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Walter Scheel
Würdigung Walter Scheel

Festveranstaltung anlässlich des 100. Geburtstags Walter Scheels
Joachim Stamp

Joachim Stamp, Stellvertretender Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen

© Janine Schmitz/photothek.net

Diese Rede hielt Dr. Joachim Stamp bei der Stiftungsveranstaltung anlässlich des 100. Geburtstages Walter Scheels im Landtag Nordrhein-Westfalens.

 

Heute wäre Walter Scheel 100 Jahre alt geworden. Und betrachten wir seine Lebenslust und Leidenschaft, dann hätte er heute sicher gerne mitgefeiert.

Walter Scheel war ein unglaublich facettenreicher Mensch, dessen umfassendes Lebenswerk ich hier in 10 Minuten kaum angemessen würdigen kann.
Lassen Sie mich daher auf drei dieser zahlreichen Facetten blicken:

Auf den Patrioten Walter Scheel, auf den gesellschaftlichen Reformer und auf den europäischen Weltbürger.

Walter Scheel war Patriot, aber kein Nationalist. Eine Unterscheidung die heute aktueller denn je ist. Er hat seinem Land gedient, in unterschiedlichsten Staatsämtern, als Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und als Außenminister und ganz besonders als Bundespräsident.

Dabei wollen wir aber eben nicht die kommunale und parlamentarische Kernerarbeit der frühen Jahre im Solinger Stadtrat und hier in diesem Hause als Landtagsabgeordneter übersehen.

Deutschland lag in Trümmern, hatte sich mit unvergleichbarem Terror schuldig gemacht.

Walter Scheel – Angehöriger der Wehrmachtsgeneration – gehörte zu denjenigen, die bereit waren, aus der Geschichte zu lernen. Neu aufzubauen, aber nicht nur die materiellen Trümmer zu beseitigen, sondern auch die geistigen.

Er arbeitete zunächst im Stadtrat, dann im Landtag, später im Bundestag und Europaparlament am Aufbau der Demokratie.

Und das war keine Selbstverständlichkeit, gab es doch nicht Wenige, die versuchten, gerade die FDP in Nordrhein-Westfalen zum Auffangbecken nationalistischen oder gar nationalsozialistischen Gedankenguts zu machen.

Ich hatte gerade am Samstag erst Gelegenheit mit Gerhart Rudolf Baum darüber zu sprechen, wie schwer diese Nachkriegszeit für die fortschrittlichen jungen Leute war, wie alte Nazis versuchten, diesen demokratischen Aufbruch zu torpedieren. Umso wichtiger war es, dass Charaktere wie Walter Scheel mit ihrer Haltung vorangingen – junge Politiker, die trotz oder wegen ihrer politischen Sozialisation im Dritten Reich eine radikale, positive Wendung hin zur parlamentarischen Demokratie nahmen, sich den Nationalisten entgegenstellten und zu wahren Verfassungspatrioten wurden. Wer sein Land liebt, überhöht es nicht. Und so hat der Verfassungspatriot Walter Scheel auch das eigene Land nicht überhöht.

Im Gegenteil: Er hat sich gegen völkisches Denken verwahrt und sich mutig für die offene Gesellschaft ausgesprochen (1978 in Köln als Bundespräsident):

„Viele Deutsche glauben offenbar, dass sie selbst klüger, sittlicher, kultivierter, irgendwie besser seien, als Portugiesen, Spanier, Italiener, Jugoslawen, Türken. Wenn ich mir die Geschichte und die Kultur dieser Völker über die Jahrhunderte hin anschaue, finde ich nichts, was eine solche Meinung rechtfertigen könnte. Eine solche Meinung ist unsinnig (…), sie ist auch inhuman.“

Und weil dieser Befund Walter Scheels gerade auch in diesen Tagen gilt, müssen auch wir uns bekennen als Verfassungspatrioten und dieses, unser Land verteidigen, gegen Rassisten und Nationalisten und alle, die unsere offene Gesellschaft zerstören wollen

Nach den erfolgreichen Jahren des materiellen Wiederaufbaus und des geistigen Neubaus der jungen Republik, lag es Politikern wie Walter Scheel fern, den Status Quo bewahren zu wollen.

Er war ein leidenschaftlicher Reformer, der sich nicht auf Erreichtem ausgeruht hat. Scheel gehörte wesentlich zu den sogenannten „Jungtürken“ in der FDP, denen es gelang die Partei aus der strammen national-liberalen Verortung rechts von der CDU zu öffnen bis hin zu Bündnissen mit der Sozialdemokratie.

War der Machtwechsel über das konstruktive Misstrauensvotum 1956 gegen den CDU-Ministerpräsidenten Karl Arnold und für den Sozialdemokraten Fritz Steinhoff eher taktisch und bundespolitisch gegen die Wahlrechtsreform Konrad Adenauers angelegt, näherten sich FDP und SPD auch inhaltlich in den 1960er Jahren.

Zunächst stand hier eine auf Entspannung orientierte Außen- und Deutschlandpolitik im Vordergrund. Aber auch gesellschaftspolitisch veränderte sich die FDP. Die Wahl Walter Scheels 1968 als Nachfolger von Erich Mende zum Bundesvorsitzenden der FDP war dann auch ein sichtbarer Wendepunkt für die Freien Demokraten hin zu einer fortschrittlichen Reformpartei.

Walter Scheel öffnete den Weg zur ersten sozial-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt. Er riskierte viel, ging doch ein erheblicher Teil traditioneller Wählerschaft verloren. Aber er ermöglichte so dringend notwendige gesellschaftliche Reformen und sicherte eine auf Entspannung orientierte Außenpolitik.

Er selbst hat diese Haltung einmal so zusammengefasst:

„Wir müssen unsere Anhänger dadurch gewinnen, dass wir mutig Meinungen aussprechen, die eine Mehrheit an Gegnern hat. Wir können unmöglich hoffen, Anhänger zu gewinnen, wenn wir permanent den Versuch unternehmen, es allen recht zu machen. (…) Es gibt dem Fortschritt aufgeschlossene Leute, und das sind unsere Leute.“

Dieser Fortschrittsgeist prägte auch die Freiburger Thesen 1971, für die Walter Scheel neben Werner Maihofer und Karl-Herrmann Flach wesentlich Verantwortung trug.

Die Freiburger Thesen haben Freiheit als Chance und die Lebenschancen jedes Einzelnen in den Vordergrund gerückt. Sie haben aber auch unsere Verantwortung für die Lebensgrundlagen und eine intakte Umwelt unterstrichen. Umweltschutz als Thema und Ziel – damals geradezu revolutionär, heute wichtiger denn je.

Und so ist der Reformer Walter Scheel auch heute notwendiger Impuls für unsere Partei: als Partei der individuellen Chancen im Zeitalter von Digitalisierung und Globalisierung, als Partei der Verantwortung für unsere Lebensgrundlage und internationalen Verständigung.

Walter Scheel war ein europäischer Weltbürger, ein Visionär mit Blick auf eine zunehmend globalisierte Welt und auf die Rolle und Verantwortung Deutschlands. Er erkannte die Notwendigkeit der Entwicklung in anderen Teilen der Welt und prägte als erster Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit dieses neue Ressort

Als Außenminister hat Walter Scheel gemeinsam mit Bundeskanzler Willy Brandt mit der neuen Ostpolitik ein neues Kapitel der deutschen Geschichte auf dem Weg zur Wiedervereinigung aufgeschlagen, unter anderem und insbesondere mit dem Moskauer Vertrag. Er hatte auch dabei stets einen klaren Kompass, der auf das Wohl seines – unseres Landes ausgerichtet war. Neben anderen gehört Walter Scheel damit zu den Persönlichkeiten, die die Deutsche Einheit ermöglicht haben.

Und auch die Europäische Einigung lag dem überzeugten Europäer Scheel, der als einziger FDP-Bundestagsabgeordnete für die Römischen Verträge stimmte, am Herzen. Sein Aufruf, die Aufgabe anzugehen, Europa zu einen, ist aktueller denn je. Und man könnte es nicht besser formulieren, als Walter Scheel es selbst getan hat – so wie es in der Einladung zur heutigen Veranstaltung auch zitiert ist: „Einen wir Europa aus Einsicht und mit freiem Willen. Es ist die schönste, die lohnendste historische Aufgabe, die uns in unserer Geschichte gestellt wurde.“

Wie kleinkariert muten dagegen die Personaldebatten dieser Tage an.

Und wie kleinmütig ist es, wenn Europäer nicht in der Lage sind, gemeinsam Seenotrettung und Bekämpfung der Schlepperkriminalität in die Hand zu nehmen.

Ein Optimist wie Walter Scheel würde an dieser Stelle nicht so schnell resignieren. Und darum müssen wir als Liberale auch weiter kämpfen für eine faire, geordnete und humane, gemeinsame europäische Migrationspolitik.

Walter Scheel hat vorgelebt, dass man mit Lebensfreude andere Menschen für die Sache gewinnen kann. Und auch das gilt als Richtschnur: Weniger Panik und Hysterie, mehr Optimismus und Zuversicht für gute Lösungen und Visionen.

Eine kurze Würdigung kann das große Engagement von Walter Scheel für unser Land nur in Grundzügen nachzeichnen. Feststellen können wir dennoch ohne Zweifel: Ohne Walter Scheel und seinen leidenschaftlichen Einsatz wäre die Bundesrepublik Deutschland heute ein anderes Land. Er hat unser Land als Liberaler ganz wesentlich mitgeprägt und zwischen Anekdoten, Lebensfreude und Zielstrebigkeit immer nach bestem Wissen und Gewissen zum Wohle unseres Landes gehandelt.

Wir sind dem Erbe Walter Scheels gerade hier in Nordrhein-Westfalen besonders verpflichtet – und wir orientieren uns auch daran:

Mit einer Wirtschaftspolitik von Professor Pinkwart, die darauf abzielt mit Innovation Ökologie und Ökonomie gemeinsam zu denken, mit einer Bildungspolitik von Yvonne Gebauer, die in der Schule und in der frühkindlichen Bildung mehr Chancengerechtigkeit unabhängig von der Herkunft zum Ziel hat, und einer Flüchtlings- und Integrationspolitik, die auf Ordnung, Humanität und Weltoffenheit setzt.

Vor allem spornt uns aber Walter Scheels Haltung zur Politik an: Mit Optimismus an die Sache heranzugehen und nicht sich selbst, sondern die Menschen in den Mittelpunkt unserer Arbeit zu stellen.

Für diese Inspiration bleiben wir dem Verfassungspatrioten, dem leidenschaftlichen Reformer und weltoffenen Europäer Walter Scheel für immer dankbar.