichen und Loyalität auch von denjenigen zu bekommen, die nicht zur Mehrheit gehören. Das ist das Entscheidende. Aber die Erwartung an Politik ist eine andere: Man erwartet von Politik, was sie eigentlich gar nicht kann.

Gerhardt:… und fordert es aber mit Unerbittlichkeit. Ich bin das Volk, mein Wille geschehe – um das mal so auszudrücken. Das ist nicht demokratisch, sondern gefährlich. Und dem sind besonders die Volksparteien, Dahrendorf nannte sie Omnibusparteien, die sich als Dienstleister für alles verstanden, so nicht mehr gewachsen.

Wolfgang Gerhardt

Nassehi: Wenn man an die drei großen politischen Kräfte denkt, Konservatismus, Sozialismus und Liberalismus: Alle drei sind im Hinblick auf bestimmte Bezugsprobleme konstitutiv für das, was wir das westliche politische Modell nennen. Es ist ja kein Zufall, dass die Parteiengestalt in fast allen westlichen Ländern ganz ähnlich war, weil sie jeweils bestimmte Bezugsprobleme bearbeitet haben. Zu den Omnibusparteien wurden die drei Richtungen erst, als man diese Unterscheidung nicht mehr richtig ernst nehmen konnte.

Gerhardt: Trifft diese allgemeine Bemerkung auch auf die Qualität der politischen Klasse in Deutschland zu? Den Deutschen wird eine technische Höchstleistungsfähigkeit attestiert, aber auch mangelnde politische Begabung.

Nassehi: Es wäre sehr leicht, jetzt mit Ja zu antworten. Aber ich glaube, man würde es sich zu einfach machen, wenn man sagen würde: Dann wechseln wir eben das Personal aus. Das funktioniert leider nicht. Es funktioniert übrigens fast in keinem Bereich. Im Unternehmen einfach das Personal auszuwechseln ist keine gute Strategie. Und in Parteien einfach das Personal auszuwechseln… an Universitäten sowieso nicht. Vielleicht muss man die Frage in die Richtung lenken, ob wir nicht im Nachhinein gelungene Politik viel stärker den Personen zuzurechnen haben, die da waren.

Gerhardt: Aber sie werden schnell vergessen. Der Historiker Fritz Stern hat uns aufgefordert, etwas mehr Dankbarkeit zu zeigen für das Erreichte.

Nassehi: Man kann politisch gesehen leider wenig gewinnen durch Vergangenheit und nur bedingt gewinnen durch eine Zukunft, die wir nicht kennen, sondern muss quasi über den nächsten Tag kommen. Die ganze Politik ist so getaktet, dass es ein System ist, das in der Gegenwart funktionieren muss. Das Interessante ist: Wenn wir mal die Geschichte der Bundesrepublik anschauen, dann sind politische Akteure immer in Situationen erfolgreich gewesen, in denen sie etwas gemacht haben, dessen Kausalität man vorher immer bestritten hat. Die West-Bindung durch Adenauer war eine hoch unwahrscheinliche Sache, ein verunsichertes Bürgertum an den Amerikanismus anzuschließen und an Frankreich anzuschließen. Das war schon eine Leistung ...

Gerhardt:… mit Überzeugung, Standfestigkeit und Weitsicht.

Nassehi: Und als sozial-liberale Koalition in der Lage zu sein, als eigentlich die falschen Akteure, diese Ost-Politik zu machen. Und die deutsche Einheit, da haben alle Zeitgenossen gesagt: „Das ist eigentlich unmöglich“, aber es ist tatsächlich geschehen. Das waren komplexe Konstellationen, in denen man sagen muss: Da haben Leute tatsächlich etwas Unmögliches versucht. Sie haben sich geweigert, die üblichen Kausalitäten einfach weiterzuführen, und haben Kausalitäten, die man für relativ sicher gehalten hat, zumindest infrage gestellt.

Gerhardt: Ich war in meinem politischen Aufwachsen Teilnehmer der Diskussion um die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie. Hans Wolfgang Rubin, der damalige Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung, preschte mit diesem Vorschlag vor. Das war mutig und, wie sich beim Fall der Mauer herausstellte, weitsichtig. Die Einsicht in der Gesellschaft musste allerdings erst noch errungen werden.

Nassehi: Aber das Verrückte ist: Obwohl die Dinge so umstritten waren, hat man sich schnell an die Lösungen gewöhnt. Wenn man jetzt nur die Beispiele, die ich vorhin genannt habe, sieht: Nach ein paar Jahren war das selbstverständlich. Die Ost-Politik wurde von den anderen nicht infrage gestellt.

Gerhardt: Leider aber erst im Nachhinein. Vorher war diese Einsichtsfähigkeit nicht bei allen anzutreffen, im Gegenteil.

Nassehi: Es ist doch sehr interessant zu sehen, ob es Parteien gelingt, das Bezugsproblem zu bewältigen. Das ist der Sozialdemokratie, die zurzeit im freien Fall ist, offenkundig nicht gelungen. Und ich würde sagen, das ist zum Teil auch dem Liberalismus nicht gelungen. Die FDP war immer sowohl die Partei der unternehmerischen Freiheit als auch die Partei der bürgerlichen Freiheiten. Sie war sogar die Partei – obwohl der Liberalismus sozusagen eine Distanz zum Religiösen hat – der religiösen Freiheit, also nicht nur der Freiheit von Religion, sondern auch sehr positiv einer Weiterentwicklung religiöser Reformen im liberalen Sinne. Sie hat das auch im wissenschaftlichen Bereich sehr, sehr stark gemacht. Das wäre das, was ich mir unter einem modernen Liberalismus vorstelle: tatsächlich diese Frage, das ungelöste Verhältnis von Freiheit und Sicherheit oder das ungelöste Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit auf alle Bereiche der Gesellschaft zu übertragen. Die Konservativen sind zurzeit eigentlich diejenigen, für die die Dinge am einfachsten sind, weil die Grundprobleme, mit denen wir heute zu tun haben, sehr viel mit Identitätsfragen, mit Zugehörigkeitsfragen zu tun haben. Man kann ja viel über die CSU schimpfen…

Gerhardt: Es gibt keine politische Partei, die nicht auch schon mal auf der Lichtung von Geschimpfe und heftiger Kritik gestanden hätte. Jetzt war eben die CSU mal dran, und auch zu Recht. Jeder muss sich ab und an mal den Spiegel vorhalten lassen. Im Übrigen beschäftigt sich liberal mit der Frage des Bildes des politischen Liberalismus und seiner Wahrnehmung.

Ich glaube, dass wir als westliche Gesellschaft das liberale Programm stärker durchgesetzt haben, als es auf den ersten Blick scheint.

Armin Nassehi

Nassehi: Sie haben als Liberale natürlich das Problem, dass der Liberalismus vielleicht diejenige Form ist, die ohnehin in der Gesellschaftsstruktur steckt. Es ist überall viel mehr Liberalismus drin als draufsteht. Wenn man unter Liberalismus strukturell verstehen möchte, dass es eben um eine intelligente Idee geht, darum, was Freiheit eigentlich bedeutet – vielleicht muss man darüber schon ein paar Sätze sagen. Der ungeübte Beobachter würde unter Freiheit ja eigentlich immer nur die Abwesenheit von Einschränkungen verstehen. Das Gegenteil ist natürlich der Fall. Ich habe das mal formuliert als eine Form von eingebetteter Freiheit. Wenn es so etwas wie eine Einbettung von Freiheitsmöglichkeiten in einen Rahmen nicht gibt, dann wird man nicht frei sein können. Das ist übrigens ein Gedanke, der bei Ralf Dahrendorf überall steht, zu sagen: Wir brauchen klare Regeln in der Gesellschaft. Diese Regeln sind es eigentlich, die den Einzelnen befähigen, überhaupt frei zu sein. Ich glaube, dass wir als westliche Gesellschaft das liberale Programm stärker durchgesetzt haben, als es auf den ersten Blick scheint. Wir hatten in den letzten eineinhalb Generationen Inklusionsschübe in der Gesellschaft, die zu einer Versöhnung führten mit kultureller Pluralität, und damit meine ich jetzt nicht nur migrantisch-kultureller, sondern überhaupt pluralistischen Lebensfor- men, mit einer starken Pluralität in ästhetischen Fragen, eine Versöhnung mit dem Unternehmerischen sogar, und eine Versöhnung, könnte man auch sagen, mit einer Diskursfähigkeit in der politischen Öffentlichkeit. Das sind allesamt liberale Programme. Und ich glaube, dass es für den expliziten politischen Liberalismus ein großes Problem ist, die Frage zu beantworten: Was ist denn jetzt eigentlich unser genuiner Bereich, an dem wir die Dinge stark machen?

Gerhardt: Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu. Das, was Sie mit kultureller Haltung ausdrücken, ist mehr als ein politisches Programm. Es gibt eben einen Typ von Menschen, der sitzt vor einem weißen Blatt Papier und baut die Gesellschaft wie ein Werkstück um. Oder es gibt jemand, der hat eine Lebensart, der überzeugt durch seine Persönlichkeit, der adressiert das Publikum richtig und gibt dadurch Hinweise auf eine Kombination von Überzeugung und Persönlichkeitsstruktur, die für Menschen unglaublich attraktiv ist. Es ist ja nicht so, dass sich Liberale auf die ökonomische Seite beschränken würden. Aber komischerweise erwarten alle anderen, dass die ökonomische Seite funktioniert, damit sie ihre Versprechen, die sie in der Addition von Wohlfahrtsversprechen machen ohne Ende, eigentlich erfüllen können. Ich sehe das als unehrlich an. Ich beobachte in der Lebenswirklichkeit, dass es ein Milieu gibt, das eine große Breite im Willkommen von Migranten hat, aber sehr darauf achtet, dass es seine Kinder in Privatschulen schickt, Wohnquartiere genau aussucht, in denen es unter sich bleibt, und anderen gerne vorschreibt, wie sie zu leben hätten. Es gibt auch eine kulturelle Dimension, die unglaublich heuchelt.

Armin Nassehi 2

Nassehi: Ich stimme in doppelter Weise zu. Einerseits im Hinblick auf die politischen Dinge, die Sie gerade gesagt haben, aber auch auf die strukturellen. Das ist für den Soziologen natürlich die entscheidende Frage: Welche Denkungsart braucht man eigentlich, um auf unser Hauptthema zu kommen, um mit der Komplexität der Welt umgehen zu können? Es ist in der Tat so: Der Autoritäre will ein weißes Blatt, es selber vollschreiben und stellt sich vor, die Freiheit sei durchgesetzt, wenn alle das tun, was am besten in dieses Gerüst passt, was er aufgeschrieben hat. Das ist übrigens von ganz links und von ganz rechts strukturell dasselbe. Nicht nur ähnlich, sondern dasselbe. Man möchte eine Welt nach dem eigenen Bilde haben. Eigentlich ist es eine göttliche Position. Die andere Position kann es sich nicht so leicht machen. Sie sieht, dass das Blatt schon beschrieben ist. Der Soziologe Niklas Luhmann hat mal die wundervolle Formulierung geprägt: Wie stellt man sich eigentlich Freiheit in einer Welt vor, die schon da ist? Wie viel Ordnung braucht ein System? Wie viel Unordnung braucht es? Und zwar explizite Unordnung. Für Liberale sind Ordnungsfragen, aber auch Unordnungsfragen legitime Fragen. Nehmen wir doch ruhig das Ökonomische. Wenn man das Ökonomische vollständig ordnen würde, verschwände Dynamik. Wenn man es überhaupt nicht ordnet, verschwindet das, was die Ökonomie eigentlich tun soll, nämlich Knappheitsausgleich. Das können Sie auf alle anderen Funktionssysteme der Gesellschaft, wenn ich das so systemtheoretisch sagen darf, auch übertragen. Ich glaube schon, dass man dafür ein paar soziologische Regeln aufstellen kann. Eine der Regeln ist tatsächlich, sich klarzumachen, dass Freiheiten niemals Ungebundenheiten zu etwas anderem sind. Das kann man doch in politische Programme umsetzen. Der Liberalismus hat das doch tatsächlich gemacht, indem er zum Beispiel irgendwann die Frage gestellt hat: Muss man nicht so etwas wie Freiheitsversprechen oder, sagen wir mal, Freiheitserfahrungen, die moderne Gesellschaften gemacht haben, in Familien, im Bereich der Sexualität, im Bereich der Kindererziehung, im Bereich des Unternehmerischen, auch rechtlich festlegen und ermöglichen? Ich bin in den 70er-Jahren Jugendlicher gewesen. Mein liberaler Hero, muss ich gestehen, war, das sagen viele in meiner Generation, Gerhart Baum, der das Links-Liberale, diese Freiheitsgeschichte immer mit klaren Rechtsfiguren verbunden hat. Ich glaube, dass das ganz wichtig ist. Was man dem politischen Liberalismus vorwirft – zum Teil sicherlich nicht ganz zu Unrecht, aber in dieser Pauschalität auf jeden Fall zu Unrecht –, ist, dass er dieses Modell im Ökonomischen vielleicht stärker beschrieben hat als das für andere Bereiche der Gesellschaft gilt, auf die es sich auch bezieht.

Überall, wo im Namen von Freiheit und Gerechtigkeit Marktwirtschaften ausgeschaltet worden sind, ist die persönliche Freiheit zugrunde gegangen.

Wolfgang Gerhardt

Gerhardt: Die Friedrich-Naumann-Stiftung ist in über 50 Ländern der Welt engagiert. Eine ganz normale Bilanz dieser Arbeit lautet: Überall, wo im Namen von Freiheit und Gerechtigkeit Marktwirtschaften ausgeschaltet worden sind, ist die persönliche Freiheit zugrunde gegangen. Das bringt mich zu einem anderen Punkt: Es gibt viele öffentliche Miterzieher. Es gibt schwächere Elternhäuser, es gibt schwachen und starken Unterricht von Lehrerpersönlichkeiten, und es gibt eine Medienlandschaft, die etwas informativer sein könnte und etwas weniger alarmistisch. Sie ist offen gesagt auch oft gewaltig unterirdisch. Mir herrscht da auch zu wenig Fähigkeit, Komplexität zu beschreiben.

Nassehi: Ja. Aber das gehört natürlich auch zur Komplexität dieser Gesellschaft, dass die unterschiedlichen Funktionen jeweils unterschiedliche Probleme lösen müssen. Ich meine, für eine Zeitung ist es natürlich vielleicht spannender …

Gerhardt:… die Marktanteile zu vergrößern.

Nassehi: Genau. Und es geht auch nicht nur um die ökonomischen Marktanteile, sondern auch um Aufmerksamkeitsmarktanteile, und es geht um einfachere Geschichten, die man erzählen kann. Es geht um Skandalisierungen, die man erzählen kann, und es geht natürlich auch um Bilder, die gut funktionieren. Ich meine, das kann man den Medien gar nicht vorwerfen, das ist ihre Logik.

Gerhardt: Es werden aber nicht nur Geschichten erzählt. Leider wird immer wieder auf sehr leichte Weise Empörung hergestellt, die auf Kosten der Information geht.

Nassehi: Wir müssen bei Freiheiten immer darüber nachdenken, wie eigentlich die Selbsteinschränkungsmöglichkeiten sind. Worin würden wir eigentlich die bürgerliche Freiheit beschreiben? Bürgerliche Freiheit ist die, bei der wir nicht tun, was wir sollen, sondern wollen, was wir sollen. Das ist der große Unterschied. Wo wir sozusagen selbst in der Lage sind, uns einzuschränken, das Falsche nicht zu tun. Nehmen Sie das Ökonomische. Das Ökonomische funktioniert nicht, wenn sich jeder nur auf den schnellen, eigenen Vorteil bezieht. Für eine liberale Wirtschaftspolitik gehört es eben auch dazu zu sagen: Wo muss, wo kann ich Pathologien vermeiden, dass es sozusagen eine Freiheit gibt, die die Freiheit der anderen einschränkt. Der Philosoph Karl Homann hat im Hinblick auf Wirtschaftsregeln beschrieben: Die Menschen sind schwach. Wenn man sie zu sehr machen lässt, was sie wollen, dann wird es manchmal schwierig. Die Staaten sind manchmal stark. Wenn man sie zu sehr lässt, dann schränken sie die Freiheit ein. Die Kunst besteht darin, nur so viel zu regeln, dass es sich gewissermaßen für die Akteure, die da sind, nicht lohnt, aus diesen Regeln auszubrechen. Das ist eigentlich die Grundüberzeugung des Liberalen. Da haben Sie vielleicht ein Marketingproblem. Ich stimme Ihnen völlig zu, dass Sie natürlich nicht diese, jetzt in Anführungsstrichen, „böse wirtschaftsliberale Partei“ sind, die sich für den Rest nicht interessiert. Das gilt weder für den Liberalismus noch für die FDP. Aber dieseFreiheitsversprechen, die wir kennen, auch für die an­ deren Bereiche der Gesellschaft auf den Begriff zu brin­gen – das ist das, was in Ihrem Lastenheft stehen muss.

Gerhardt: Carlo Strenger hat darauf aufmerksam gemacht, dass seit Ende des Zweiten Weltkriegs mehrere Generationen aufgewachsen sind, die all das für gegeben halten, was erreicht worden ist, und einen eigenen Beitrag dazu kaum erbringen. Ein Leben in Freiheit ist aber ohne Eigenbeteiligung nicht möglich. Diesen Gedanken aufzugreifen ist für die Liberalen wichtig, weil er im Schulsystem, im Erziehungssystem, im Elternhaus, in der Gesellschaft eine bestimmte kulturelle Verantwortungsdimension hat, die man Menschen vermitteln muss. Und das haben wir vernachlässigt. Es gibt einen Lebenszusammenhang, den es auch zu beachten gilt. Und in dem Lebenszusammenhang muss man den Menschen vermitteln, dass es jenseits der engen parteipolitischen Programme, die im Grunde oft sklerotisch sind, eine größere Herausforderung jenseits von materiellen Anreizen gibt, um das Gemeinwesen frei zu halten.

Nassehi: Ja. Ich stimme Ihnen zu. Da wäre mir aber schon fast zu viel Intention drin. Man muss sich mal vor­ stellen, auf der einen Seite leben wir in starken lebens­weltlichen Borniertheiten. Wir leben in einer Welt, die schon da ist, und wir kennen eigentlich nichts anderes. Wir treffen immer wieder auf Situationen, wo die Kate­gorien, mit denen wir umgehen, schwer funktionieren. Wir laufen alle mit starken Typisierungen durch die Welt, die sich durchaus bewähren. Und dann gibt es He­rausforderungen, und man muss tatsächlich die Katego­rien ändern. Das ist die Anerkennung von Komplexität. Nicht die Komplexität wegzureden und zu sagen: Wir machen die Regeln jetzt so wasserdicht, dass alles funktioniert. Sondern wir erkennen an, dass im evolutionä­ren Zusammenhang einer Gesellschaft immer wieder Situationen entstehen, in denen sich die Regeln selbst verändern oder ein Veränderungsdruck entsteht. Wenn man es historisch betrachtet, dann ist der politische Li­beralismus eigentlich so etwas wie eine nachholende Erklärung für die Komplexitätssteigerung der Gesell­schaft. Eigentlich ist es eine gute Zeit für den Liberalis­mus, weil wir im Moment gerade erleben, dass sich be­ stimmte Regularien neu ordnen.

Gerhardt: Sie haben gesagt, für Liberale besteht eigentlich die Aufgabe, aus der Komplexität Ideen zu einem neuen Ordnungsaufbau zu entwickeln, der auch die nötigen Freiheiten lässt und kreative Lösungen beinhaltet und ein Neu-Arrangement, so beschreiben Sie das, von Politik, Ökonomie, Wissenschaft, Familie, Religion, ohne Zentralperspektive.

Nassehi: So ist es. Ja.

Armin Nassehi und Wolfgang Gerhardt im Interview

Gerhardt: Dahrendorf hat die Frage gestellt an Joachim Fest: Was denn offene Gesellschaften den Menschen als Ausgleich für die trügerischen wie tröstlichen früheren Imaginationen bieten könnten, die den Verlust an diesseitigen Gewissheiten ausgleichen? Fest hat geantwortet: Der eigentliche Charme von freiheitlichen Gesellschaften besteht darin, dass sie sich bemühen, ein einigermaßen erträgliches Zusammenleben von Menschen mit Menschen zu organisieren. Das eine, was Liberalismus machen könnte, ist das, was Sie beschrieben haben. Das andere ist aber auch ein kulturelles Gefühl, dass Menschen nicht Angst haben, dass sie nicht in Angstsituationen und Stresssituationen geraten.

Nassehi: Eine moderne Gesellschaft kann man ja nicht beschreiben, als sei sie aus einem Guss. Das wollen die Leute immer. Das ist sie aber nicht – Gott sei Dank. Das wäre das Schrecklichste. Die Diktaturen des 20. Jahrhun­derts haben versucht, das zu kompensieren, indem sie die gesamte Gesellschaft durchpolitisiert haben. Eine moderne Gesellschaft ist funktional differenziert. Wie bleibt man da eigentlich sprechfähig? Das ist übrigens etwas, was ich bei Dahrendorf immer mitlese. Wie blei­ben die Eliten sprechfähig, die sozusagen aus den unter­ schiedlichen Bereichen kommen? Bei Dahrendorf gibt es die schöne Formulierung der Versäulung der Teil­eliten als eine besondere deutsche Form der Entwick­lung. Die Teileliten sind bisweilen nicht sprechfähig mit den Eliten anderer Systeme.

Gerhardt: Ist die Loyalität gesichert genug, dass eine Zivilgesellschaft auch zu dem Land steht, wenn die Wachstumsraten mal schwächer werden? Hat sie diese eigene Verfassung?

Nassehi: Das ist genau das Problem. Dafür muss man auch Sicherungen einbauen, die durchaus etwas auch mit sozialen Sicherungen zu tun haben, die aber auch etwas damit zu tun haben, ob man versteht, was eigent­lich diesen Laden hier zusammenhält. Es gibt viel mehr Zentripetalkräfte als Zentrifugalkräfte. Ich glaube, dass man das intellektuell verstehen muss. Sie haben vorhin gefragt, ob eigentlich, darauf habe ich gar keine Antwort gegeben, dem politischen Personal diese intellektuellen Fähigkeiten dazu fehlen. Ich würde mir nie anmaßen, zu sagen, dass das so sei. Ich würde es andersherum for­mulieren. Ich würde sagen: Auch dort, wo über die Dinge wissenschaftlich reflektiert wird, also intellektuell reflektiert wird, fehlt das bisweilen. Der große, große, große Traum ist die Gesellschaft aus einem Guss. Zurzeit ist besonders beliebt die Gesellschaft, die moralisch aus einem Guss sein soll oder die regulatorisch aus einem Guss sein soll. Dagegen muss man vorgehen. Was braucht man dafür? Komplexitätstheorien – die immer davon ausgehen, dass es so etwas wie ein Zentrum unseres Systems nicht gibt. Das Dezentrale ist eigentlich das Tolle. Ich bin durchaus ein religiöser Mensch, aber man kann dem Christentum jetzt nicht vorwerfen, es sei dezentral organisiert. Und doch stellt man sich einen Schöpfer vor, der seinen Geschöpfen eine Gebrochenheit mitgegeben hat, die so was wie Freiheit erst ermöglicht. Wenn die nicht gebrochen werden, werden sie nicht frei, weil sie immer das Richtige tun würden. Sie sind unter Scheiternsverdacht und geraten deshalb in die Notwendigkeit, sich in die Perspektiven von anderen zu versetzen. Das ist eigentlich eine spannende Form. Das heißt, man kann den Liberalismus sogar theologisch erklären. Das wäre doch mal ein Anfang. (lacht)

Gerhardt: Halleluja. Ob das den Liberalen klar ist, weiß ich nicht (lacht). Für unser Gespräch ist es ein guter Abschluss. Ich danke Ihnen!

Dieses Interview ist in der neuen Ausgabe "liberal - Das Magazin für die Freiheit" erschienen.