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Vorratsdatenspeicherung
Ein Weg aus der Zwickmühle für das Bundesverfassungsgericht

Zum Vorlagebeschluss des 6. Senats des Bundesverwaltungsgerichts in Sachen „Vorratsdatenspeicherung“

Zeichnet sich ein eleganter Weg zur Beilegung des grundrechtlichen Dauerstreits um die deutsche Vorratsdatenspeicherung ab? Das Bundesverwaltungsgericht hat mit seinem Vorabentscheidungsersuchen den Europäischen Gerichtshof wieder ins Spiel gebracht und damit das Bundesverfassungsgericht aus einer Zwickmühle befreit.

Gestern fand in Leipzig vor dem 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts die mündliche Verhandlung in den Verfahren von SpaceNet (Internetzugangsanbieter) und Deutscher Telekom gegen die Bundesrepublik Deutschland in Sachen Vorratsdatenspeicherung statt. Zur Überprüfung stehen die erstinstanzlichen Urteile des Verwaltungsgerichts Köln vom 20. April 2018 (9 K 3859/16 und 9 K 7417/17), mit denen das Gericht die Kläger jeweils von ihrer Pflicht zur vorsorglichen Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten ihrer Kunden befreit hat. Den Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Köln in der Hauptsache vorausgegangen war – im einstweiligen Rechtsschutzverfahren – der spektakuläre Beschluss des OVG Nordrhein-Westfalen vom 22. Juni 2017 (13 B 238/17). Darin war der 13. Senat des OVG NRW, ohne dem EuGH die deutsche Regelung vorzulegen, von einer Unionsrechtswidrigkeit der deutschen Vorratsdatenspeicherung und einer Verletzung der unternehmerischen Freiheit (Art. 16 GRCh) von SpaceNet ausgegangen. Die Neuauflage der deutschen Vorratsdatenspeicherung in Gestalt des Gesetzes zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten vom 10. Dezember 2015 sei mit Art. 15 Abs. 1 der E-Privacy-Richtlinie unvereinbar, wie ihn der EuGH im Lichte der Grundrechte aus den Artikeln 7, 8 und 11 sowie Artikel 52 Abs. 1 GRCh auslege. Die Speicherpflicht aus § 113a Abs. 1 i.V.m. § 113b TKG sei im Sinne des Unionsrechts und der maßgeblichen Rechtsprechung des Gerichtshofs (insb. Tele2 Sverige AB und Watson) nicht auf das absolut Notwendige beschränkt. Denn auch nach der Neuregelung verbleibe es bei einer Verpflichtung der Diensteanbieter zur allgemeinen, unterschiedslosen und ungezielten Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten all ihrer Nutzer auf Vorrat; d.h. einer anlasslosen Speicherung ohne geographische, zeitliche oder personelle Einschränkungen der zu speichernden Daten, die einen auch nur mittelbaren Zusammenhang mit der Strafverfolgung oder Gefahrenabwehr sicherstellen würden.

Ein Weg vorbei an der Rechtsprechung des EuGH

Dieser eindeutigen Beurteilung der deutschen Vorratsdatenspeicherung durch das OVG NRW und das Verwaltungsgericht Köln wollten sich die Leipziger Richter nicht anschließen. Ein Schwerpunkt der mündlichen Verhandlung lag folglich auf der Frage, ob und inwieweit die Entscheidung des Senats durch die bisherige Rechtsprechung des EuGH aus dem „Tele2“ Urteil vorbestimmt ist (acte éclairé), oder sich die deutsche Vorratsdatenspeicherung doch von den schon beurteilten in Schweden und im Vereinigten Königreich unterscheide. Um eine Vorlage an den EuGH zu vermeiden, bemühten sich die Prozessbevollmächtigten der Kläger darum, die Vergleichbarkeit der deutschen Vorratsdatenspeicherung mit denen vom EuGH bereits beurteilten Vorratsdatenspeicherungen zu begründen. Ihr maßgebliches Argument war dabei, dass die Daten nach §§ 113a Abs. 1 i.V.m. § 113b TKG anlasslos zu speichern seien, woran auch der erkennende Senat keinen Zweifel hatte. Der Prozessbevollmächtigte von SpaceNet, Matthias Bäcker, argumentierte, dass der vom EuGH geforderte „Anlass“ zwar nicht im Sinne eines strafrechtlichen Anfangsverdachts oder einer konkreten Gefahr verstanden werden müsse. Für die Zulässigkeit der Datenspeicherung bedürfe es nach seiner Lesart dennoch einer irgendwie gearteten, aus dem allgemeinen Lebensalltag herausragenden sowie geographisch, zeitlich oder personell begrenzten Risikolage, wie sie beispielsweise bei einem G-7 Gipfel oder einer „public viewing“ Veranstaltung vorliegen könnte. Auf Nachfrage der Richter präzisierte er, dass der Gesetzgeber die Annahme und Begründung eines solchen Risikos rechtssicher wohl nur als Verwaltungsvorbehalt, ähnlich wie bei der KFZ-Kennzeichenkontrolle, ausgestalten könne. Die Entscheidung darüber dürfte jedenfalls nicht bei den privaten Diensteanbietern liegen.

In den Augen der Leipziger Richter unterscheidet sich die deutsche Vorratsdatenspeicherung gleichwohl in wesentlichen Elementen von den schwedischen und britischen Vorratsdatenspeicherungen, was den Senat zu der Vorlage veranlasste. Die Verwaltungsstreitsache sei bisher noch nicht entscheidungsreif. Zu den Unterscheidungselementen gehörten insbesondere der reduzierte Umfang der deutschen Vorratsdatenspeicherung (keine E-Maildaten, Ausnahme bestimmter Berufsgeheimnisträger, Unterscheidung von Verkehrsdaten und Standortdaten) sowie ihre kürzere Speicherdauer von zehn (allgemeine Verkehrsdaten) bzw. vier Wochen (Standortdaten). Am EuGH seien zudem Verfahren aus Frankreich, Belgien und dem Vereinigten Königreichs gegen nationale Sicherheitsgesetze anhängig, die möglicherweise zu einer Nachschärfung seiner Rechtsprechung führen könnten. Durch den Leipziger Vorlagebeschluss reiht sich nun auch die deutsche Vorratsdatenspeicherung in die anstehenden Überprüfungen durch den EuGH ein. Die Richter am Bundesverwaltungsgericht wollen von dem EuGH insbesondere wissen, ob eine nationale Regelung, die – wie § 113a i.V.m. § 113b TKG – eine Pflicht zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung vorsieht, unter keinen Umständen auf Art. 15 Abs. 1 der E-Privacy-Richtlinie gestützt werden kann. Letztlich machen sie damit das Gleiche wie die Gerichte in anderen Mitgliedstaaten: Sie suchen nach einem Weg, irgendwie an der Rechtsprechung des EuGH vorbei zu kommen, um die Vorratsdatenspeicherung aufrechterhalten oder wiedereinführen zu können.

Bleibt die Große Kammer des EuGH bei ihrer bisherigen Rechtsprechungslinie, wird sie auf die Vorlagefrage hin auch die deutsche Vorratsdatenspeicherung beanstanden. Ohne objektiven Zusammenhang zwischen den zu speichernden Daten und Zwecken der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr, die eine Speicherung rechtfertigen, so die bisherige Linie des EuGH, gibt es keine unionsrechtskonforme Vorratsdatenspeicherung. Diese – vom deutschen Richter Thomas von Danwitz als Berichterstatter geprägte – grundrechtsfreundliche Position steht in Luxemburg allerdings derzeit unter Beschuss. In den Vorabentscheidungsverfahren aus Frankreich, Belgien und dem Vereinigten Königreich, die den Zugang von Nachrichtendiensten zu auf Vorrat gespeicherten Verkehrsdaten betreffen, drängen zahlreiche Mitgliedstaaten darauf, dass der EuGH seine Rechtsprechung aus den Entscheidungen Tele2 und Digital Rights Ireland unter stärkerer Berücksichtigung von Art. 4 EUV (nationale Sicherheit als domaine reservé der Mitgliedsstaaten) und Art. 6 GRCh (Recht auf Freiheit und Sicherheit) revidiert bzw. zumindest aufweicht (siehe dazu die Eindrücke Gigi Deppes von der mündlichen Verhandlung am 9./10. September 2019).

Ein Weg vorbei am BVerfG

Dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts verschafft das Vorabentscheidungsersuchen aus Leipzig zunächst weitere Zeit. Es verwunderte sowieso, dass er die Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz zur Einführung der Vorratsdatenspeicherung in seine Jahresvorschau 2019 aufgenommen hat, obwohl die Vorratsdatenspeicherung momentan auf Eis liegt und von ihr keine Beschwer ausgeht. Daran wird sich bis zu einem abschließenden Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auch nichts ändern. Der Erste Senat tat und tut sich augenscheinlich schwer damit, ein neuerliches Urteil in Sachen Vorratsdatenspeicherung – unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union – zu fällen. Der Grund hierfür liegt wohl in seinem Vorratsdatenspeicherungsurteil vom 2. März 2010 (1 BvR 256/08 u.a) und dessen Zustandekommen. Das Bundesverfassungsgericht hatte hierin die Vorratsdatenspeicherung grundsätzlich akzeptiert, indem es eine Gesamtbetrachtung zwischen den Stufen der Datenspeicherung und der Datenerhebung vorgenommen hat, bei dem die Regelungen der zweiten Stufe auf die erste zurückwirken („kompensatorischer Ansatz“). Diese Entscheidung im Jahr 2010 hatte der erste Senat wohl getroffen, um eine Vorlage an den EuGH zu vermeiden. Es wäre damals die erste Vorlage des Bundesverfassungsgerichts überhaupt gewesen und der EuGH war auf einem anderen Rechtsprechungskurs als heute. Über die Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie, die er erst später in seinem Digital Rights Ireland Urteil für ungültig erklärte, hatte der EuGH damals schon einmal entschieden und sie, ohne die Vereinbarkeit mit Grundrechten zu prüfen, für formell rechtmäßig befunden. Nach der erstaunlichen Wendung des EuGH mit den Urteilen Digital Rights Ireland und Tele2 steht das Bundesverfassungsgericht nun in einer Sackgasse, in die es sich durch taktische Überlegungen selbst manövriert hat. Hinzu kommt, dass der deutsche Gesetzgeber sich mit seiner Neuauflage der Vorratsdatenspeicherung haarklein an dem Vorratsdatenspeicherungsurteil aus 2010 orientiert. Nach den verfassungsrechtlichen Maßstäben von damals geht die neue Vorratsdatenspeicherung größtenteils in Ordnung. Der Widerspruch besteht zu der zwischenzeitlich ergangenen, grundrechtsfreundlicheren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union.

Vereinfacht gesagt stand der Senat bisher vor der Entscheidung, bei seiner Rechtsprechung aus dem Jahr 2010 zu bleiben und die den Verfassungsbeschwerden zugrunde liegenden Normen dem EuGH zur Auslegung vorzulegen oder die Kriterien des EuGH – unter Abkehr von seiner 2010er Rechtsprechung – in die Grundrechtsverbürgungen des Grundgesetzes hineinzulesen und den Verfassungsbeschwerden so zum Erfolg zu verhelfen. Die Vorlage haben nun die Leipziger Kollegen, für die das Vorabentscheidungsverfahren zum Alltag gehört, übernommen und damit Karlsruhe aus einer Zwickmühle befreit. Je nach Ausgang des Vorabentscheidungsverfahrens kann der Erste Senat die Verfassungsbeschwerden nun entweder als unzulässig oder unbegründet zurückweisen. Denn wenn die deutsche Vorratsdatenspeicherung unionsrechtwidrig ist, kann sie in Deutschland nicht vollzogen werden, sodass die Beschwer der Beschwerdeführer entfällt. Ändert der EuGH hingegen seine Rechtsprechung und akzeptiert die deutsche Vorratsdatenspeicherung, wären die Verfassungsbeschwerden nach den „alten“ verfassungsrechtlichen Maßstäben als unbegründet zurückzuweisen. Die dritte – wenig wahrscheinliche – Möglichkeit besteht darin, dass die Karlsruher Richter die unionsrechtlichen Maßstäbe aus den Urteilen Digital Rights und Tele2 trotz ihrer Entscheidung aus dem Jahr 2010 in Art. 10 Abs. 1 GG hineinlesen und die deutsche Vorratsdatenspeicherung damit als verfassungswidrig verwerfen. Von den Bundesverfassungsrichtern, die 2010 über die erste Vorratsdatenspeicherung urteilten, ist „nur“ noch der Berichterstatter Johannes Masing Mitglied des Ersten Senats. Seine Amtszeit endet am 1. April 2020. Am saubersten wäre es allerdings, wenn der Gesetzgeber, der sich bisher offensichtlich dafür entschieden hat, den Kopf in den Sand zu stecken, endlich tätig würde und die Vorratsdatenspeicherung entweder ganz abschafft oder sie anlassbezogen ausgestaltet. 

Dieser Text erschien am 26.09.2019 bei Verfassungsblog.de und ist auch online auch hier zu finden.