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Türkei
Journalismus als Straftat

Ein aktueller Bericht dokumentiert die Kriminalisierung von kritischem Journalismus in der Türkei
Protest gegen inhaftierte Journalisten in der Türkei
"Journalisten sind keine Terroristen" – Protest gegen inhaftierte Journalisten in der Türkei. © picture alliance

Dass es um die Pressefreiheit in der Türkei nicht zum Besten bestellt ist, ist allgemein bekannt: Ankara steht aufgrund der systematischen Einschränkung der Medienfreiheit immer wieder am Pranger. Wenn es um die Zahl der inhaftierten Journalisten geht, befinden sich die Türkei und China in einem traurigen Wettbewerb um den ersten Rang. Nach Angaben des Komitees zum Schutz von Journalisten (CPJ) waren zuletzt 47 Medienschaffende in der Türkei inhaftiert. In ihrer Tabelle führen „Reporter ohne Grenzen“ die Türkei auf Platz 154 – zwischen Belarus und Rwanda. „Die Rechtsstaatlichkeit ist eine schwindende Erinnerung“, heißt es in dem Begleittext, von einer „Hexenjagd gegen kritische Medien“ ist die Rede.

Längst hat sich ein internationales Solidaritätsnetzwerk gebildet, das den bedrängten Medienschaffenden in der Türkei zur Seite steht. Eine wichtige Rolle vor Ort spielt neben vielen anderen die Nichtregierungsorganisation Media Law and Studies Association (MLSA). Deren Fachanwälte unterstützen angeklagte Journalistinnen und Journalisten mit Rat und Tat. Beratung, Rechtshilfe und Informationskampagnen im In- und Ausland sind Teil ihres Repertoires. Zur MLSA-Strategie gehört auch, Licht ins Dunkel der Journalisten-Prozesse zu bringen und die Vorgänge in den türkischen Gerichtssälen systematisch zu dokumentieren und an die Öffentlichkeit zu tragen. Die Aufklärungsarbeit leisten eigens geschulte Prozessbeobachter, die nach internationalen Standards vorgehen.  

Seit Mitte 2018 hat MLSA in einem vom Internationalen Presseinstitut (IPI) und der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF) geförderten Programm zahlreiche Gerichtsverfahren beobachtet. Die Gruppe hat jetzt einen ausführlichen Bericht mit den wichtigsten Erkenntnissen aus 169 Gerichtsverfahren zwischen Februar 2019 und März 2020 vorgelegt. Dabei geht es hauptsächlich um Medienschaffende, die für ihre journalistische Arbeit angeklagt sind; aber auch Prozesse gegen Anwälte, Akademiker und Schriftsteller wurden beobachtet.

„Die türkischen Gerichte haben die nationalen und internationalen Standards der Meinungsfreiheit und des Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren systematisch missachtet“, lautet die ernüchternde Bilanz. An anderer Stelle des 40-seitgen Berichts lesen wir: „Die Justiz hat den Akt des Journalismus zunehmend kriminalisiert“.

Die Prozessbeobachter beschreiben ein Handlungsmuster, nach dem Staatsanwälte und Richter missliebige Stimmen zum Schweigen bringen. Im Mittelpunkt stehen dabei immer wieder Terrorismus-Vorwürfe. Diese seien nach Auskunft der Angeklagten und vieler unabhängiger Beobachter in der Regel an den Haaren herbeigezogen.

In den 169 von MLSA unter die Lupe genommenen Verfahren, waren 89 Journalisten wegen Terrorvorwürfen angeklagt. Das sind sechs von zehn Fällen.  „Staatsanwälte nutzen journalistische Arbeit als Beleg für Terrorismus“, schreiben die Berichterstatter. Oft reiche ein Text über eine pro-kurdisch Demonstration für die Anklage wegen „Terrorpropaganda“. Kurdische Medien stünden unter der schärfsten Beobachtung, schreibt MLSA. Oft würden Journalisten, die für pro-kurdische oder kurdisch-sprachige Medien arbeiten, der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ beschuldigt. Die Anklage berufe sich dabei auf Telefongespräche mit Informanten, Berichterstattung über Demonstrationen oder das Betreten von bestimmten Gebäuden. Zu den Anklagepunkten zählten auch Reisen in das Nachbarland Syrien. Kritik an der Regierung oder Ankaras Militärpolitik werde „automatisch“ mit der geächteten Kurdischen Arbeiterpartei PKK und ihren diversen Vorfeldorganisationen in Verbindung gesetzt. 

„Radikalisierte Justiz“

Einmal in den Fängen der Justiz, dauert es unverhältnismäßig lange bis zum Gerichtsverfahren. Langwierige Untersuchungshaft gegen missliebige Journalisten sei ein oft verwendetes Drangsalierungsinstrument: „Die Macht der Untersuchungshaft in den Händen einer radikalisierten Justiz bleibt ein mächtiges Instrument, um Kritikern für Monate vor ihrem Gerichtsverfahren die Freiheit zu nehmen“, heißt es in dem Rapport. Dabei beruft sich die Justiz auf eine Klausel, gemäß der Untersuchungshaft von bis zu zwei Jahren bei Terrorismus-Vorwürfen zulässig ist.

Die Liste der Opfer dieser Justiz-Praxis ist lang: Namentlich erwähnt der Bericht unter anderem die deutschen Staatsbürger Deniz Yücel, der zwölf Monate in Untersuchungshaft einsaß und Mesale Tolu, die sechs Monate mit ihrem zweieinhalbjährigen Sohn hinter Gittern verbrachte. Nach ihrer nicht zuletzt durch politischen Druck Berlins herbeigeführten Freilassungen, haben Yücel und Tolu ihre Erfahrungen in Büchern einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht und somit zu einer weiteren Solidarisierung mit inhaftierten Journalistinnen und Journalisten in der Türkei beigetragen.

Der Glaubwürdigkeit des MLSA-Berichtes kommt ebenfalls zu Gute, dass die Autoren einräumen, es sei auch zu Verbesserungen im Umgang der Justiz mit angeklagten Journalisten gekommen. So sei die Zahl der in Untersuchungshaft eingesperrten Medienschaffenden in den letzten Jahren „graduell“ zurückgegangen. In ihrem Verhalten gegenüber Angeklagten hätten sich die Richter eines weniger aggressiven und beleidigenden Tonfalls bedient, allemal in Anwesenheit der Prozessbeobachter.

Die Autoren warnen aber davor, diese Veränderungen auf eine – wie sie es nennen – Rückkehr zu einer objektiven Justiz ohne politische Gängelung zurückzuführen. Im Gegenteil: Der Zugriff des Präsidenten auf die Ernennung der Richter und somit implizit die Politisierung der Prozesse sei durch die Verfassungsänderung von 2017 institutionalisiert. Das aktuelle Verfahren garantiere die „strikte Disziplin und Loyalität“ der Judikative gegenüber der Exekutive.

Kurz: Mit Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit haben diese Vorgänge wenig zu tun. In der Türkei bleibt die Verfolgung kritischer Stimmen eine traurige Routine.

TURKEY FREE EXPRESSION TRIAL MONITORING REPORT