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Literatur
Judith N. Shklar: Über Hannah Arendt

Online-Rezensionen des Jahrbuchs zur Liberalismus-Forschung 1/2020
Über Hannah Arendt
© Matthes & Seitz Berlin

In Zeiten einer Ausgangssperre, die beschönigend „Ausgangsbeschränkung“ genannt wird und die die Gubernative gar nicht schnell genug verhängen konnte – wurde sie doch lautstark von all jenen gefordert, die anscheinend beherrscht werden wollen, weil sie sich selbst nicht beherrschen können – ist es ein besonderes Vergnügen, Essays von Judith N. Shklar über Hannah Arendt zu lesen. Es wäre spannend zu erfahren, wie die beiden Philosophinnen und Ikonen des Liberalismus über das Verhalten des Staates einerseits und das Verhalten der Menschen andererseits in der sogenannten „Corona-Krise“ gedacht hätten – und dies zum einen im Kontext ihrer mehr oder weniger geschlossenen Theoriegebäude, zum anderen vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen von Krieg, Exil und existenzieller Bedrohung durch Antisemitismus.

So ähnlich wie das Leben der beiden Philosophinnen zunächst anmutet – beide waren sie deutschsprachige Jüdinnen aus dem baltischen Raum, die vor der Naziherrschaft in die USA flüchteten und sich in ihrer neuen Heimat einen akademischen Namen machten –, so unterschiedlich dachten sie. Während Hannah Arendt eine der Bekanntesten ihres Fachs ist, entdecken wir in Deutschland Judith N. Shklars Texte erst jetzt. Zu verdanken ist das insbesondere dem Philosophen Hannes Bajohr, der die beiden nun in seiner neuesten Shklar-Übersetzung für den Verlag Matthes & Seitz zusammenbringt. Die rund zwei Jahrzehnte jüngere Shklar hat sich ihr Leben lang mit Hannah Arendt auseinandergesetzt, um nicht zu sagen, sich an ihr abgearbeitet. Bajohr hat sechs Texte und Essays von Shklar über und zu Hannah Arendt, entstanden zwischen 1957 und 1984, ausgewählt und sie mit einem ausführlichen Nachwort versehen, um den Leser*innen die Gemeinsamkeiten, aber vor allem die Differenzen der beiden Denkerinnen nahezubringen. Dabei ist allerdings vorauszuschicken, dass das kleine Büchlein vor allem etwas für Liebhaber*innen ist, vertiefte Kenntnisse der Arbeit beider Schlüssel zum Verständnis der Texte sind, für deren Übersetzung Bajohr erneut nicht genug gelobt werden kann. Durch seine Übertragung ins Deutsche haben sie nichts an ihrer Klarheit und Prägnanz, noch an ihrer Unvermitteltheit verloren.

So horchen wir auf, wenn Shklar Hannah Arendts Buch „Eichmann in Jerusalem“ als „amateurhaft“ abkanzelt und „Über die Revolution“ als „blamables Buch“ bezeichnet. Die Erkenntnis der „Banalität des Bösen“ sei im Grund nichts weiter als banal und letztlich auch nicht von Arendt als Erster erkannt und benannt. Und doch zeugen die Texte von Shklars großem Respekt für Arendt, die sie in den 1950er-Jahren in Harvard kennengelernt hat. Die polemischen Äußerungen stechen zwar hervor, aber sie sind nur vereinzelte Schlaglichter in den von Bajohr ausgewählten Essays, in denen Judith N. Shklar Hannah Arendt zwar zum Teil scharf kritisiert, aber vor allem mit klarem Blick ihre Distanz zu der von ihr bewunderten Philosophin herausarbeitet – ohne dabei das Werk der anderen gänzlich vernichten zu wollen, sondern vor allem als Schablone, an der und gegen die sie ihren Liberalismus der Rechte erarbeitet hat. Eine zentrale Rolle spielt dabei ihre unterschiedliche akademische Sozialisation. Während Judith N. Shklar nach der Flucht ihrer Familie in Kanada zur Schule ging und dann in Kanada und den USA studierte und promovierte, ist Arendt in ihren Augen gefangen in der Metaphysik der europäischen Geschichte und hat einen von ihr gnadenlos abgelehnten Hang zur politischen Romantik.

Vor allem kritisiert Judith N. Shklar Hannah Arendts Vorstellung vom Individuum, das sich in der Massengesellschaft verliere, als snobistisch, elitär und nicht haltbar. Für Shklar sind die Massen nicht nur der pöbelnde, wutbürgernde Mob. Vielmehr gehören zu ihnen auch die Schwächsten der Gesellschaft, jene vulnerablen Personen, die es zu schützen gilt, wie sie in ihrem bekanntesten Werk, dem „Liberalismus der Furcht“, argumentiert. Vor diesem Hintergrund lässt sich vielleicht auch erahnen, wie unterschiedlich Arendt und Shklar das bewerten würden, was wir dieser Tage erleben. Von Shklar lernt man viel über Hannah Arendt. – Aber mehr noch: Beide geben Liberalen (Nach-)Denkkonzepte an die Hand, mit denen man sich dem aktuellen Krisenmodus nähern kann. Sie haben das Potenzial, eine gewinnbringende Grundlage für fruchtbare Analysen in der „Zeit danach“ zu sein.

Zweimal jährlich informiert das Archiv des Liberalismus über Neuerscheinungen zum Thema Liberalismus. Vorgestellt werden diesmal zwanzig wissenschaftliche Publikationen zu Theorie, Geschichte und Gegenwart des deutschen und internationalen Liberalismus. Die Rezensionen sind über das Internetangebot des Archivs des Liberalismus sowie auf der Rezensionsplattform recensio.net dauerhaft abrufbar. Kontaktadresse für alle, die aktiv durch Kommentare oder Rezensionsvorschläge an der wissenschaftlichen Begleitung der Liberalismus-Forschung teilnehmen wollen, ist juergen.froelich@freiheit.org.