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Von und für Europa

Ein Gastbeitrag von Dr. Stephan Holthoff-Pförtner über europäische Industriepolitik

Im Mai diskutierte die Stiftung für die Freiheit im Industrieclub Düsseldorf in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Forum NRW / Düsseldorf und weiteren Partnern das Thema „Die Zukunft der Europäischen Union aus Sicht der deutschen Industrie“. Dr. Stephan Holthoff-Pförtner, Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Internationales des Landes Nordrhein-Westfalen, hielt eine flammende Rede für mehr Europa, Teilhabe und Freiheit. In einem Gastbeitrag für freiheit.org legt der NRW-Minister dar, was er sich von Europa für die Industrie und von der Industrie für Europa erhofft.

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Dr. Stephan Holthoff-Pförtner redet im Industrieclub

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Europa ist kein Wunschzettel

Lassen Sie mich mit einer ersten Prämisse beginnen: wenn Europa für die Industrie wieder auf einen Wunschzettel reduziert wird, ist Europa verloren. Europa als buchhalterischer Traum einer quantifizierbaren positiven Leistungsbilanz, wird nie das ausreichende Maß an emotionaler Teilnahme hervorbringen, das notwendig ist, um Krisen gemeinsam zu überwinden. Es wird auch nie die notwendigen Bindungskräfte hervorbringen, um der offenen und schleichenden Gefährdung unserer Freiheitsordnung von innen und außen gemeinsam entgegenzutreten.

Innere Teilnahmslosigkeit ist der ärgste Feind der Freiheit

Freiheitsordnungen sind prekär und voraussetzungsvoll. Ihr ärgster Feind steht nicht jenseits der Grenze. Sie gehen zugrunde an Desinteresse, innerer Teilnahmslosigkeit, an einer Haltung, die große Privilegien nur als Selbstverständlichkeit begreift. Und sie gehen zugrunde an fehlendem Gemeinsinn, an einer Haltung die nur den eigenen Nutzen optimieren lässt. Wer Europa mit einer solchen Haltung gegenübertritt, handelt geschichtsvergessen. Man hört heute gelegentlich, dass die Geschichte von Krieg und Frieden als Begründungsmotiv ausgedient hat. Warum eigentlich? Weil wir uns des Friedens sicher sind? Vielleicht zu sicher? Oder weil es uns zu mühsam geworden ist, daran zu erinnern, dass der Schrecken und das Leid des Krieges für die Geschichte Europas sehr viel prägender sind, als die Phasen des Friedens? Auf den ersten Blick sind diese Überlegungen weit entfernt von Fragen der Industriepolitik. Aber die Parallelen sind unverkennbar. Wer Wirtschaftspolitik nur als Voraussetzung begreift, den eigenen Nutzen zu maximieren, wird die Freiheit verspielen, die Grundlage unternehmerischen Handelns ist.

Die beste Industriepolitik - auch auf Europäischer Ebene - ist auch heute noch eine Politik, die faire Wettbewerbsregeln schafft, überwacht und den Freihandel fördert.

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Dr. Stephan Holthoff-Pförtner

Die beste Industriepolitik - auch auf Europäischer Ebene - ist auch heute noch eine Politik, die faire Wettbewerbsregeln schafft, überwacht und den Freihandel fördert. Es geht darum unternehmerische Kraft zu entfalten und nicht darum, unternehmerische Schwäche zu subventionieren. Und es geht darum, gerade in der angespannten derzeitigen Situation, die handelspolitische Geschlossenheit und Stärke der Europäischen Union auszubauen. Die Diskussionen um TTIP haben gezeigt, dass uns diese Stärke nicht in den Schoß fällt. Wenn wir tatenlos zusehen, wie das System des Freihandels diskreditiert wird oder allenfalls lau die Stimme erheben, um eine solche Politik zu verteidigen, müssen wir uns nicht wundern, dass die großen Vereinfacher den Diskurs bestimmen.

Mehr Europa, weniger bürokratische Veredelung

Neben die ordnungspolitische Kraft Europas in Fragen des Wettbewerbs und der Handelspolitik ist immer auch ein regulatorisches Übermaß getreten - oft genug noch durch innerdeutsche bürokratische Veredelung weiter verkompliziert. Das Bild des Bürgers in unserer Verfassung ist das eines mündigen eigenverantwortlich handelnden Menschen. Mit dem Bild des Bürgers der europäischen Verbraucherschutzpolitik hat das oft nicht viel gemein. Ich bin ganz entschieden der Meinung, dass wir in zentralen Zukunftsfragen mehr Europa brauchen, aber das Prinzip der bürokratischen Entfesselung, das unsere Landesregierung leitet, muss auch auf europäischen Ebene gelten. Und es muss dann auch für die Umsetzung in Nordrhein-Westfalen und Deutschland gelten. Die Leistung eines EU-Kommissars darf sich nicht am Umfang der durch ihn angestoßenen Regulierung bemessen. Die Frage wäre viel eher, welchen Beitrag er leistet zu einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung für jeden einzelnen Bürger der EU.

Von Europa für die Industrie: Vier Herausforderungen

Wettbewerbspolitik, Freihandel und bürokratische Entfesselung reichen aber noch nicht aus, um optimale Rahmenbedingungen unternehmerischer Freiheitsentfaltung zu schaffen. Mehr denn je ist gerade die industrielle Produktion von einer funktionierenden Infrastruktur abhängig. Vier entscheidende Herausforderungen sehe ich hier.
Erstens eine digitale Gigabit-Infrastruktur, die gerade für Gewebegebiete nicht nur ausreichende Bandbreiten, sondern auch die für vernetzte Produktionsprozesse erforderliche Latenz ermöglicht. Mit einer Regulierungsumgebung, die Wettbewerb ermöglicht, einheitliche Standards schafft und eine Datenschutzumgebung für und nicht gegen die Nutzer schafft.

Zweitens eine Verkehrsinfrastruktur, die in ihren Planungen nicht an nationalen Grenzen innehält, sondern an den großen transeuropäischen Warenströmen orientiert ist. Die auch begreift, dass die Seehäfen Nordrhein-Westfalens in Rotterdam und Antwerpen und nicht in Hamburg und Bremen liegen. Eine Verkehrspolitik, die nicht auf den einen „Champion der Antriebstechnologie“ setzt, sondern technologieoffen ist.

Drittens einen europäischen Energiemarkt, der nicht einseitig an umweltpolitischen Zielen ausgerichtet ist, sondern Nachhaltigkeit mit Versorgungssicherheit und wettbewerbsfähiger Preisgestaltung in Einklang bringt. Eine Energiepolitik, die sich nicht in Ausstiegsszenarien zu übertreffen versucht, sondern die Grundlagen künftigen Wohlstands im Blick behält. Auch hier ist es erforderlich, gedanklich nicht an den Grenzen stehenzubleiben, sondern transeuropäische Netze weiter auszubauen und Speicher zu schaffen.

Und viertens eine Forschungs- und Innovationspolitik, die eine radikale Grundlagenforschung ermöglicht. Eine Grundlagenforschung, die sich der Kapitalmarkt nicht zu finanzieren traut. Rund 70% der technologischen Innovationen in einem iPhone der jüngsten Generation sind auf öffentliche Forschungsförderung zurückzuführen. In Deutschland und Europa sind wir ausreichend breit in der Hochtechnologie. Aber in der absoluten Spitzentechnologie fallen wir hinter die USA und sehr bald wahrscheinlich auch hinter China zurück – und das obwohl die Voraussetzungen bei uns eigentlich hervorragend sind. Ich glaube nicht an das europäische Airbus der Batterietechnologie, aber ich glaube an europäisch vernetzte Spitzenforschung im Bereich der Speichertechnologie, im Bereich der Künstlichen Intelligenz, im Bereich der Quantencomputer und Cybersicherheit. Wir werden damit auch in Sackgassen geraten. Aber Forschung ist und muss immer ein ergebnisoffener Prozess sein.

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Panel der Veranstaltung

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Von der Industrie für Europa

Ich bin der Überzeugung, dass sich auch die Entscheidungsträger der Industrie für die europäische Idee einsetzen müssen. Wenn Europa für uns nur ein Instrument zur Durchsetzung unserer wirtschaftlichen Interessen ist, hat diese europäische Idee keine Überzeugzeugungskraft und keine Zukunft. Wenn wir uns wider besseres Wissen an der beliebten Brüssel-Kritik beteiligen, leiten wir Wasser auf die Mühlen jener Kräfte, die Europa seit langem verächtlich machen. Wo ständen wir ohne diese Europäische Union? Was würde uns blühen, wenn wir dieses Europa leichtfertig aufs Spiel setzen würden? Träumen wir auch den Traum vom Brexit, der sich vergangene Größe erhofft, aber Vereinsamung erreichen wird? Was den Briten das Empire ist, ist manchem Deutschen vermutlich die D-Mark – aber glauben wir wirklich, dass es einen Weg dorthin zurück gibt?

Wenn uns daran liegt, die in Europa die richtigen industriepolitischen Akzente zu setzen, dann müssen wir Europa stark machen.

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Dr. Stephan Holthoff-Pförtner

Wenn uns daran liegt, die in Europa die richtigen industriepolitischen Akzente zu setzen, dann müssen wir Europa stark machen – gerade dort, wo es im Moment schwach ist: auf den Straßen des Ruhrgebiets, in den von Jugendarbeitslosigkeit besonders betroffenen Regionen Südeuropas – überall dort, wo Abstiegsängste grassieren und die international vernetzte Wirtschaft als Bedrohung und nicht als Quelle des Wohlstands angesehen wird.

Natürlich ist es eine Aufgabe der Politik, gerade dort für Europa zu werben. Dort deutlich zu machen, wieviel davon abhängt, dass die europäische Idee lebendig bleibt. Aber es ist eben nicht nur eine Aufgabe der Politik. Wie wichtig wäre es, wenn gerade auch erfolgreiche Unternehmer in die Schulen gingen, um für Europa zu werben. Und ich meine nicht nur die Gymnasien im Heimatort, sondern gerade auch die Hauptschulen in Duisburg oder Recklinghausen. Wie wichtig wäre es, wenn die Bedeutung Europas auch in den Betrieben diskutiert wird. Wenn klar wird, wie sehr wir zurückgeworfen werden, wenn wir dieses Europa aufgeben. Die Argumentationspapiere für die richtigen Weichenstellungen reichen hierfür nicht aus. Und wenn Europa scheitert, scheitert alles, was mit diesen Papieren erreicht werden soll. Wir müssen auch deutlich machen, welchen Weg wir zurückgelegt haben, welche Mühen wir überwunden haben – und wie dieser Kontinent heute aussehen könnte, wenn es den europäischen Einigungsprozess nicht gegeben hätte: ein Kontinent der Schlagbäume, der Zölle, der Spaltung.

Ich hatte eingangs geschrieben, dass die größte Bedrohung von Freiheitsordnungen in der inneren Teilnahmslosigkeit liegt. Daher darf ich in Abwandlung eines bekannten Wortes von John F. Kennedy bitten: Fragt nicht, was Europa für Euch tun kann, sondern fragt, was Ihr für Europa tun könnt.