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Veränderungen in Sicht?

Die Ukraine und ihr Parteiensystem nach der Revolution der Würde
Euromaidan
Die Euromaidan-Demonstrationen im November 2013 - welche Fortschritte wurden im Land seitdem erzielt? © CC BY 2.0 Flickr.com/ Ivan Bandura

Die nächsten zwei Jahre sind für die Ukraine von enormer Bedeutung. 2019 finden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt, im darauffolgenden Jahr landesweite Kommunalwahlen. Die Wahlergebnisse werden nicht nur ein Stimmungsbild der ukrainischen Bevölkerung bezüglich der Politik der derzeitigen Regierung sein, sondern auch Auskunft darüber geben, inwiefern sich das ukrainische politische System seit der „Revolution der Würde“ 2014 insgesamt verändert hat.

Das Misstrauen der Ukrainerinnen und Ukrainer gegenüber der Politik ist groß. Weder einzelne Parteien noch staatliche Institutionen erfreuen sich großer Beliebtheit bei der ukrainischen Bevölkerung. Eine Ausnahme bildet hierbei die Armee des Landes. Die Menschen assoziieren die staatlichen und politischen Institutionen mit der weit verbreiteten Korruption und empfinden, dass die Politiker nicht die Interessen der Bevölkerung vertreten. Welche Auswirkungen hat dies auf die Funktionsweise der ukrainischen Politik?

Konstante Instabilität

Eine funktionierende Demokratie zeichnet sich u.a. durch das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, eine Gewaltenteilung und das Vorhandensein stabiler Institutionen aus. Diese Säulen sollen die Demokratie vor einer Destabilisierung schützen und den reibungslosen Ablauf staatlicher Prozesse gewährleisten. Dabei ist es wichtig, dass der Glaube an diese Prinzipien und Institutionen innerhalb der Bevölkerung des jeweiligen Staates verankert ist. Eine Demokratie kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie auch von der Mehrheit unterstützt wird. Das große Misstrauen innerhalb der ukrainischen Bevölkerung erschwert diesen Stabilisierungsprozess enorm. Angesichts der verbreiteten Korruption in staatlichen Institutionen und der daraus resultierenden Missachtung des Rechtstaatlichkeitsprinzips ist dieses Misstrauen durchaus verständlich. Es schafft jedoch einen fruchtbaren Nährboden für Populisten, welche oft ein eigenes finanzielles Interesse an der weiteren Instabilität des Staates haben und daher versuchen, sinnvolle Reformvorschläge zu diskreditieren. Ein besonderes Beispiel hierfür ist die Bodenreform. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde im Rahmen staatlicher Demonopolisierungsprozesse der größte Teil der Agrarflächen in privaten Besitz übergeführt. Allerdings wurde bis heute keine vollständige Bodenreform durchgeführt. Stattdessen wurde der Verkauf von Agrarflächen mit der Begründung, dass man erst die nötige rechtliche Basis schaffen müsse, 2001 temporär verboten. Viele Landbesitzer haben allerdings nicht die Möglichkeit, ihre Agrarflächen adäquat zu bewirtschaften. Dementsprechend bleibt ihnen nur die Möglichkeit, diese für einen Preis, welcher deutlich unter dem Wert der jeweiligen Agrarfläche liegt, zu vermieten oder illegal zu verkaufen. Von den niedrigen Mietpreisen profitieren vor allem Agrarholdings. In einigen Fällen wird das Land der Grundbesitzer illegal entwendet. Hierbei wird mit Hilfe von korrupten Beamten auf juristischem Wege der Besitzer der Agrarfläche geändert, wodurch der eigentliche Inhaber der Fläche diese nicht mehr legal nutzen kann. Die Schaffung nötiger rechtlicher Rahmenbedingungen und die Liberalisierung des Bodenmarktes würde zu einer erheblichen Verringerung der Korruption in der Landwirtschaft führen und die Wirtschaft der Ukraine stärken.Verschiedene populistische Parteien, wie die Vaterlandspartei von Julia Tymoshenko oder die Agrarpartei, die laut einigen Experten den Agrarholdings nahe steht, führten jedoch eine aktive Desinformationskampagne gegen diese Reform. Sie verbreiteten etwa, dass die Legalisierung des Verkaufs landwirtschaftlichen Bodens dazu führe, dass alle Agrarflächen von ausländischen Investoren und Oligarchen aufgekauft und einfache Grundbesitzer somit ihr Land verlieren würden. Verschiedene Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass eine solche Entwicklung nicht wahrscheinlich ist. Die Desinformation führt dennoch dazu, dass ein freier Bodenmarkt in der Bevölkerung kaum Unterstützung findet. Im Ergebnis verlängert das ukrainische Parlament von Jahr zu Jahr ein Moratorium für den Bodenverkauf und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Missstände werden nicht behoben. Ein Teufelskreis: Das niedrige Vertrauen in die Politiker fördert die Wiederwahl populistischer Parteien, welche angesichts eigener finanzieller Interessen die Probleme im Land nicht beheben, sondern sie für ihre eigenen Ziele nutzen.

Die Wechselhaftigkeit des Parteiensystems

Das ukrainische Parteiensystem zeichnet sich durch die hohe Anzahl politischer Parteien aus. Bis zum Verbot dieser Praxis 2011 war deswegen die Gründung von Parteibündnissen für Parlamentswahlen weit verbreitet. Viele Parteien schlossen sich erst kurz vor einer Wahl zu einem Parteienbündnis zusammen. Ein prominentes Beispiel hierfür ist das Bündnis „Unsere Ukraine“, welches den dritten ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko unterstützte, oder der Julia-Tymoschenko-Block. Besonders ist hierbei auch die Tatsache, dass Parteien in der Ukraine meist nur eine kurze Zeit relevant sind. Derzeit ist im Parlament keine einzige Partei vertreten, welche bereits in den 1990er Jahren eine große Rolle gespielt hat. Selbst wenn man die Wahlergebnisse von 2012 und 2014 vergleicht, stellt man fest, dass nur eine Partei in beiden Legislaturperioden vertreten ist – die Vaterlandspartei von Julia Tymoschenko. Bei  genauer Betrachtung der personellen Zusammensetzung der Parteien merkt man allerdings schnell, dass sich in ihnen viele Politiker wiederfinden, die zuvor bereits in anderen Parteien aktiv waren. Die Problematik dieser Volatilität im Parteiensystem besteht vor allem darin, dass die Parteien in der Ukraine zumeist gar keine Parteibasis aufbauen, sondern klassische Karriereparteien oder „Parteiprojekte“ sind. Finanziell sind sie dadurch üblicherweise auf finanzielle Unterstützung von außerhalb angewiesen und nicht selten  von illegalen Finanzquellen abhängig. Anstatt ihre Aufgabe für die politische Willensbildung der Bevölkerung wahrzunehmen, werden sie dadurch faktisch zu Lobbygruppen von Oligarchen und korrupten Großunternehmern.

Werchowna Rada
Das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada © CC BY-SA 4.0 commons.wikimedia.org/ Vadim Chuprina

Ideologielose Parteien

Wenn man sich die Programme der meisten ukrainischen Parteien anschaut, lässt sich feststellen, dass man diese meist nicht im gängigen Links-Rechts-Schema einordnen kann. Unter den großen Parteien bilden nur zwei eine Ausnahme: die Allukrainische Vereinigung „Swoboda“, welche eine rechtsextreme und nationalistische Politik vertritt, sowie die Kommunistische Partei der Ukraine, welche jedoch 2015 verboten wurde. Die anderen großen Parteien vermischen in ihren Parteiprogrammen meist liberale und konservative Ansichten. Manche ergänzen diese zudem durch soziale Programmpunkte. Zugleich ist der Populismus ein weit verbreitetes Problem und in verschiedenem Ausmaße bei der Mehrheit der etablierten Parteien zu finden. Das hängt vor allem damit zusammen, dass die klassische ideologische Einteilung für die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer keine allzu große Rolle spielt. Die ukrainische Politik ist stark personengebunden. Viele Wählerinnen und Wähler achten weniger auf konkrete Ideen und mehr auf die persönlichen Eigenschaften der führenden Personen einer politischen Partei. Zudem war bis 2014 die geopolitische Orientierung der Parteien und nicht deren ideologische Ausrichtung ausschlaggebend. Das Thema der Ost- oder Westorientierung hatte eine polarisierende Wirkung innerhalb der Bevölkerung und förderte somit die Gründung pro-westlicher Parteien (z.B. Unsere Ukraine, Bürgerposition, Samopomitsch) und pro-russischer Parteien (z.B. Partei der Regionen, Oppositionsblock). Das Problem der geopolitischen Orientierung wurde zudem durch die von einigen Politikern aufgebrachte Sprachenfrage und die damit verbundene Gegenüberstellung einer eigenständigen ukrainischen und einer „sowjetischen“ Identität, welche die Ukrainer und Russen als Angehörige derselben Nation ansah, verschärft.

Die Ukraine seit 2014 – Veränderungen in Sicht?

Die „Revolution der Würde“ und der Krieg mit Russland hat der Herausbildung einer ukrainischen politischen Nation erhebliches Momentum verliehen, wodurch die oben genannten Punkte zum Teil an Relevanz verlieren. Die ukrainische Identität wird inklusiver, umfasst also somit auch die russischsprachige ukrainische Bevölkerung und ethnische Minderheiten wie die Krimtataren. Zudem unterstützen immer mehr Ukrainer eine Integration mit westlichen internationalen Organisationen (EU, NATO), während die Zustimmung für eine tiefere Zusammenarbeit mit Russland sinkt. Eine regionale Differenzierung bleibt weiterhin bestehen – im Süden und Osten des Landes ist die Unterstützung für einen pro-westlichen Kurs niedriger als im Rest der Ukraine. Im Allgemeinen  überwiegt allerdings eine pro-europäische und pro-westliche Einstellung in der Bevölkerung. Laut Umfragen vom Dezember 2017 unterstützen rund 59 Prozent der Ukrainer eine europäische Integration der Ukraine, während nur ca. elf Prozent den Beitritt in die Eurasische Wirtschaftsunion befürworten. Die Unterstützung für einen NATO-Beitritt ist geringer, wobei auch hier der Anteil der NATO-Befürworter relativ überwiegt. Hätte im Dezember letzten Jahres ein Referendum zum NATO-Beitritt in der Ukraine stattgefunden, hätten ca. 45 Prozent der Ukrainer dafür und ca. 37 Prozent dagegen gestimmt. Etwa 20 Prozent der Wähler wüssten nicht, wie sie abstimmen sollten. So verschwindet allmählich ein polarisierender gesellschaftlicher Konflikt, was die Demokratisierung des Landes begünstigt. Das Misstrauen in die staatlichen Institutionen ist jedoch weiterhin hoch. Die jetzige Führung hat zwar mehrere wichtige Reformen wie etwa die Schaffung eines transparenten elektronischen Systems zur Vergabe öffentlicher Aufträge durchgeführt, was vor dem Hintergrund der russischen Aggression und der wirtschaftlichen Krise eine beachtliche Leistung ist, veränderte jedoch nicht das korrupte System. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die jetzigen koalierenden Parteien „Block Petro Poroschenko“ und „Volksfront“ mit Oligarchen und Großunternehmen zusammenarbeiten und deren Interessen im Parlament vertreten.

Bemerkenswert ist das Wachstum der aktiven ukrainischen Zivilgesellschaft in den letzten Jahren. Nach der „Revolution der Würde“ wurden NGOs gegründet, welche heute die öffentliche Kontrolle über die Regierung wahrnehmen und sie bei der Ausarbeitung von Politikprogrammen beraten. Einige zivilgesellschaftliche Experten erhielten Positionen in Ministerien und konnten somit bei der Ausarbeitung wichtiger Reformen direkt mitwirken. Viele von ihnen haben jedoch ihre neuen Arbeitsstellen inzwischen wieder verlassen, da sich der Widerstand durch die Vertreter des alten staatlichen Systems als zu groß erwies. Dieser behindert auch die Arbeit neuer demokratischer Parteien. In den letzten Jahren entstanden mehrere Parteien, die von der Basis her wachsen, eine politische Ideologie vertreten, innerparteiliche Demokratie gewährleisten und nicht von Oligarchen finanziert werden. Zu diesen gehört etwa die liberale Partei „Kraft der Menschen“, welche ein Partner der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ist.

Angesichts der mangelnden Finanzierung, des großen Misstrauens in der Bevölkerung und des großen Widerstands seitens des Systems haben es diese Parteien meist nicht einfach. Oft verfügen sie nicht über die nötigen Informationskanäle, um die eigene Bekanntheit zu erhöhen, und bleiben somit weitestgehend unbekannt. Der in einigen Regionen sehr beachtliche Erfolg der „Kraft der Menschen“-Partei bei den letzten Kommunalwahlen 2015 lässt jedoch darauf schließen, dass man mit einem gewissen Optimismus in die Zukunft blicken kann. Zwar führen laut Umfragen immer noch die populistischen und oligarchischen Altparteien, verlieren allerdings zunehmend an Zustimmung. Fast 40% der Wähler wissen noch nicht, welche Partei sie während der Wahlen im nächsten Jahr unterstützen werden. Zudem haben die meisten Parteien große Probleme dabei, einen zweistelligen Wert zu erreichen. Die Bevölkerung sehnt sich ganz offensichtlich nach neuen politischen Kräften. Förderlich für neue Parteien dürfte sich künftig die staatliche Parteienfinanzierung auswirken, welche in der Ukraine seit 2016 existiert. Momentan werden nur die Parlamentsparteien vom Staat finanziell unterstützt. Ab der nächsten Wahl werden auch Parteien, die mindestens zwei Prozent der Stimmen bekommen, staatliche Gelder erhalten. Dies würde die finanziellen Probleme der neuen Parteien teilweise lösen. Weiterhin wirkt auch die in Umsetzung befindliche Dezentralisierungsreform zugunsten der Etablierung neuer Parteien, welche ihre Stärke im Moment vor allem auf kommunaler Ebene zeigen können. Im Rahmen dieser Reform werden mehr Kompetenzen auf die Kommunen verlagert, was sie politisch und finanziell autonomer macht. Die lokalen Budgets sind in den letzten Jahren deutlich angestiegen, wodurch mehr in die kommunale Infrastruktur investiert werden kann. Weiterhin werden vermehrt Bürger in die Entscheidungsfindung hineinbezogen. Diese Maßnahmen zeigen bereits erste Erfolge: Die Unterstützung für die Reform wächst, das Vertrauen in lokale Institutionen steigt. Dies begünstigt die positive Entwicklung neuer Parteien, welche aus der Parteibasis wachsen und dazu lokale Parteiorganisationen etablieren wollen. Es liegt nun in der Hand dieser Parteien, alle Möglichkeiten zu nutzen, um sich auch auf nationaler Ebene zu etablieren. Dies wird ohne Frage ein sehr schwieriger Prozess. Allerdings zeugen die Umfragen davon, dass sich das ukrainische politische System verändert. Deswegen sollte man optimistisch bleiben.  

Maxim Gyrych war Praktikant der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Kiew. Er studiert Politikwissenschaft und Interkulturelle Wirtschaftskommunikation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

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