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Parlamentswahlen Ukraine
Eine Chance für neue Kräfte?

Parteien formieren sich für die ukrainischen Parlamentswahlen
Wolodymyr Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“ ist Favorit bei der Parlamentswahl

Wolodymyr Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“ ist Favorit bei der Parlamentswahl

© picture alliance/APA/picturedesk.com

Am 21. Juli finden vorgezogene Parlamentswahlen in der Ukraine statt. In kürzester Zeit bereiten sich die Parteien darauf vor. Chancen auf einen Einzug ins Parlament haben sowohl alte Kräfte als auch neue Parteien, die bisher nur auf dem Papier bestehen. Ob es einen echten Wandel gibt, wird jedoch erst die Arbeit im Parlament zeigen.

Als der neue ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Ende seiner Inaugurationsrede die Auflösung des Parlaments verkündete, kam dies zwar nicht völlig unerwartet, war aber dennoch ein Paukenschlag. Während die Hand des in einer beispiellosen Protestwahl ins Amt gewählten Schauspielers fast noch vom Amtseid auf Bibel und Verfassung lag, zeigte seine erste Amtshandlung bereits einen mangelnden Respekt der letzteren: Experten schlossen fast einhellig aus, dass eine Auflösung der Werchowna Rada weniger als sechs Monate vor dem regulären Wahltermin verfassungsmäßig möglich sei. Doch wo ein politischer Wille ist, ist zumindest in der Ukraine auch ein Weg. Das Verfassungsgericht bestätigte Ende Juni die Rechtmäßigkeit der Parlamentsauflösung und machte den Weg frei für vorgezogene Neuwahlen am 21. Juli. Dem Präsidenten gibt dies die Möglichkeit, den Schwung der Präsidentschaftswahl zu nutzen, bevor die absehbar ausbleibenden Wunder seiner Präsidentschaft in Enttäuschung bei den Wählern umschlagen. Denn das derzeitige Parlament hat er gegen sich, die von ihm bisher eingereichten Gesetzentwürfe liefen ins Leere, wurden nicht einmal auf die Tagesordnung gesetzt. 

Online für Listenplätze bewerben

Nur wenige Wochen bleiben nun neuen wie alten Parteien, Listen und Mehrheitskandidaten aufzustellen und um die Wählerstimmen zu werben. Der bisher lediglich auf dem Papier existenten Partei des Präsidenten „Diener des Volkes“ – namensgleich mit der Fernsehserie, in der Selenskyj den volksnahen Präsidenten Holoborodko spielt – sagen die Umfrageinstitute einen deutlichen Sieg voraus. Laut Democratic Initiatives Foundation und Rasumkow-Zentrum etwa wollen 42,7 Prozent der Wähler, die sich bereits entschieden haben, für „Diener des Volkes“ stimmen. Dies könnte nach Einschätzung einiger Experten am Ende sogar zu einer absoluten Mehrheit führen und Koalitionspartner überflüssig machen. Die Vielzahl an erwarteten Parlamentssitzen stellt den Präsidenten vor die Herausforderung, genügend geeignete Kandidaten sowohl für die Liste als auch für die Mehrheitswahlkreise zu rekrutieren. Seine Bedingung ist, dass keine derzeitigen oder ehemaligen Abgeordneten für ihn antreten dürfen. Dass dies nicht ganz einfach zu bewerkstelligen ist, zeigt schon, dass jedermann sich online für einen Listenplatz bewerben kann. Zu den aussichtsreichsten Listenkandidaten gehört aber etwa auch der Chef des Fernsehsenders 1+1, der dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj gehört, dem enge Verbindungen zu Selenskyj nachgesagt werden.

Neue Gesichter und die alte Garde

Auf neue Gesichter setzt ebenfalls Swjatoslaw Wakartschuk, populärster Sänger der Ukraine und mit seiner Band „Okean Elsy“ eine Größe des Musikgeschäfts im ganzen postsowjetischen Raum. In die Reihen seiner jüngst gegründeten Partei „Stimme“ strömen zivilgesellschaftliche Aktivisten. Die Umfragewerte der Partei steigen seit ihrer Gründung stetig an und befinden sich derzeit bei 6,4 Prozent.

Neben diesen neuen Parteiprojekten sind auch Akteure der alten politischen Garde aussichtsreich im Rennen. Den zweiten Platz könnte bei der Wahl die prorussische Plattform „Für das Leben“ um den Putin-Vertrauten Viktor Medwetschuk erreichen, die sich klar gegen eine EU- und NATO-Orientierung der Ukraine ausspricht. Sie kommt derzeit auf 10,5 Prozent. Die Partei „Vaterland“ der Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko kann sich auf eine ältere Stammwählerschaft vor allem in kleineren Städten stützen und liegt bei 10,2 Prozent. Ex-Präsident Petro Poroschenko kommt immerhin noch auf 9,8 Prozent, nachdem er seine Partei, den „Block Petro Poroschenko“, in „Europäische Solidarität“ umbenannt und auch optisch ein Rebranding vollzogen hat. Die Abkürzung des Parteinamens ist nicht zufällig identisch mit der Abkürzung für „Europäische Union“ und damit zugleich (die einzige) programmatische Aussage.

5,2 Prozent erreicht in den Umfragen die Partei „Kraft und Ehre“ des ehemaligen Geheimdienstchefs Ihor Smeschko, der bereits bei der Präsidentschaftswahl eine überraschend achtbares Ergebnis erzielte und dessen Wähler sich vor allem aus der älteren, konservativen, aber pro-ukrainischen Bevölkerung speisen.

Hoffnung auf eine Überwindung der Fünf-Prozent-Hürde kann sich auch die liberal-konservative „Bürgerposition“, Partnerpartei der Stiftung für die Freiheit, unter Führung des ehemaligen Verteidigungsministers Anatolyj Hryzenko machen. Er setzt im Wahlkampf vor allem auf die Themen Äußere Sicherheit und wirtschaftliche Liberalisierung und erreicht derzeit 4,1 Prozent. 

Alle anderen der 21 für die Wahlen registrierten Parteien werden es schwer haben, über ihre Listen ins Parlament einzuziehen und höchstens einzelne Mehrheitsmandate gewinnen. Aus dieser Einsicht sind einige bekannte politische Kräfte gar nicht erst mit einer Liste angetreten, wie der Ex-Premierminister Arsenyj Jatseniuk mit seiner „Volksfront“ oder der Kiewer Bürgermeister Vitalii Klitschko mit seiner Partei „UDAR“. Aus ihren Reihen sind nur einige Mehrheitskandidaten im Rennen. 

Sehnsucht nach Erneuerung

Zu den Parteien mit geringen Chancen gehört auch die zweite Partnerpartei der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, „Kraft der Menschen“. Bedacht auf einen nachhaltigen demokratischen Parteiaufbau, Bürgernähe und völlige Transparenz in der Finanzierung, haben sie die etwa 140.000€ für die Registrierung der Parteiliste zu Wahl durch eine Crowdfunding-Kampagne aufgebracht – ein Alleinstellungsmerkmal in der oligarchisch geprägten ukrainischen Parteienlandschaft. In Ermangelung finanzieller Ressourcen findet ihr Wahlkampf für eine neue und saubere Politik nun vor allem im Internet statt. Zu ihren Themen gehören der Kampf gegen die Umweltverschmutzung in großen Industriestädten und die Liberalisierung des Landmarktes. Das Erreichen der 2-Prozent-Hürde wäre bereits ein großer Erfolg, denn dann käme die kleine Partei in den Genuss staatlicher Finanzierung und könnte sich gestärkt auf den Kommunalwahlkampf 2020 vorbereiten. 

Allen Umfragewerten zufolge wird somit die neue Werchowna Rada einen großen Anteil an Neulingen umfassen. Das kann eine Chance sein, denn vielen der aus der aktiven Zivilgesellschaft stammenden Kandidaten kann man gute Absichten unterstellen, das von Korruption und oligarchischen Interessen durchdrungene politische System im Sinne der Maidan-Revolution in einen funktionierenden Rechtsstaat zu entwickeln. Dies würde das Verlangen eines Großteils der Bevölkerung nach Erneuerung erfüllen, die derzeit so optimistisch in die Zukunft schauen wie nie zuvor in der unabhängigen Ukraine. Es bleibt das Risiko, dass ein Teil dieser Neulinge lukrativen finanziellen Angeboten nicht widerstehen kann und damit auch wieder Werkzeug von Partikularinteressen wird. Ebenso ist fraglich, inwieweit die vielen Angehörigen etwa einer großen „Diener des Volkes“-Fraktion ohne politische Erfahrung und ohne die Erfahrung einer gemeinsamen Parteiarbeit überhaupt effektiv zusammenarbeiten werden. Dass der Präsident und seine Partei (wie im Übrigen auch fast alle anderen) so gut wie keine programmatischen oder ideologischen Aussagen getroffen haben, trug und trägt sicher zum großen Anklang in der Bevölkerung bei. Genau diese Unbestimmtheit kann aber zum Hindernis werden, wenn es gilt, gemeinsam konkrete Politikentwürfe zu entwickeln und zu vertreten. Ob die Wahlen am 21. Juli also einen positiven Wandel für die Ukraine, tatsächliche Bekämpfung der politischen Korruption, Fortgang der notwendigen Reformen und eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Bevölkerung bringen, bleibt abzuwarten. Die Aufgabe, jenseits prominent geführter Parteiprojekte echte, auf Werten und Ideen basierende und in der Bevölkerung verankerte Parteien aufzubauen, ist jedenfalls kein bisschen kleiner geworden.

 

Beate Apelt ist Projektleiterin Ukraine und Weißrussland